Kann man heute (noch) grenzenlos Kantianer sein?

Von François Ottmann (Toulouse)

Die Frage ist doppeldeutig. Grenzenlos Kantianer sein bedeutet zunächst, ähnlich wie man grenzenlos glücklich sein kann, dass man durch und durch Kantianer sein könnte, das heißt, dass man Kants System absolute – unbeschränkte, ohne Grenze oder Schranke – Gültigkeit einräumt, oder um mit Kant zu sprechen: dass es allgemein gültig wäre. Diese Allgemeinheit führt aber zu einem zweiten Verständnis der Frage: Kann man heute noch über die (politischen) Grenzen hinaus – das heißt nicht nur im westlichen, eurozentrischen Denken – Kantianer sein? Erkennt man aber die gegenseitige Abhängigkeit beider Fragen, fragt sich letztlich: Wie allgemein kann tatsächlich ein System gelten, das so angelegt ist, dass es nur dadurch gelten kann, dass es allgemein gilt? Kants Idee des Transzendentalen erzwingt diese Frage. Mit ihr stößt man offenbar an Kants Grenzen, an jene Krise der Universalität, die mit der Aufklärung in Westeuropa ansetzt und neue Wissensparadigmen – etwa der Geisteswissenschaften – notwendig macht. An dieser Paradoxie selbstreferentieller (reflexiver) Vernünftigkeit grenzt also offenbar Kants Denken. Sollte jedoch diese Grenze nicht gerade als positives Produkt von Kants System betrachtet werden? Macht dieses Grenzen an der Antinomie selbstreferentieller Vernünftigkeit nicht gerade diejenige Krise aus, die sich nur in einer Kritik aussprechen kann, und somit die Grundform jeglicher künftigen Philosophie bestimmt (das heißt, in einem nun problematisch anmutenden Sinne, begrenzt)?