Das Antiquierte und Unzeitgemäße bei und in Kant
Von Dina Emundts (Berlin)
Angenommen, wir sehen Kinder im Sandkasten spielen; das eine siebt den Sand und teilt Sand, Stöckchen und Steinchen säuberlich in drei Eimer, geht dann dazu über, die Steine nach Größen zu sortieren und die Stöcke zur Hecke zu bringen; all dies, während das andere aus dem Gemisch ein Haus gebaut hat, in dem man jetzt spielen könnte. Wenn die dabeisitzenden Eltern die Berufe ihrer Kinder erraten müssten, wo würden sie den der Philosophie vermuten?
Kant hätte nicht gezögert. Das Kind mit den gründlichen Trennungen wäre es gewesen. In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: „Was Chemiker beim Scheiden der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Größenlehre tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob, damit er den Anteil, den eine besondere Art der Erkenntnis am herumschweifenden Verstandesgebrauch hat, ihren eigenen Wert und Einfluß sicher bestimmen könne.“
Hier, wie an vielen anderen Orten, macht Kant deutlich, dass Philosophie Ordnung herstellt, dass sie dem ‚Herumschweifen‘ entgegenwirken sollte und dass sie auch in ihrem Auftritt möglichst trocken und nüchtern sein muss. An einer anderen Stelle heißt es bei Kant: „Im Grunde ist wohl alle Philosophie prosaisch; und ein Vorschlag, jetzt wiederum poetisch zu philosophieren, möchte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prosa sondern in Versen zu schreiben.“
Ich möchte nicht sagen, dass Kant hier ein falsches Bild der Philosophie hat. Ordnung schaffen, Sortieren sowie klare Grundsätze und Nüchternheit zu pflegen, sind philosophische Tugenden. Das Ideal, das Kant hier geschaffen hat, war prägend und ein Stück weit hänge ich ihm auch an. Dann aber wurmt es mich plötzlich, ob dies nicht das Bild der Philosophie als einer Begriffspolizei bedingt hat, das mir manchmal in anderen Disziplinen begegnet ist und das ich auf keinen Fall als Ideal meiner Arbeit ansehe. Hatte Hegel nicht Recht, die Dialektik als die bessere Methode der Philosophie darzustellen? Muss in einer komplexen, lebendigen Welt die Philosophie nicht die Kunst der Übergänge mehr als die der Trennungen pflegen? Und muss sie dies wirklich immer so nüchtern tun? Soll sie ordnen und sortieren oder soll sie etwas bewohnbar machen und herstellen? Fehlt es unserer Zeit an Emphase oder an Nüchternheit von Seiten der Philosophie? Unzeitgemäß ist vielleicht am Ende sogar die Trennung von diesen Beiden: Nüchternheit und Emphase werden heute gar nicht mehr als Gegensätze verstanden. Wenn Kant hierin „unzeitgemäß“ ist, dann ist dieser Ausdruck aber nun in dem Sinne gemeint, dass etwas unzeitgemäß ist, wenn es aus einer anderen Zeit ist, in einem gewissen Kontrast zur eigenen Zeit steht und gerade dadurch etwas Überraschendes, Aufweckendes und Neues haben kann – das gilt dann bei diesem Thema auf jeden Fall von Kants Bemerkungen dazu, was für einen Charakter die Philosophie hat.