
Schellings zweideutige Freiheit und die helle bzw. dunkle Seite in unserer Motivation
Von Ulrich Schlösser (Tübingen)
Wer sich für Kant und den nachfolgenden Idealismus interessiert, tut dies oft, weil ihm das Verständnis von Freiheit wichtig ist. Auch bei Schelling – unserem Jubilar – leitet der Begriff der Freiheit oft die Feder. In seinem wohl berühmtesten Text – „Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“ – glänzt er sogar im Titel. Aber derselbe Schelling sagt, dass uns die idealistische Freiheitslehre, an die man zunächst denken wird, ganz „ratlos“ lässt (AA 1, 17, 123). Wer traut sich schon, das einmal einzugestehen? Er schiebt gleich hinterher, dass die „tiefsten Schwierigkeiten“ im Begriff der Freiheit durch die idealistische Tradition eben auch gar nicht „auflösbar“ seien (AA 1, 17, 125). Worauf möchte unser scheinbar unidealistische Idealist denn hinaus? Bei der Bemühung, unsere Freiheit aufzuhellen, zieht er sich dann überraschender Weise auf eine Position in der Nähe von Jacob Böhme zurück. Aber ist der nicht gerade einer der Dunkelsten unter den Dunkelmännern in der deutschen Geistesgeschichte? Was hat der stets abenteuerlustige Schelling mit der Freiheit vor?
Wie komme ich als Vernunftwesen überhaupt dazu, schlecht zu handeln?
Ich beginne die Reise mit uns ganz vertrauten Überlegungen über Wahl und moralisch unerwünschtes Handeln. Wir können die Möglichkeit des schlechten oder bösen Handelns sicher nicht dadurch erklären, dass die Stärke der Neigungen uns schlicht überwältigt hat. In einem solchen Fall wären wir gar nicht fähig, dem moralischen Gesetz zu folgen; wir wären zudem auch gar keine echten Akteure, weil wir unseren Neigungen nicht widerstehen könnten. Schelling steht nun aber auch dem Versuch skeptisch gegenüber, Elemente des sogenannten liberum arbitrium in den ihm vertrauten kantischen Rahmen einzuführen. Ein liberum arbitrium zeigt die Fähigkeit an, sich selbst zu einer von mehreren, unter Umständen sogar gegensätzlichen Möglichkeiten zu entschließen, so, als käme die Entscheidung gleichsam aus dem Nichts. Eine daraus resultierende kantische Theorie bestünde aus zwei getrennten Schichten: Die erste Schicht umfasst die Selbstgesetzgebung des Willens, die uns das moralische Gesetz vorschreibt. Die zweite – und nachgeordnete – Schicht bezieht sich auf die „Willkür“ als die Fähigkeit, sich entweder gemäß dem moralischen Gesetz oder im Gegensatz zu ihm zu bestimmen. (Diese Unterscheidung wurde bekanntlich von Reinhold in seinen Briefen über die kantische Philosophie vorgeschlagen.) Aber einerseits möchte man nicht annehmen, dass beide Optionen denselben Status haben. Das moralische Gesetz und die bloßen Neigungen gleichzustellen scheint unangemessen. Nimmt man andererseits an, dass eine der Optionen privilegiert ist – nämlich die Pflicht –, dann wird es schwer zu erklären, wie man dazu kommt, von der Befolgung der Pflicht und ihrem ursprünglichen Vorrang abzusehen. Das gilt insbesondere angesichts der engen Verbindung von Vernunft und Selbsttätigkeit. Wir neigen dazu, uns mit der Vernunft zu identifizieren – aber wo liegt dann der der Selbstbestimmung interne Ausgangspunkt, der uns zum Folgen der bloßen Neigungen allererst führen könnte? Ein weiteres Problem steht im Hintergrund: Es scheint so, als sei der Handelnde auf die beiden Schichten aufgeteilt. Damit wäre die Einheit des Handelnden bedroht.
Jetzt verstehen wir zumindest einmal die Aufgabe, die Schelling sich 1809 selbst gesetzt hat. Denn seine Frage lautet: Wie können wir Selbstbestimmung in ihrer Spontaneität so verstehen, dass die reale Möglichkeit der Abweichung – und damit letztlich des Bösen – bereits der inneren Struktur der Selbstbestimmung immanent ist, sei es, dass sie in der Möglichkeit der Selbstbestimmung liegt oder zumindest in der Verwirklichung derselben? Die Möglichkeit des Bösen darf weder der Struktur der Selbstbestimmung äußerlich sein noch auf einer nachgeordneten Schicht angesiedelt; denn in beiden Fällen bliebe ein unverständlicher Dualismus in den Voraussetzungen des Handelns bestehen. Die Option, sich in das private Selbst und dessen eigentümliche Prioritäten zurückzuziehen, ist ein Kennzeichen der selbstbestimmten Natur bereits auf der tiefsten Ebene. Nur wenn das zutrifft, können wir echte, selbstbestimmte Akteure sein.
Die Einheit unseres Selbst und dessen letzter Grund
Diese Behauptung artikuliert die Aufgabe, die sich Schelling stellt. Sie ist der erste Baustein von Schellings Verständnis der Freiheit in seiner berühmten Freiheitsschrift. Der nächste Baustein gehört bereits zu der Lösung der Aufgabe:
Schelling entscheidet sich gerade nicht für ein (fichtisch-idealistisches) Modell reiner Spontaneität, nach dem der Handelnde und das, worauf gehandelt wird, vollständig zusammenfallen. Die Struktur der Selbstbestimmung ist vielmehr folgende: Wir als vernünftige Wesen beziehen uns stets auf eine tiefere und zugleich dunklere Motivationsebene – Schelling nennt sie Sehnsucht –, die aber ihrerseits bereits eine Ausrichtung auf das Verstehen enthält.
Das bedeutet: In ihr ist bereits das Moment des „Lichts der Einsicht“ verborgen.
Indem das Verstehen auf diese Ebene zurückgreift, eignet es sich sein Anderes in hermeneutischer Weise an. Was hier erstrebt wird, ist nicht idealistische Selbstkonstitution – Schelling nennt sie eine Fichtesche Präzipitation, also eine Sturzgeburt – , sondern lediglich die zu realisierende innere Einheit des Selbst.
Diese Tätigkeit ist jedoch (so der nächste Schritt) nicht selbstgenügsam.
Anders als in der (fichteanischen) idealistischen Spontaneität ist der Prozess der Selbstbestimmung auch nicht durchgängig transparent für sich selbst. Um ihn verständlich zu machen, müssen wir einen Grund außerhalb von ihm annehmen. Damit dieser Grund schließlich seine Rolle erfüllen kann, muss er seinerseits wiederum zwei Kriterien genügen: Das Verhältnis des Grundes zu dem Gegründeten muss so gedacht werden, dass er Letzteres buchstäblich freisetzt und sich folglich im Prozess gerade selbst zurücknimmt.
Denn würde man das Verhältnis einseitig naturalistisch oder kausal (im naturwissenschaftlichen Sinne) fassen, so wäre die Freiheit der gegründeten Tätigkeit zerstört. Solche Prozesse sind uns übrigens im alltäglichen Leben keineswegs unvertraut: Man denke nur an die Erziehung der Kinder, die zu deren Selbstständigkeit führen soll. Die Grundstruktur muss weiter so wirken, dass das daraus hervorgehende Vermögen spontaner Aktivität eine gewisse Latenz erbt – und damit das Potential, sich auch in das bloß individuelle Selbst zurückzuziehen. Diese Spontaneität erbt es als Teil der Struktur, die zugleich die Möglichkeit seiner vernunftorientierten Selbstverwirklichung konstituiert. Mit diesem sich zurücknehmenden Grund, aufs Absolute hin betrachtet, haben wir aber das dunkle, Jacob-Böhme’sche Motiv, das wir gesucht haben, in der Wurzel der Freiheit gefunden.
Schellingsche Motivationspsychologie
Aber erst einmal langsam. Das auffällige Moment in Schellings Konzeption ist das Betonen eines noch nicht vollständig umgrenzten und ausgefüllten Zustandes der Latenz, der aller Aktualität zugrunde liegt. Wie Böhme beschreibt Schelling ihn zunächst mit Blick auf den absoluten Grund. Doch als er versucht, seiner Konzeption Leben einzuhauchen, formuliert er sie in der Sprache einer motivationalen Psychologie. Gerade deshalb können wir hier in umgekehrter Blickrichtung etwas über Schellings Lesart unserer eigenen psychischen Konstitution lernen!
Der Zustand der Latenz ist zunächst als ein Potenzial für etwas gedacht. Um dies zu sein, ist er selbst noch nicht (ganz) bestimmt.
Es haftet ihm ein Moment der Unbestimmtheit, der Vagheit, an.
Er steht für das, was noch nicht geordnet ist. Wenn es in diesem Zustand überhaupt eine gewisse Konkretheit gibt – und es muss eine geben, sonst bliebe der Zustand auf Dauer, was er ist –, dann liegt sie in einer Richtung oder Tendenz.
Das Vokabular, das Schelling hier verwendet, ist ein dynamisches. Aufgrund seiner Vagheit darf der Zustand der Latenz gerade nicht auf einen Begriff bezogen werden, der sich präzise definieren ließe, sodass nur noch zu fragen wäre, ob und in welchem Maße etwas unter diesen Begriff fällt.
Die Latenz ist aber nicht ohne einen Platz in der Welt; sie ist stets an etwas gebunden, das bereits Realität und Aktualität besitzt. Es gibt entsprechend stets einen Funken von Aktualität innerhalb der Latenz selbst. Weiterhin gilt:
Als Potenzial für etwas ist sie buchstäblich dasjenige, aus dem das Entstehende hervorgeht. Sie bleibtin aller fest umrissenen Aktualität des Entstandenen als ihr Grund gegenwärtig. Die Latenz bleibt gleichsam als irreduziblerRest vorhanden.
In diesem Sinne gibt es eine fortdauernde Latenz, die bleibt, ohne je völlig ausformuliert zu werden. Da sie als Grundlage das Entstehende ermöglicht, würde dieses sich selbst untergraben, wenn es sie ganz aufgäbe.
Im Einklang mit Schellings ausdrücklicher Absicht, alles Sein (nicht nur den Menschen) unter dem Gesichtspunkt der Tätigkeit – und insbesondere des Wollens – zu betrachten, identifiziert er den Zustand der Latenz, wie oben erwähnt, mit Sehnsucht, da Letztere eine Form des Willens ist: ein Wille, der noch nicht vom Verstand und seinen Regeln angeleitet wird, aber doch bereits mit einer Ahnung ausgestattet ist. Schelling vergleicht den noch nicht ganz expliziten, unbestimmten und daher unvollendeten Charakter der Sehnsucht mit dem Durcheinander verschiedener Gedanken im Geist eines Künstlers in einem frühen Schaffensstadium: Er spricht von der „dunklen Sehnsucht, etwas zu schaffen“ und vom „chaotischen Gemenge der Gedanken, die alle zusammenhängen, jeder aber den anderen hindert hervorzutreten …“ (AA 1, 17, 132).
Der Verstand dagegen ist die Fähigkeit zur Reflexion. Als solche ist er zugleich die Fähigkeit, Begriffe zu finden und anzuwenden. In dieser Funktion bezieht er sich wieder auf die bloße Sehnsucht, strukturiert sie und stiftet Ordnung durch Begriffe. Das kann jedoch nur gelingen, insofern die Sehnsucht selbst bereits auf das Verstehen ausgerichtet ist: Man will verständlich handeln.
Betont man die wesentliche Rolle des Verstehens und der Einsicht (oder gerade den Mangel derselben) beim Zustandekommen von Handlungen, spricht man heute von einem kognitivistischen Ansatz. Ein voluntaristischer Ansatz dagegen hebt das Vorantreiben eines Willens hervor, der sich von unseren rationalen Fähigkeiten loslösen kann. In Schellings Konzeption sind beide Momente wechselseitig aufeinander bezogen. Abweichendes Handeln wird daher weder allein durch einen schuldhaften Mangel an Einsicht oder Urteilskraft noch durch ein willentliches Vorandrängen erklärt, das sich gelegentlich von der Vernunft absetzt. Seine Möglichkeit ist immanent im Wechselbezug dieser beiden Momente, der zugleich zur erfolgreichen Selbstbestimmung führen kann.
Hier ist zu beachten: Auch wenn der Verstand auf die Sehnsucht zurückgreift und sie sich anzueignen sucht, vermag er sie doch nicht völlig zu absorbieren.
Denn die rationale Komponente hängt von ihr als der eigenen Grundlage auch ab – einschließlich des stets verbleibenden Restes an Unbestimmtheit, der jedes Handeln in seinem sukzessiven Voranschreiten weiter begleitet. Die fortdauernde Präsenz der Sehnsucht oder Latenz kann nicht von der Verstandesseite allein hervorgebracht werden, denn dann wäre sie immer schon unter ihrer Herrschaft.
Folglich muss die Tendenz, sich selbst zu erhalten, schon Teil der Latenz selbst sein. Das wiederum bedeutet, dass die Latenz eine doppelte Ausrichtung haben muss: eine Richtung hin zum Verstehen, und eine andere Tendenz, sich selbst zu erhalten, und das heißt: sich in sich selbst auch zurückzuziehen. In der Sprache der Alltagspsychologie könnte man Schellings subtile Beobachtung auch so beschreiben: Wir wollen unsere Sehnsüchte eben nie ganz preisgeben.
Die Stellung des Menschen
Noch sind wir mit der Darstellung von Schellings Beitrag zum Verständnis der menschlichen Selbstbestimmung aber noch nicht am Ende angelangt.
Denn Schellings Modell des noch Latenten oder der nur erst ahnenden Sehnsucht und deren Gegensatz zur rationalisierenden Tätigkeit des Verstandes ist zwar in der Tat in einer psychologischen Sprache formuliert. Schelling will das Modell aber weiter anwenden als nur auf den menschlichen Geist. In analoger Weise kann es auch in Bezug auf andere Lebewesen benutzt werden. Beide Momente – Latenz/Sehnsucht einerseits und Verstehen/Ordnung andererseits – verweisen wechselseitig aufeinander; man kann sich aber leicht vorstellen, dass jedes von ihnen in unterschiedlichem Maß zum resultierenden Ganzen beiträgt. Das Moment der Latenz und bloßen, inartikulierten Sehnsucht kann etwa überwiegen, sodass sein Beitrag zum entstehenden Ganzen größer ist als der des Verstehens oder Ordnens. (Man denke an frühe Stadien tierischen Lebens mit geringer Struktur, aber hohem und flexiblem Entwicklungspotential und einer spürbaren Strebensrichtung.)
Bei der menschlichen Selbstbestimmung wäre es aber falsch anzunehmen, dass der Verstand als Vermögen noch teilweise in einem Zustand der Latenz und Sehnsucht gleichsam steckengeblieben ist. Der Verstand wäre noch verborgen und sein Beitrag nicht klar artikuliert. Er erschiene stets mit der undeutlichen Sehnsucht vermischt. Infolgedessen könnte der Verstand die Sehnsucht auch nicht in Besitz nehmen. Dann aber könnten wir die daraus hervorgehende Tätigkeit auch nicht dem handelnden Subjekt zuschreiben.
Der menschliche Fall ist nach Schelling also so beschaffen, dass der Verstand vollständig ausgebildet und fähig zur Selbstkontrolle ist. Auf dieser Grundlage kann Schelling dann die partiell unidealistische dialektische Bewegung freiheitlichen Selbstseins wie folgt entwickeln:
a) Der Verstand, der seiner selbst mächtig ist, ist besonders gut geeignet, sich die Sehnsucht anzueignen und sie seiner eigenen Agenda zu unterstellen. Dies bedeutet jedoch nicht, sie vollständig zu absorbieren, sodass nichts von der Sehnsucht übrigbliebe. Das Ergebnis ist vielmehr folgendes:
Da der Verstand Begriffe gebraucht und generell im Modus des begrifflichen Denkens operiert, erreichen wir durch ihn einen allgemeinen Standpunkt.
Dieser Standpunkt ist zugleich mit einer motivationalen Kraft verbunden, die zuletzt von den Resten der Sehnsucht herrührt, die ihm noch zugrunde liegen.
Diese Verbindung zielt natürlich auf die Aktualisierung eines moralischen Bewusstseins. b) Aber insofern der Verstand voll hervorgetreten ist, wird sein Gegensatz zu dem, was die Sehnsucht ursprünglich war, besonders deutlich. c)
Da in dieser Situation die Wirksamkeit des Verstandes besonders ausgeprägt ist, nimmt auch die innere Tendenz der Sehnsucht zur Selbsterhaltung, also ihre Tendenz, sich in sich selbst zurückzuziehen, zu. Je stärker der Verstand schon präsent ist, desto mehr nimmt die Ausrichtung der Sehnsucht auf das Verstehen ab, während zugleich ihre Tendenz zum Rückzug in sich selbst in den Vordergrund tritt. So ergibt sich:
Gerade in einer Situation, in der es eine klare Möglichkeit gibt, gemäß der eigenen universellen Bestimmung zu handeln, besteht zugleich ein besonders starker Appell der Sehnsucht, sich dem entgegen in sich selbst zurückzuziehen. Da die Sehnsucht – im Gegensatz zum Verstand und isoliert von ihm – noch nicht begrifflich verfasst ist, heißt dies: Gerade ein selbstbewusstes Wesen, das eines moralischen Standpunkts fähig ist, sieht sich mit einem beständigen Aufruf konfrontiert, der es in eine Richtung stößt, in der es zuletzt in das private Selbst kollabiert. Dieser Aufruf schlägt vor, den Vorrang des Allgemeinen durch die Agenda des Privaten zu ersetzen.
Hier erkennen wir, wie Schellings Modell menschlicher Selbstbestimmung uns zu der ursprünglichen Aufgabe zurückführt, die er sich gesetzt hatte:
Es besteht eine Möglichkeit, vom moralischen Gesetz abzuweichen, die motivationale Kraft hat. Aber beide Optionen – entweder dem Appell zum Rückzug zu erliegen oder das moralische Engagement zu festigen – sind bereits in der Struktur der Selbstbestimmung angelegt, eben jener Struktur, die moralische Orientierung überhaupt erst ermöglicht. So gibt es keine zwei unverbundenen Schichten innerhalb der Selbstbestimmung.
Aufgabe gelöst?
Hat Schelling damit seine Aufgabe gelöst? Man kann sich jetzt natürlich fragen, ob eine Unverständlichkeit, die uns ratlos lässt, nicht an einer anderen Stelle der menschlichen Selbstbestimmung weiter auftritt. Taucht hier nicht ein Analogon zu dem liberum arbitrium wieder auf? Denn die bloße Existenz einer verlockenden Option neben dem allgemeinen, gültigen Weg ist ja immer noch keine Entscheidung. Hier kann man Schelling zu Gute halten, dass im Rahmen seines Ansatzes (anders als in Kants motivationalem Dualismus) das Abweichen vom moralischen Gesetz nicht allein auf Neigungen zurückgeht, die für uns als selbstbewusste Akteure wie Schüsse aus der Dunkelheit erscheinen müssen. Das Abweichen wird von innen her – aus unserer autonomen Natur selbst – ermöglicht. Das kann man auch so lesen: Die Notwendigkeit, die aus unserer Natur als freies Wesen folgt, reicht streng genommen zwar nur so weit, dass wir mit der Aufgabe konfrontiert sind, uns zwischen Universalität und dem tatsächlich ebenfalls motivierenden Bösen zu entscheiden. Aber das heißt eben – so der nächste Schritt – nicht, dass wir zur Unintelligibilität verdammt sind.
Hier möchte ich eine Bemerkung einschieben: In diesem moderaten Sinn lese ich auch Schellings Behauptung, dass ein wirklich guter Mensch eigentlich nicht wählt, sondern fest entschlossen seinen Weg gemäß seinem Charakter folgt.
Angesichts der Herleitung der menschlichen Situation verstehe ich diese Behauptung nicht so, dass die Möglichkeit des Bösen als grundsätzliche Option für ihn nicht existiere. Vielmehr hat der gute Mensch es auf individuell-psychologischer Ebene geschafft, sich eine Praxis anzueignen, die ihn von dieser Möglichkeit isoliert oder abschirmt. Wie es dazu kam, lässt sich – etwa in den exemplarischen Beschreibungen des Lebens guter Menschen, die wir alle kennen – erzählen.
Denn die der Freiheit angemessene Verständnisordnung, auf die Schelling zielt, ist eine narrative. Ihn interessiert eine nachvollziehbare Erzählung, die zeigt, wie Handlungen und Haltungen entstehen. Solche Erzählungen verdeutlichen die Zusammenhänge der einzelnen Momente und enthalten zugleich eine mögliche Motivation der Tätigkeit. Die Plausibilität dieser Erzählung wird zuletzt nicht dadurch unterminiert, dass sich auch alternative Geschichten erzählen ließen.
Für den Theologen Schelling ist ja auch die ursprüngliche Abweichung vom Rechten in einer Erzählung gegeben, in der wir die tragische Abweichung vom Rechten durchaus motivational verstehen, wiewohl wir sie als Philosophen allenfalls in ihrer Möglichkeit ableiten können.
Ulrich Schlösser ist Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der klassischen deutschen Philosophie.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Werke, Bd. 1, 17, Stuttgart 2018.

