Kann man Bedeutung essen? oder Über Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (1855) und den Hecht
Von Jennifer Zimmermann (Berlin)
Dass der Akt des Essens wie auch die Wahl der Speisen mehr und anderes beinhaltet als die reine Ernährungsfunktion, dass auch „die Küche einen Geist“ und „der Geist eine Küche“ hat, soll anhand von Gottfried Kellers realistischem Roman aufgezeigt werden. Ausgehend von der berühmten These des Philosophen Ludwig Feuerbach: „Der Mensch ist, was er isst“, wird folgend die unauflösbare Liaison von Essen, Trinken und (nicht nur, aber v.a. religiös besetzter) Bedeutsamkeit diskutiert.
Zu wissen, „wie man, ohne Kellner zu erheitern, Artischocken speist“: Das hielt ein Lied des Düsseldorfer Kabaretts „Kom(m)ödchen“ aus den frühen 1960er Jahren für den schlagenden Beweis dafür, dass der prosperierende Deutsche kulturell mit dem Niveau mithalten konnte, das er mittlerweile wirtschaftlich erreicht hatte. Inzwischen wissen viele, wie man Artischocken speist, Hummer zerlegt und edle Rotweine dekantiert. An einer Aufgabe aber würden auch die Eleganteren unter denen scheitern, die Essen nicht mit der Aufnahme von Nahrungsmitteln verwechseln. Der Onkel des Grünen Heinrich, ein frühpensionierter Pastor, hat sie am sonntäglichen Mittagstisch seinem Neffen vor versammelter Familien-, Dienst- und Gästemannschaft gestellt. Der Grüne Heinrich solle seinen Mund bitte nicht nur zum Essen gebrauchen, sondern auch zur gebildeten Konversation, er möge doch erläutern, was er da esse, nämlich…
Doch halt, auch Miszellen brauchen ein hors d’œuvre. Um die Zunge zu gescheiten Antworten zu reizen, sind zumindest einige amuses geules notwendig. An der ländlichen Mittagstafel des Onkels geht es so recht behaglich zu. Der junge Feuerbach-Leser und -Anhänger fühlt sich sichtlich wohl.
An Sonn- und Feiertagen glich der Tisch meines Oheims ganz seinem Hause und zeigte dessen merkwürdige und malerische Zusammensetzung in allen Stücken. Drei Vierteile desselben, von der Jugend und den Dienstleuten besetzt, trugen große ländliche Schüsseln mit den entsprechenden Speisen: mächtige Stücke Rindfleisch und gewaltige Schinken. Neuer Wein aus einem großen Kruge wurde in einfache grünliche Gläser geschenkt, Messer und Gabeln waren aufs billigste beschaffen und die Löffel von Zinn. Nach der Spitze der Tafel zu, wo der Oheim und die allfälligen Gäste saßen, veränderte sich die Gestalt dieser Dinge. Dort waren die Ergebnisse der Jagd oder des Fischfangs nebst anderen guten Dingen in kleinen Portionen aufgestellt; […]. Auf einem bunten alten Porzellanteller lag hier ein gebratener Vogel, dort ein Fisch, einige rote Krebse oder ein feines Salätchen. Alter starker Wein stand in kleineren Flaschen, uralte Ziergläser der verschiedenen Formen dabei…[1]
Ach, wer da mitspeisen könnte! Der Grüne Heinrich ist ein gern gesehener und langfristig verweilender Gast. An der Dreiviertel-zu-Einviertel-Aufteilung der Tafel nach den Maßstäben der Generationenzugehörigkeit und des Standes nimmt er, der junge Demokrat, keinen Anstoß. Dass die Älteren „älteren Wein und die Jüngeren neuen“ erhalten, leuchtet ihm ganz unmittelbar ein. Mit dem reichlichen „unteren Speisengebirge“ ist er auch deshalb zufrieden, weil er zu Hause mit einfachster Kost vorliebnehmen muss und weil zudem gerade er, der Städter, sich beim kulinarischen Umgang mit Ungewohntem stets blamiert. Mangelt es ihm doch an „Gewandtheit in Fisch- und Vogelessen“.
Die Cousins und Cousinen vom Lande haben ihr Vergnügen daran, dem an Feuerbachs Philosophie orientierten Gastrosophen zu demonstrieren, wie materialistisch und also geistlos er is/sst. „Ich sah mich daher am meisten den Witzen der Tischgenossen ausgesetzt. So hielt mir auch heute ein Knecht einen Schinken her und bat mich, ihm diesen Taubenflügel zu zerlegen, da ich so geschickt hierin sei; ein anderer hielt mich für vortrefflich geeignet, den Rückgrat einer Bratwurst zu benagen“. Heinrichs Verlegenheit wird nicht geringer, als er tischöffentlich aufgefordert wird, „als angeblicher Galan [s]eine Schöne zu bedienen […] [und] ihr ein Gericht vorzuhalten“. Er, der schlicht und einfach ein rustikales Gericht genießen möchte, muss erfahren, dass alle Tischgenossen ihm zu Gerichte sitzen. Damit aber ist der Doppeldeutigkeiten noch kein Ende gesetzt. Das abgründige Gericht strebt nämlich seinem Höhepunkt zu, als der Onkel ihn auffordert, seiner Base Anna auf die rechte Weise „einen Hechtkopf auseinanderzulegen und ihr die Symbole des Leidens Christi zu zeigen, welche darin enthalten sein sollten“.
Aus(einander)legen: Wer heute einen Fasan, einen Karpfen, eine Gans, einen Pilz, ein Schalentier oder eben einen Hechtkopf auseinanderlegt, begreift sein buchstäblich dekonstruktives Tun kaum mehr als Auslegung einer Textur des Lebendigen, die sich an der Schnittstelle von Sein und Nichtsein zu lesen gibt. Auflesen – lesen – legere; Auserlesenes auseinanderlegen – auslegen: Wir haben (mit dem Protagonisten von Gottfried Kellers Roman) einfach vergessen, wie bedeutend Gerichte sein können. Unsere Tischgespräche sind, wenn sie überhaupt noch diesen Namen verdienen, nicht länger die subscriptio zu den Emblemen, die uns auf dem Teller vorliegen. Das Menu mag noch so erlesen, der Koch noch so geistreich, das Ambiente des Restaurants noch so luxuriös sein – wir essen buchstäblich geist- und bedeutungslos. Selbst wenn Gutes angerichtet ist, spüren wir weder die beglückende Leichtigkeit des Seins noch das bedeutsame Gewicht der Welt.
Auch der zu Gericht sitzende Grüne Heinrich erweist sich als ein Heide. Ihm mag zwar noch geläufig sein, dass der Fisch ein altes Christus-Symbol ist, weil er auf das Wasser als Taufelement verweist und weil im griechischen Wort für „Fisch“ – ichthys die Anfangsbuchstaben von „Iesous Christos Theou H/YirosSoretos“ (Jesus Christus Gottes Sohn der Erlöser) versiegelt sind. Dass aber spezifisch der Hecht auf Christus verweist, weil er „die Leidenswerkzeuge des Heilands in seinem Kopfe allegorisiert: Kreuz, Leiter, Hammer, Nagel, Zange, Geißel, Schwamm“[2], und dass (nach einer alten Volkssage) seine Verfolger den Gottessohn, als er das schwere Kreuz trug, durch einen Bach trieben und sich dabei die Leidenswerkzeuge im Kopf dieses Fisches nachbildeten – als das ist dem Grünen Heinrich nicht mehr gegenwärtig. „Allein ich hatte diesen Kopf unbesehens gegessen, obschon man früher davon gesprochen, und stellte mich nun zugleich als einen unwissenden Heiden dar; darüber ärgerlich, ergriff ich mit der Faust den mittlerweile entblößten Schinkenknochen, hielt ihn der Anna unter die Augen und sagte, hier wäre noch ein heiliger Nagel vom Kreuze“.
Es ist schon ein Kreuz. Mit dem „Geist der Küche“ gerät nämlich auch die „Küche des Geistes“ in eine Krise. Wer die Küche und den Tisch nicht mehr als den geistig-sakralen Ort begreift, an dem Physis und Bedeutsamkeit sich begegnen, is/sst gerade in postreligiösen Zeiten dümmer als er müsste. Heinrich, der nicht umsonst mit Goethes Faust den Vornamen teilt, beantwortet die Gretchenfrage, wie er es mit der geistlichen Komponente des Essens halte, immerhin geistreich und geistesgegen-wärtig. Dennoch ist man in Kellers Prosa selbst dann, wenn man ihr Protagonist ist, nicht ungestraft Atheist und Feuerbach-Anhänger. Wer die Freude des Daseins festlich genießen will, dem wäre doch eher zu Hecht als zu Schinken und eher zu altem als zu neuem Wein zu raten. Mit dem Wissen, dass der Mensch ist, was er isst, ist die Frage nach der Bedeutsamkeit des Gerichtes nicht mehr hinreichend zu beantworten.
Heinrichs barsche Schinkenknochen-Antwort auf die geistig-geistliche Hechtkopf-Frage ist nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit Brot und Wein recht zu verstehen. Mit den Abendmahl-sakramenten steht der Grüne Heinrich auf Kriegsfuß. Ein wenig Esspapier und ein kleiner weinhaltiger Symbolschluck sind ihm einfach nicht genug. Doch sie versprechen Ungeheures: Bedeutsamkeit sinnlich erfahrbar zu machen. Nicht umsonst ist der Mund das seltsame Organ, das (um ganz unempathisch zu formulieren) funktional überlastet ist. Dient der Mund doch zum Essen und zum Trinken, zum Sprechen und zum Atmen, zum Beißen und zum Küssen. Der Mund ist also ein bedeutender Abgrund. Eine Küche, die sich der abgründigen Nähe von Essen und Bedeutsamkeit nicht bewusst ist, ist von allen guten Geistern verlassen.
[1] Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Hrsg. von Thomas Brüning und Gerhard Kaiser. Frankfurt am Main 1985, S. 340ff.
[2] Dähnhardt, Oskar (1909): Natursagen. Bd. 2. Leipzig/Berlin, S. 227 (zit. im Stellenkommentar der genannten Ausgabe des Grünen Heinrich, S. 1155).
Jennifer Zimmermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Bildung für Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft an der Technischen Universität Berlin sowie der Vernetzungsstelle Kita- und Schulverpflegung Berlin e.V. Nach ihrer Promotion in Germanistischer Literatur- und Medienwissenschaft über Schamdiskurse im Erzählwerk von Günter Grass an der Universität Mannheim, arbeitet sie maßgeblich im Themenfeld Professionalisierung der Lehrkräftebildung im Berliner Raum und im Bereich Ernährungs- und Verbraucher:innenbildung.