09 Apr

Für eine liberal-egalitaristische politische Philosophie der Familie

Von Sabine Hohl (Basel)


In der von John Rawls geprägten liberal-egalitaristischen politischen Philosophie der letzten 50 Jahre wurde die Familie lange stark im privaten Bereich verortet, so sehr dies auch von feministischen Philosoph:innen völlig zu Recht angeprangert worden ist, die stets auf die politische Relevanz der Familie hingewiesen haben. Mittlerweile hat sich dies zum Glück geändert und das Thema «Familie» hat in der Ethik und in der politischen Philosophie Hochkonjunktur und auch die feministische Kritik ist verstärkt gehört worden. Einige liberal-egalitaristische Grundannahmen haben sich allerdings in dieser Literatur bis heute noch nicht generell durchgesetzt – und noch viel weniger gilt das für die gesellschaftliche und politische Praxis. Im Folgenden schlage ich zwei methodologische Neuorientierungen vor, die dabei helfen sollen, eine stärker liberal-egalitaristisch geprägte Perspektive auf die Familie einzunehmen und letztlich auf dieser Basis auch politische Reformen vorzuschlagen. Diesen ist auch das von mir geleitete Forschungsprojekt «Just Parenthood: The Ethics and Politics of Childrearing in the 21st Century» verpflichtet, das seit 2023 an der Universität Basel läuft.

Vom Kollektiv zum Individuum

Es ist nach wie vor üblich, «die Familie» als ein Kollektiv zu denken, das im politischen Kontext eine Sonderstellung hat. Dies ist oft von der Annahme begleitet, dass für «die Familie» andere Normen gelten, als für die politische Sphäre. Während diese Grundannahme nicht unplausibel ist, ist es durchaus nicht unproblematisch, von «der Familie» als Kollektiv auszugehen, statt mit der Perspektive von Kindern und Eltern[1] als Individuen zu beginnen.

Gesteht man beispielsweise «der Familie» eine Privatsphäre zu, in die der Staat nicht eingreifen soll – wie es liberale Theoretiker:innen historisch oft getan haben – dann bedeutet dies faktisch, dass die mächtigeren Mitglieder einer Familie Spielraum für die Unterdrückung der schwächeren Mitglieder erhalten. Diese Analyse findet sich zwar schon bei Okin (1989). Allerdings hat sich der Vorschlag, konsequent vom Individuum statt vom Kollektiv «Familie» auszugehen, noch nicht durchgesetzt. In der Praxis zeigte sich dies beispielsweise in der Behandlung von so genannter «häuslicher Gewalt» als Privatsache, in die sich der Staat nicht einzumischen habe.

Während sich mit Blick auf diese Problematik mittlerweile zumindest auf einer abstrakten Ebene die Ansicht durchgesetzt hat, dass individuelle Rechte (auch diejenigen von Frauen und Kindern!) in allen Sphären des Lebens gelten, setzt sich die implizite Behandlung der Familie als Kollektiv mit moralischem Status dennoch fort. Dies kann dazu führen, dass die Interessen des Kollektivs «Familie» vor die Interessen seiner Mitglieder gestellt werden, wie Cutas und Smajdor (2017, 12) ausführen: So wird beispielsweise von Richter:innen, Sozialarbeiter:innen oder Mitarbeiter:innen von Kirchen oft auf Kontakterhaltung mit einem gewalttätigen Elternteil insistiert, trotz der daraus resultierenden Gefährdung von Kindern – derart stark wird der Erhalt von «Familie» nach wie vor gewichtet.

Aus einer liberalen Perspektive sollte sich die Rechtfertigung derartiger Entscheidungen stets auf die Interessen von Individuen beziehen und höchstens in Ableitung davon auf diejenigen von Kollektiven wie der Familie. Nur so ist gewährleistet, dass Individuen respektiert werden. Dieser normative Grundsatz hat auch eine methodologische Konsequenz: Statt über «Familie» sollten wir über «Eltern und Kinder» oder «Eltern im Verhältnis zueinander» und deren Beziehung zum Staat nachdenken. Dies hilft auch dabei, nicht unnötig verschiedene Beziehungsformen miteinander zu vermengen. So kann man unterbeleuchtete Aspekte wie die Pflichten von Elternteilen zueinander besser wahrnehmen und überhaupt erst zum Gegenstand der Debatte zu machen. (Die gegenseitigen Pflichten von Elternteilen werden in einem Teilprojekt genauer untersucht; siehe auch den Beitrag von Johanna Rensing.)

Der institutionelle Ansatz

Eine zweite Neuorientierung, die ich vorschlage, bezieht sich auf die Art der Rechtfertigung der staatlichen Regulierung von «Familie». Illustrieren möchte ich dies anhand der zentralen Frage, wie eigentlich rechtliche Elternschaft zustande kommt: Wie rechtfertigt man es, dass bestimmte Personen den Status eines Elternteils erhalten und damit gleichzeitig weitgehende Befugnisse, über das Leben ihrer Kinder zu bestimmen? Und auf welcher Basis sollte man diese Personen identifizieren?

Man kann zwei ganz unterschiedliche Ansätze zur Anwendung bringen, um diese zweite Frage[2] zu beantworten. Verbreitet ist heute der Ansatz, sich direkt auf bestimmte Merkmale beziehen, um einen Anspruch auf den Elternstatus zu begründen, wie z.B. die biologische Elternschaft oder die Ehe mit der leiblichen Mutter des Kindes. Beispielhaft (wie es das Recht heute in vielen Ländern vorsieht): «Elternteil ist, wer das Kind geboren hat». «Elternteil ist der Ehemann derjenigen, die das Kind geboren hat.» Dahinter steckt die Annahme, dass unabhängig vom politischen Kontext bestimmte Personen die rechtmässigen Eltern eines Kindes sind.

Anders der institutionelle Ansatz: Die Rechtfertigung ist hier indirekt und bezieht sich auf die Institution «Elternschaft». Die Grundannahme ist, dass das rechtliche und soziale Konstrukt «Elternschaft» unparteilich rechtfertigbar sein muss. Das heisst, rechtliche Regelungen bezüglich Elternschaft müssen in einer hypothetischen Entscheidungssituation wie z.B. John Rawls’ Urzustand allgemein zustimmungsfähig sein. Die relevante Frage lautet dann: «Ist es allgemein zustimmungsfähig, dass diejenige Person, die ein Kind zur Welt gebracht hat, rechtlicher Elternteil ist?» Dieser institutionelle Ansatz wird im laufenden Forschungsprojekt genauer erforscht und kann prinzipiell zu unterschiedlichen substanziellen Vorschlägen bezüglich der Ausgestaltung des Rechts auf Elternschaft führen. Ein Vorteil dieses Ansatzes könnte sein, dass er es erlaubt, neuartige familiäre Konstellationen zu erdenken, etwa solche mit einer höheren Anzahl Eltern oder mit unterschiedlichen Formen von Elternschaft.

Selbstverständlich gibt es auch politisch-philosophische Ansätze, die den institutionellen Ansatz ablehnen werden und bewusst naturrechtlich und/oder kommunitaristisch geprägt sind. Ich plädiere aber dafür, liberal-egalitaristische Grundannahmen zumindest nicht unhinterfragt zu suspendieren, wenn es um «Familie» geht. Kommt es dann zu Konflikten mit unseren Intuitionen, ist das nur der Beginn einer produktiven philosophischen Auseinandersetzung damit, wie «Familie» – oder spezifischer, das Eltern-Kind-Verhältnis – heute verstanden werden sollten.


Sabine Hohl ist Assistenzprofessorin am Philosophischen Seminar der Universität Basel.


Literatur

Cutas, Daniela und Smajdor, Anna (2017). The Moral Status of the Family. In: Etikk i praksis. Nordic Journal of Applied Ethics 11(1), 5-15.

Munoz-Dardé, Véronique (1999). Is the family to be abolished then? In: Proceedings of the Aristotelian Society 1999, 37-56.

Okin, Susan (1989). Justice, Gender, and the Family. New York: Basic Books.


[1] Mit dem Fokus auf Eltern und (minderjährige) Kinder – oft auch als «Kernfamilie bezeichnet – möchte ich nicht in Abrede stellen, dass «Familie» durchaus auch breiter verstanden werden kann. Die Eltern-Kind-Beziehung ist aber für die politische Philosophie besonders relevant, weil Eltern weitreichende Rechte über nichtautonome Personen haben.

[2] Natürlich kann man sich auch fragen, ob die Institution «Elternschaft» an sich überhaupt gerechtfertigt ist. Siehe z.B. Munoz-Dardé 1999. Diese Frage greife ich hier nicht auf, sondern setze voraus, dass es so etwas wie «Elternschaft» geben sollte.