Kant zwischen Buchstabe und Geist
Von Lucian Ionel (Leipzig)
Wenn wir Kants Textkorpus untersuchen, stoßen wir zunächst auf die Grenze des Buchstabens. Der Buchstabe ist die Grenze des Geistes: Der Geist kann sich nur im Buchstaben verstehen; der Buchstabe ist aber auch die Weise, in der er sich verfehlen kann. Davor warnt uns Kant, wenn er sagt, Philosophie könne man nicht lernen. Er meint damit, dass philosophische Erkenntnis nicht in der Form von Lehrsätzen erworben werden kann. Philosophische Erkenntnis kann man nur erwerben, indem man philosophiert. Das Einzige, was wir von ihm lernen können, ist das Philosophieren. Wenn wir Kant stattdessen buchstäblich lesen, dann grenzen wir unser Verständnis dessen, was wir sind, selbst ein.
Die Übersetzung des kantischen Geistes in Buchstaben wird deutlich in der Art und Weise, wie seine Kritik unserer Erkenntnisvermögen – also seine Artikulation dessen, was wir von dem wissen, was wir als geistige Lebewesen können – zumeist verstanden wird. Allzu oft wird Kants Unterfangen als eine Aneinanderreihung gegebener Dispositionen verstanden – als wären die Erkenntnisvermögen Dispositionen des Geistes, so wie die Zerbrechlichkeit eine Disposition der Knochen ist. Kant aber mahnt, dass es eine natürliche Illusion unserer Selbsterkenntnis ist, das Subjekt für ein Objekt, unser selbstbewusstes Können für eine gegebene Anlage zu halten. Diese Einsicht ist Ausdruck seines kritischen Geistes in der Frage der philosophischen Psychologie, der Selbsterkenntnis des Menschen. Diesen kritischen Geist brauchen wir auch heute – auch um Kant nicht als ein bloßes Lehrgebäude, als toten Buchstaben am Leben zu erhalten.