Paradies Gamification. Eine Bestandsaufnahme

von Moritz Dittmeyer (München)

„Die Wahrheit lautet, dass Computer- und Videospiele in der heutigen Gesellschaft grundlegende menschliche Bedürfnisse erfüllen und dass die echte Welt diese Bedürfnisse derzeit nicht befriedigen kann. Spiele überhäufen uns mit Belohnungen, wie sie in der Wirklichkeit nicht üblich sind. Sie lehren, inspirieren und begeistern uns, wie diese es nicht vermag. Sie bringen uns näher zusammen, als es der Realität gelingt. […] Die Wirklichkeit ist – anders als in Spielen – zerbrochen. […] 

Spieleentwickler wissen am besten, wie man Menschen zu Höchstleistung anspornt und harte Arbeit belohnt. Sie wissen, wie man Kooperation und Kollaboration in zuvor ungeahntem Ausmaß fördert. […] Wir sollten all das, was Spieleentwickler über das Erzeugen eindrucksvoller Erfahrungen und das Organisieren von Teamstrukturen gelernt haben, aufs echte Leben übertragen. Wenn uns dies gelingt, dann sehe ich Spiele, die uns helfen, morgens gut gelaunt aufzustehen und uns freudig in den Tag zu stürzen; ich sehe Spiele, die den Stress am Arbeitsplatz reduzieren und unsere berufliche Zufriedenheit enorm steigern; ich sehe Spiele, die das Bildungssystem revolutionieren; ich sehe Spiele, die Depressionen, Fettleibigkeit, Angstzustände und ADS behandeln; ich sehe Spiele, die älteren Menschen das Gefühl geben, sich sinnvoll zu beschäftigen und mit der modernen Gesellschaft verbunden zu sein; ich sehe Spiele, die mehr demokratische Beteiligung möglich machen; ich sehe Spiele, die Probleme von globalem Ausmaß, etwa dem Klimawandel oder Armut bekämpfen; ich sehe Spiele, die die wichtigsten Begabungen des Menschen, nämlich glücklich, widerstandsfähig und kreativ zu sein, nachhaltig fördern; ja, ich sehe Spiele, die uns die Fähigkeit verleihen, die Welt im großen Stil zu verändern.“

So beschreibt die amerikanische Game-Designerin und Zukunftsforscherin Jane McGonigal 2011 den Zustand unserer Welt in ihrem internationalen Bestseller Reality is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World.[i] Seitdem ist viel passiert. Ein neuer Trend ist entstanden, der sich Gamification nennt. Die Idee besteht darin, menschliches Verhalten mittels Spielen oder genauer Spielelementen gezielt zu beeinflussen. Ein regelrechter Hype ist binnen kurzer Zeit um diese spielerische Form der Einflussnahme entstanden. In zahlreichen Büchern, Zeitungsartikeln, Blogeinträgen und Innovation-Talks wurde das Prinzip als universeller Heilsbringer gefeiert und proklamiert, die „revolutionäre“ Idee hinter Gamification habe das Potenzial unser Leben ordentlich aufzumischen (siehe etwa McGonigals oder Yu-Kai Chous Vortrag im Rahmen der TED-Vortragsreihe).

Mittlerweile ist der Hype vorbei. Gamification ist angekommen. Es sind nicht mehr nur ein technik- und (computer-)spielaffines Klientel und eine Hand voll Zukunftsforscher*innen oder selbstberufener „Gamification-Gurus“ (mit oftmals wirtschaftlichen Interessen), die der Gamification huldigen, über ihre Funktionsweise und Wirksamkeit schwadronieren und allerlei konkrete Möglichkeiten ersinnen, wie immer mehr alltägliche Aufgaben und Probleme aber auch komplexe gesellschaftliche Herausforderungen (wie z. B. der Kampf gegen Klimawandel und Weltarmut) mittels Gamification „gelöst“ werden könnten. So ist es heute schlichtweg der Fall, dass wir hierzulande in sämtlichen Bereichen unserer Lebens mit gamifizierten Anwendungen und Systemen konfrontiert werden.

Kaum verwunderlich, denn es klingt ja erst einmal überaus verlockend, wie sich Gamedesigner*innen wie McGonigal unsere Zukunft vorstellen – geradezu paradiesisch: Um die Welt zu retten, müssen wir einfach nur spielen bzw. geeignete Spiele schaffen, durch deren Spielen wir dann ganz automatisch unser Wohlbefinden als auch die Welt in bedeutsamer Weise verbessern. Jackpot!

Doch bei aller Euphorie: Durch Spiele den Klimawandel aufhalten und die Weltarmut besiegen? Durch Implementierung geeigneter Spielelemente demokratische Partizipation und intergenerationalen Zusammenhalt herstellen? Depression, Übergewicht und ADS heilen? Im Spiel die Welt retten? Was steckt wirklich hinter diesem Konzept, das Gamification genannt wird?

Definieren lässt sich Gamification als strategische Verwendung von sogenannten Spielelementen in spielfremden Kontexten mit dem Zweck so das Verhalten Betroffener zu beeinflussen. Wir haben es also mit einer Motivationsstrategie zu tun, bei der die motivationale Kraft bestimmter Aspekte von Spielen gezielt ausgenutzt wird. Konkret geht es meist es darum, das Ausführen bestimmter Handlungen mit Punkten, Abzeichen, Credits, Levels oder anderen virtuellen Gütern zu belohnen und Nutzer*innen die Möglichkeit zu bieten, sich ihre Leistung anhand dynamischer Fortschritts- und Leistungsgraphen ansprechend zu visualisieren. Zudem gibt es Rang- und Bestenlisten, die es erlauben, sich und seine Leistung überall und jederzeit mit anderen zu vergleichen. Auch elaboriertere Spielelemente wie etwa das Trainieren virtueller Avatare, die Wahl persönlicher Challenges und Missionen oder die fiktionale Aufwertung banaler Tätigkeiten mittels aufregender Narrative gehört zum Potpourri aus dem sich die Entwickler*innen gamifizierter Anwendungen und Systeme bedienen.

Psychologisch begründet wird die Wirksamkeit von Gamification durch die motivationale Anziehungskraft von Spielen. Die Anreicherung spielfremder Kontexte mit sogenannten Spielelementen soll dazu führen, dass es Betroffenen mehr Spaß bereite sich in diesen Kontexten aufzuhalten, bzw. dass sich das Ausführen einer gamifizierten Tätigkeiten eben angenehmer anfühle als das eines nichtgamifizierten Pendants. Die Besonderheit von Gamification liege zudem darin, dass sie die intrinsische Motivation adressiere und es nicht – wie so oft – darum gehe, externe Handlungsanreize zu setzen. Eine gamifizierte Tätigkeit auszuführen ist – so die Propagierenden – deshalb eine spaßigere oder angenehmere Angelegenheit, weil Gamification die Befriedigung bestimmter psychologischer Grundbedürfnisse verbessert, die wiederum dafür verantwortlich gemacht werden, dass es sich eben an sich – also intrinsisch – gut oder zumindest besser anfühlt entsprechend zu handeln.[ii]

Insgesamt gibt es drei solcher Grundbedürfnisse, die von unterschiedlichen Spielelementen auf verschiedene Art und Weise bedient werden: Aufgrund der verschiedenen Feedbackmechanismen gamifizierter Anwendungen und Systeme, wie der Vergabe von Punkten, Abzeichen und dergleichen, soll die eigene Kompetenz bzw. die Verbesserung derselben verstärkt wahrgenommen werden. Wir werden konstant und umfassender als in Wirklichkeit darüber informiert, welchen Einfluss unser Agieren auf unsere Umwelt ausübt. Es fühlt sich gut an, diesen Einfluss direkter zu erfahren. Durch mehr und ansprechenderes Feedback lässt sich ebenso der persönliche Fortschritt besser wahrnehmen, als das in einer nicht mit Spielelementen aufgewerteten Wirklichkeit oft der Fall ist. Der kompetitive Überbau, den gamifizierte Tätigkeiten durch Rang- und Bestenlisten in vielen Fällen erhalten, soll zudem das Erleben sozialer Eingebundenheit steigern. Wir stehen nicht mehr alleine da mit unseren zu erledigenden Aufgaben und Problemen. Wir können uns mit unseren Mitstreitenden vergleichen und spielerisch darüber wetteifern, wer wo und in welcher Hinsicht am besten abschneidet. Darüber hinaus zielt die Möglichkeit, persönliche Challenges oder Missionen auszuwählen und anzunehmen, virtuelle Avatare zu trainieren oder banale Alltagsaufgaben in einem narrativ aufgewerteten Setting auszuführen darauf ab, das Autonomieerleben beim Ausführen gamifizierter Tätigkeiten zu erhöhen. Auf verschiedene Art und Weise soll damit nämlich erwirkt werden, dass die zu erledigenden Aufgaben und anstehenden Tätigkeiten sich mehr als unsere eigenen anfühlen. Auswahlmöglichkeiten angeboten zu bekommen und Herausforderungen selbst zu definieren, suggeriert uns, selbst entscheiden zu können, was wir als nächstes tun wollen. Die bedeutungsstiftenden Erzählungen, die über Narrative bereitgestellt werden, sollen die Identifikation mit und Bedeutung vom eigenen Handeln verstärken und ebenso dazu beitragen, dass wir uns als autonom handelnde Subjekte wahrnehmen.

Das Erleben von Kompetenz, sozialer Eingebundenheit und Autonomie wird maßgeblich für unser psychisches Wohlbefinden verantwortlich gemacht. Es hat zur Folge, so die Verfechter*innen des Gamification-Ansatzes, dass Betroffene ein verstärktes Maß an intrinsischer Motivation aufweisen, sich auf die von den gamifizierten Anwendungen und Systemen nahegelegte Art und Weise zu verhalten.

Die intrinsische Motivation anzusprechen, um Menschen zu beeinflussen etwas zu tun, wird als großer Vorteil von Gamification angesehen. Es wird davon ausgegangen, dass intrinsische Motivation weitaus stabiler sei als ihr Gegenpart die extrinsische Motivation. Wie zahlreiche Experimente seit den 1970er Jahren zeigen, stellen extrinsische Motivationsversuche, etwa die Vergabe monetäre Anreize, keine nachhaltige Motivationsstrategie dar. Langfristig gesehen korrumpieren externe Anreize die ursprünglich intrinsische Motivation und führen dazu, dass Betroffene das Interesse an der Tätigkeit verlieren. Dieses, als Korrumpierungseffekt bezeichnete Problem soll im Fall von Gamification vermieden werden, da die Implementierung der Spielelemente eben darauf abzielen soll, speziell die intrinsische Motivation zu steigern.[iii]

Kommen wir nun von der Theorie zur Praxis und betrachten wo und wie Gamfication lebensweltlich eingesetzt wird: Ganz grundsätzlich gilt festzustellen, dass wir mittlerweile in fast allen Bereichen unseres Lebens mit bestimmten, absichtlich implementierten Spielelementen konfrontiert werden. Unternehmen greifen zum Engagement und zur Motivation ihrer Angestellten auf gamifizierte Plattformen und Lösungen zurück. An zahlreichen Arbeitsplätzen, wie zum Beispiel in Callcentern oder in der Gastronomie und im Einzelhandel werden gezielt sogenannte Spielelemente implementiert, um die Beschäftigten zu motivieren, sich mehr anzustrengen und ihre Leistung zu steigern (z. B. EvaluAgent oder Sell & Pick) oder gar kostenlos gewisse Aufgaben zu erledigen (z. B. im Rahmen von Crowdsourcing). Darüber hinaus setzen Unternehmen Gamification häufig im Rahmen von Marketingstrategien ein, um unser Konsumverhalten anzuregen oder uns als Kund*innen zu binden. Auf Internetseiten und in Internetforen, in sozialen Netzwerken und in sozialen Medien, im Onlinehandel, im Superparkt oder im Fitnesscenter, quasi überall gibt es mittlerweile die Möglichkeit Punkte, Abzeichen oder Ähnliches zu sammeln und mit den Mitstreitenden spielerisch darüber zu wetteifern, wer in welcher Hinsicht gerade am besten abschneidet. Auch in Bildungsbereich spielt Gamification eine immer größere Rolle. Aufgrund des Erfolgs den gamifizierte Lernanwendungen und Programme verbuchen können (z. B. Duolingo), gibt es diverse Bestrebungen das Prinzip nun auch verstärkt an regulären Schulen und Universitäten einzusetzen (z. B. Classcraft) . Zuletzt wird Gamification auch von Regierungen und Staaten verwendet. Als Extremfall ist hier sicherlich das Social-Credit-System in China aufzuführen, das sämtliches Verhalten aller Bürger*innen aufzeichnet, auswertet und mittels Punkten und dergleichen Regierungskonformität belohnt. Aber auch hierzulande ist Gamification immer wieder in staatlichen oder institutionellen Bereichen anzutreffen.[iv]

Neben den soeben aufgezählten Erscheinungsformen von Gamification, bei denen wir sozusagen fremdbestimmt mit Gamification in Berührung kommen, gibt es mittlerweile auch ein riesiges Angebot an gamifizierten Anwendungen und Systemen, die wir aus eigener Initiative heraus gebrauchen können. Hierzu zählen etwa die kaum mehr überschaubare Anzahl an Fitness- und Gesundheits-Apps für Smartphones und dergleichen (z. B. Zombies, Run!, Fitocracy,  Noom oder FitMit AOK), die uns etwa dabei helfen sollen regelmäßig Sport zu treiben, abzunehmen, mit dem Rauchen aufzuhören oder anderweitig auf unsere Gesundheit zu achten. Auch bei der Kontrolle der eigenen Finanzen (z. B. SmartPig), dem persönlichen Umweltschutz (z. B. Tastyvist) oder bei der gewissenhaften Ausführung von Haus- und Care-Arbeit (z. B. ChoreWars) können wir auf gamifizierte Anwendungen zurückgreifen. Spielerisch gestaltete to-do-Listen (z. B. EpicWin oder Habitica) sollen uns ganz prinzipiell dabei unterstützen, alltägliche Aufgaben regelmäßig zu erledigen und persönliche Projekte erfolgreich zu realisieren. Und mittels gamifiziertes Sexapps soll sich sogar unser Liebesleben aufpeppen lassen (z. B. iKamasutra).

Blicken wir hinter die Kulissen vieler, der genannten gamifizierten Anwendungen und Systeme, sehen wir, dass es dort doch meist relativ simple zugeht. Wir erhalten Punkte und andere vergleichbare virtuelle Güter oder Artefakte, wenn wir uns anstrengen und unsere Aufgaben gewissenhaft erledigen. Wir erfahren mehr soziale Anerkennung oder anderweitige Vorteile, wenn wir die oberen Plätze von Rang- und Bestenlisten belegen. Es ist fragwürdig, ob das wirklich unsere intrinsische Motivation adressiert oder ob Punkte, Abzeichen, Ranglisten und dergleichen nicht analog zu externen Anreizen verstanden werden können oder müssen. Das wäre sicherlich dann der Fall, wenn etwa gamifizierte Angestellte sich nunmehr deshalb anstrengen, weil sie sich von einer gewissen Punktezahl oder Platzierung auf einer Rangliste irgendwelche Vorteile erhoffen.

Auch mit Spielen hat Gamification in den meisten Fällen recht wenig zu tun. Darauf haben schon sehr früh einige Game-Designer*innen und Spieleforscher*innen hingewiesen. Selbst wenn wir uns auf die Bedeutung des Wortes „game“ beschränken, weisen als Gamification bezeichnete Strategien oftmals nur die am wenigsten relevanten Elemente von Spielen auf. Dies ist wohl auch der Grund dafür, warum Gamification von Kritiker*innen mitunter auch als „Pointsification“ bezeichnet wird.

Mehr als irritierend ist es daher, dass Promoter*innen und Agenturen, die gamifizierte Lösungen anbieten, sich immer wieder auf berühmte Spieltheorien berufen, die sich gar nicht mit games im Speziellen, sondern dem viel reichhaltigeren Konzept des Spiels im Allgemein beschäftigen. Den Erfolg von Gamification mittels der Auffassung vom Menschen als Homo ludens des niederländischen Kulturphilosophen Johan Huizinga zu begründen oder gar mit dem schillernden Zitat der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ des berühmten Dichters Friedrich Schiller in Verbindung zu bringen, ist mehr als nur in die Irre führend. [v] Denn, dass Gamification etwas anderes ist, als die von den beiden Denkern, emporgehobene befreiende menschliche Tätigkeit schlechthin – dem zwecklosen, auf sich selbst gerichteten und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehenden Spiel –, liegt auf der Hand. Schließlich geht es ja bei Gamification gerade darum aus strategischen Gründen Spielelemente im gewöhnlichen Leben zu etablieren. Gamification ist also weder zwecklos, noch auf sich selbst gerichtet und auch nicht außerhalb des gewöhnlichen Leben anzutreffen.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Anwendungen von Gamification immer populärer wird. Und wir müssen zugeben, dass ein zunehmender Verbreitungsgrad erst einmal für sich spricht. Gamification scheint in gewisser Hinsicht einen Nerv unserer Zeit zu treffen. Auch wenn wir nicht vom Spiel im eigentlichen Sinne sprechen können, wir also nicht mit beeindruckenden Spielerfahrungen zu rechnen haben, das Prinzip funktioniert und es macht Spaß. Wir kommen nicht umhin uns einzugestehen, dass wir Menschen eine gewisse Neigung haben uns dem seichten Amüsement hinzugeben, das uns von gamifizierten Anwendungen und Systemen beschert wird. Nicht ohne Grund wird gegenwärtig auch von einer Feedbackgesellschaft gesprochen.

Hinzu kommt, dass auch ethisch betrachtet, Gamification sich erst einmal unauffällig präsentiert. Ähnlich wie bei Nudging & Co geht es darum, Menschen auf sanfte Art und Weise zu beeinflussen.[vi] Wir werden nicht gezwungen irgendwas zu tun, es wird uns lediglich spielerisch nahegelegt. Besser noch, es wird allein dafür gesorgt, dass wir bei dem, was wir ohnehin tun wollen oder müssen, mehr Spaß empfinden. Schließlich wollen wir uns ja gesund ernähren, Sport treiben, zu rauchen aufhören oder möglichst effizient unsere to-do-Listen abarbeiten. Und uns um Haus- und Care-Arbeit kümmern, unsere Finanzen unter Kontrolle halten oder möglichst effizient arbeiten, müssen wir auch. Was wollen wir also mehr, als auf spielerische Art und Weise dazu gebracht zu werden, überall dort besser zu performen? Schließlich kann es ja wohl kaum verwerflich sein, notwendige und sinnvolle Aufgaben durch Gamification angenehmer, reizvoller und leichter zu machen.

Geschenkt, aber so einfach ist es mit der Causa Gamification leider doch nicht. Erstens kann der menschliche Spieltrieb auch missbraucht werden, wie spätestens die Verwendung des Gamification-Ansatzes im Rahmen des chinesischen Social-Credit-Systems zeigt. Hier werden die implementierten Spielelemente gezielt dafür genutzt, das Verhalten der chinesischen Bürger*innen flächendeckend zu überwachen und zu regulieren, mit dem Ziel linientreues Verhalten sicherzustellen. Das ist problematisch und zwar ein Extrem- aber sicherlich kein Einzelfall. Auch in unserer, gerne als liberal bezeichneten Gesellschaft, wird Gamification eingesetzt, um Menschen zu überwachen, zu normalisieren oder auszubeuten. Es bedarf also auch hier klarer Regeln, Richtlinien und vor allem Transparenz, um die Missbrauchsfälle von Gamification zu identifizieren und zu vermeiden.

Zweites kann die Verwendung von Gamification noch in anderer Hinsicht gefährlich werden – gerade wenn ihr Einsatz immer umfassender wird. Wir wissen nicht, was das mit uns Menschen macht, wenn wir andauernd und langfristig von gamifizierten Anwendungen und Systemen umgeben sind. Wie wirkt sich das auf unsere psychische Integrität aus, wenn wir uns daran gewöhnen, ständig für alles, was wir tun angenehmes Feedback oder virtuelle Belohnungen zu bekommen? Was passiert, wenn wir davon ausgehen, dass alles immer Spaß macht und wir kontinuierlich motivational dabei unterstützt werden, unsere eigenen Projekte und Pläne zu realisieren?

Bereits am Vorabend des zweiten Weltkriegs warnte Huizinga davor, dass es höchst problematisch sei, ernsten Tätigkeiten die Oberfläche eines Spiels zu verleihen. Stellen wir uns darauf ein im gewöhnlichen Leben immer schon (vermeintlich) zu spielen, dann unterstütze das den menschlichen Hang zum Puerilismus – den Habitus Vorpubertierender. Auf der Suche nach banaler Zerstreuung, grober Sensation und berauscht vom „Wir-Gefühl“ verlieren wir die Ernsthaftigkeit des Lebens und damit ein Stück weit unser Menschsein aus den Augen. Stimmt das, dann wäre Gamification insgesamt betrachtet doch eher Fluch als Segen und gar nicht so paradiesisch, wie wir auf den ersten Blick vielleicht meinen könnten.


Moritz Dittmeyer steht im Begriff seine Promotion zur Idee und Ethik von Gamification an der philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität abzuschließen. Er lebt und arbeitet in München.


[i] In deutscher Übersetzung ist das Buch 2012 unter dem Titel Besser als die Wirklichkeit!: Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern im Heyne Verlag (München) erschienen.

[ii] Diese Erklärung beruht auf der Selbstbestimmungstheorie der Motivation. Siehe Deci, Edward L. und Richard M. Ryan (1985). Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behavior. New York: Springer.

[iii] Für eine systematische Auseinandersetzung mit der motivierenden Kraft von Gamification siehe Sailer, Michael (2016). Die Wirkung von Gamification auf Motivation und Leistung. Wiesbaden: Springer.

[iv] Siehe die Studie Gamification4Good. Gemeinwohl spielerisch stärken (2018).

[v] Siehe Schiller, Friedrich (1795). Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von

Briefen und Huizinga, Johan (1997). Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt.

[vi] Nudges bezeichnen sogenannte Stupser, die menschliches Verhalten beeinflussen sollen, ohne dabei Ver- oder Gebote zu verwenden oder ökonomische Anreize zu setzen. Siehe Thaler, Richard H. und Cass R Sunstein (2009). Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness. London: Penguin Books.