Warum Ernährung politisch ist. Ethik, Politik und Ernährungskultur

Von Franz-Theo Gottwald (Berlin)


„Essen ist politisch!“ – Diese Aussage des Slow Food-Gründers Carlo Petrini bringt auf den Punkt, dass es trotz aller wirtschaftlich-technologischen Bemühungen und Produktivitätssteigerungen auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen der Welt seit dem 2. Weltkrieg noch nicht gelungen ist, Hunger zu beenden. Im Gegenteil: Hunger nimmt wieder zu. Deshalb müssen die Machtverhältnisse, die mit der Ernährungssicherung einhergehen, verstärkt reflektiert werden. Und dies ist nicht zuletzt eine ethische Frage.

Ein wesentlicher Grund für Mangelernährung, Hunger oder auch die vielen Todesfälle angesichts von Unterernährung, liegt in dem politischen Versagen, weltweit gerechte Zugänge zu Boden, Lebensmitteln und sauberem Wasser zu organisieren. Die Bekämpfung des Hungers ist nicht eine Frage weiterer Mehrproduktion von Lebensmitteln, sondern vielmehr der politischen Neuorganisation von sozialverträglichen und ökologisch tragfähigen Lösungen. Dabei müssen die Nach-Ernte-Verluste genauso politisch in den Fokus genommen werden wie auch die weltweite Lebensmittelverschwendung. Da sich hierzu wahrscheinlich keine Märkte organisieren lassen, also ein klassisches wirtschaftliches Verfahren zur Lösung von Problemen genutzt werden kann, ist Politik gefordert.

Politik wird immer dann gebraucht, wenn unterschiedliche Interessen gesellschaftlich koordiniert werden müssen. Das heißt für die Hungerbekämpfung sogar, dass Politiken weltgesellschaftlich abgestimmt werden müssen. Offenbar gibt es weder einen kulturell fundierten (beispielsweise durch religiöse Normen geregelten), noch marktlichen Mechanismus, um den zu Hunger, Mangel- und Fehlernährung führenden Herausforderungen in fast jeder Nation auf dem Globus angemessen zu begegnen. Mehr noch, es gibt erhebliche Konflikte rund um Landnutzung, Lebensmittel und Frischwasserversorgung, die – nicht nur in demokratisch verfassten Gesellschaften – mit rechtlichen Mitteln, also mittels Gesetze, Verordnungen, oder mit politisch gesetzten Anreizen, etc. – neu zu organisieren sind.

Konfliktfelder

Um nur drei der vielen wesentlichen Konfliktfelder hervorzuheben:

  • Damit die perspektivisch noch zur Verfügung stehenden fruchtbaren Böden weltweit nicht in einer weiteren „Logik der Vernichtung“ beschädigt und unfruchtbar gemacht werden, braucht es entsprechende Bodenpolitiken. Diese können unterschiedlicher Natur sein: sie können Schutzregime bedeuten, die zur Regeneration beitragen; sie können die Förderung regenerativer Landwirtschaft beinhalten; sie können Anreizpolitiken sein, um agrarökologische Maßnahmen zum Bodenerhalt vorzunehmen und schließlich auch Verordnungen bedeuten, die dazu taugen, den Humusaufbau weltweit zu fördern.
  • Ein zweites Beispiel für Konflikte, die idealerweise nur mit politischen, rechtlich legalen Mitteln gelöst werden sollten, bezieht sich auf die zunehmenden Flächen- und Nahrungskonkurrenzen, die ihrerseits häufig verfehlter Agrarpolitik zuzuschreiben sind. So werden beispielsweise Energiepflanzen und Futtermittel dort angebaut, wo eigentlich Nahrungsmittel für die Menschen wachsen sollten. Der weltweite industriepolitische Wandel zu Bioökonomie (Gottwald, Krätzer, Irrweg Bioökonomie, Kritik an einem totalitären Ansatz. Suhrkamp 2014) wird, wie schon jetzt deutlich sichtbar, diese Konkurrenzen verstärken. Wenn aus Pflanzen Nahrungsmittel für die Menschen, Futtermittel für die Tiere, Energieerzeuger, Faserrohstofferzeuger für verschiedenste industrielle Verwendungen und Sport- und Spielgeräte gemacht werden sollen, dann kann dies, zumindest so lange Pflanzen bodengebunden wachsen, nur gut ausgehen, wenn es nicht bei Lippenbekenntnissen à la „Food First!“ bleibt.
  • Ein drittes Konfliktfeld liegt in der Patentierung von Zucht- und Saatgut sowie auch von Bestandteilen und Verfahren von Lebensmitteln und zur Lebensmittelerzeugung, die gentechnisch verändert sind. Zugänge zum Wissensfortschritt, Nachbaurechte, Patentrechte müssen angesichts des beschleunigten Wissensfortschritts in der Biotechnologie so geregelt werden, dass eine bäuerliche Zucht im Pflanzenbau und in der Tierhaltung möglich bleibt. Ferner braucht es Koexistenz-Regelungen, die wiederum nur politisch zu organisieren sind, damit die verschiedenen sich bewährenden Verfahren agrarökologischer Art neben systemischen Industrielösungen (Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel aus einer Hand z.B.) weiterhin für eine Vielfalt von Lebensmitteln sorgen können, die die Wahlfreiheit der Verbraucher*innen nicht einschränkt.

Welche Maßstäbe für eine politisch anzustrebende größere Nachhaltigkeit der Ernährung – von Produktion bis Konsum – gibt es?

In wissensbasierten, demokratischen Gesellschaften braucht es selbstverständlich ethisch fundierte oder anschlussfähige Maßstäbe, von denen her sich politische Regelungen als gesellschaftlich gut begründbar durchsetzen lassen.

Einer dieser Maßstäbe ist durch die vielfältige Arbeit an den sogenannten planetaren Grenzen durch Steffen, Rockström und andere gegeben. Agrarische Urproduktion von Nahrungsmitteln, Futtermitteln, etc. hängt von Stickstoff und Phosphor ab. Hier sind die planetaren Grenzen überschritten. Daraus folgt als moralisches Gebot für die Politik eine regulative Aufgabe. Diese könnte beispielsweise dadurch ergriffen werden, dass Stickstoff-Überschüsse durch gezielte Lenkungsmaßnahmen Schritt für Schritt verringert werden und perspektivisch in Gänze vermieden werden.

Hinsichtlich der Rezyklierung von Phosphor sind durch vorausschauende Forschungspolitiken schon eine Reihe von Projekten am Laufen. Allerdings scheint es, weltweit gesehen, noch erhebliche Anstrengungen zu brauchen, um beispielsweise aus Systemen der städtischen Wasserentsorgung Phosphor wieder zu regenerieren.

Aber auch mit Blick auf das ethische fragwürdige, durch menschliches Handeln ausgelöste weltweite Artensterben bedarf es einer nationalen und internationalen Biodiversitätspolitik, um den Artenschutz und die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Arten zu fördern und eine möglichst vielfältige Grundlage für verschiedenen Nahrungsketten zu erhalten, zum Beispiel durch Förderpraktiken, die eine standortangepasste Landwirtschaft ermöglichen.

Es gibt noch einen zweiten belastbaren Maßstab für Nachhaltigkeitspolitiken rund um Essen und Trinken. Dieser bezieht sich auf den Treibhausgasausstoß (CO2-Äquivalente pro Kopf oder Produkt bzw. Dienstleistung). So kann man beispielsweise für Deutschland sagen, dass, nur von der Konsumentenseite aus betrachtet, die Ernährung wenigstens 13 Prozent zum Treibhausgasausstoß, gemessen in CO2-Äquivalenten, beiträgt. Dieser Maßstab wäre aber auch für die Produktion geeignet. Politiken, die dazu führen, Schritt für Schritt in eine CO2-neutrale Agrar- und Ernährungswirtschaft zu investieren, sind dringend geboten, um die Klimaziele zu erreichen. Konsumseitige Politiken könnten darauf abzielen, die CO2-intensiven Lebensmittel mit einem entsprechenden Mehrwertaufschlag zu verteuern und CO2-arme Lebensmittel mit Abschlägen zu vergünstigen. Nur allein wenn man bedenkt, dass Rindfleisch, bevor es auf dem Teller liegt, in Gramm pro Kilogramm Lebensmittel CO2-Emissionen in Höhe von 13.300 verursacht, Milch dagegen nur 550 g/Kilogramm, dann müssen entsprechende Maßnahmen nicht bedeuten, Produkte tierischen Ursprungs insgesamt zu verteuern, sondern es kann ein differenziertes Konsumsteuerungsregime durchgesetzt werden.

Dies bedeutet, dass es auch in liberal sich verstehenden Gesellschaften angesichts des Klimawandels an der Zeit ist, mit politischen Aufklärungs- und Bildungskampagnen den Konsum von klimaschädlichen Produkten so zu moralisieren, dass er einen speziellen Rechtfertigungsbedarf seitens der Verbraucher*innen mit sich bringt. Sobald der Rechtfertigungsbedarf gesellschaftlich etabliert ist, wird insgesamt bewusster gegessen und getrunken werden.

Da es gute Gründe gibt, ernährungsphysiologisch nicht auf Produkte tierischen Ursprungs zu verzichten, werden Aufklärungs- und Bewusstseinsbildungs-Kampagnen zumindest dazu führen, den je eigenen Bedarf auf Haushaltsebene bewusster zu gestalten. Kommt dazu noch eine Konsumlenkungssteuer, dann wird in Zukunft umso mehr seitens der Konsument*innen darauf geachtet werden, was sie wirklich an Produkten tierischen Ursprungs zu ihrem gesundheitlichen Wohlergehen und zu ihrer Leistungsfähigkeit benötigen. Für soziale Distinktionen durch einen erhöhten Anteil von Produkten tierischen Ursprungs im Tagesbedarf, sollte es in aufgeklärten Gesellschaften sowieso zunehmend weniger Notwendigkeit geben.

Gestaltung am Beispiel der Tierwohlpolitik

Es besteht breiter Konsens, zumindest in Deutschland, darüber, dass Produkte tierischen Ursprungs aus Erzeugungszusammenhängen stammen sollten, in denen das Tierwohl eine besondere Rolle spielt. So zeigt beispielsweise eine Studie der Fachzentrale Bundesverband aus dem Jahr 2015, dass für etwa zwei Drittel der befragten Verbraucher*innen Tierschutz wichtig ist und nur für gut 13 Prozent der Befragten bedeutungslos. In der gleichen Studie fordern 73,1 Prozent der Befragten, dass die Politik mehr für den Tierschutz tun soll.

Einmal abgesehen davon, dass Verbraucherwunsch und Kaufverhalten, also das wirkliche Erwerben und Konsumieren von möglicherweise teureren Produkten aus tiergerechterer Erzeugung, bekanntermaßen auseinander gehen, bemühen sich angesichts dieses Trends sowohl zivilgesellschaftliche Organisationen (z.B. der Deutsche Tierschutzbund mit seinem Labelprogramm), als auch Unternehmen des Lebensmittelhandels (Lidl, Aldi, Edeka, Rewe und andere), genauso wie die in der Initiative Tierwohl gebündelten Interessen entlang der Wertschöpfungskette Fleisch darum,  diesem Verbraucherwunsch gerecht zu werden.

Vom Platz, über das Futter, die Tierschutzfortbildung, den Transport, bis hin zur Schlachtung, sind Verbesserungen so zu gestalten, dass es nicht zu ethische fragwürdigen Handlungen kommt. Und das für Geflügel, Schwein und Rind.

Von daher wundert es nicht, dass die Tierhaltung in Deutschland nach wie vor vielfältig in der Kritik ist. Diese macht sich zum einen an der Frage fest, ob die neuen Standards und ihre Überprüfung freiwillig und marktlich zu erringen organisieren sein sollten, oder ob es eine rechtliche Verpflichtung auf einen deutlich angehobenen Tierwohlstandard in Deutschland geben muss.Sie macht sich aber auch daran fest, für was es in Zukunft staatliche Investitionsbeihilfen, z.B. im Stallbau, geben soll; oder aber auch für welche Verbesserungen in der Tierhaltung insgesamt, wieviel eigentlich an Zahlungen in Euro an die Erzeuger gehen sollte. Schließlich wird kritisiert, dass ein etabliertes System der Auszeichnung von verbesserter Tierhaltung, wie es in der Eierkennzeichnung in Deutschland etabliert ist, nicht genutzt wird und damit die Verbraucher*innen einmal mehr herausgefordert sind, sich selbständig zu informieren, um ein eigenes Urteil zu bilden.

Ernährungskultur – warum Transformationen in Richtung nachhaltigen Essens und Trinkens nur langsam gelingen werden

Keine Agrar- und Ernährungspolitik und natürlich auch keine Tierschutzpolitik kann wirklich greifen, wenn es keinen Konsumwandel bei den Konsument*innen gibt. Dieser Wandel findet nur langsam statt. Zu beobachten ist eine Veränderung der Ernährungskultur über die letzten Jahrzehnte hinsichtlich verstärkten Setzens auf Convenience (Bequemlichkeit, vorgefertigte, ready-to-eat / drink Produkte). Zwar ist das vorherrschende Ideal nach wie vor darauf ausgerichtet, gemeinsame Mahlzeiten, die geregelt ablaufen, als kleine stabilisierende Alltagsrituale auf Familienebene zu organisieren. Angesichts der Vielfalt von Single-Haushalten (in einigen urbanen Umwelten bis zu 50 Prozent!) und angesichts der verschiedenen Arbeits- und Tätigkeitsrhythmen in den Familien, die kaum ein koordiniertes Tagesgeschehen ermöglichen, bleibt es aber eher ein Ideal. Die Realität zeichnet sich durch zunehmenden Einkauf und Konsum von „Essen-ist-fertig-Produkten“ aus, die dann auch ihrerseits häufig im Gehen oder Stehen gegessen und getrunken werden. Der allgemeine Trend der Beschleunigung hat auch die Ernährungskultur erreicht.

Zwar gibt es zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Slow Food oder Institutionen wie die sogenannten White Dinner, die hier zumindest punktuell entgegenhalten helfen. Sie schaffen unter anderem ein neues Bewusstsein für die moralische und auch für die politische Dimension von Essen und Trinken. Aber ähnlich wie bei den Ernährungsstilen der Flexitarier heißt dieses punktuelle Entgegenhalten, dass nur zu bewusst ausgewählten Zeiten und Orten z.B. gemeinsam gekocht wird und beispielsweise einmal in der Woche ein ritualisiertes Mahl in der Familie oder mit Freunden stattfindet.

Ein weiterer Beitrag zur langsamen Veränderung der seit dem 2. Weltkrieg sich in vielen Gesellschaften herauskristallisierenden Ernährungskultur ist die Wiederbesinnung auf biologische und regionale Lebensmittel. Es bilden sich zunehmend regional neue Partnerschaften zwischen Stadt und Land, zwischen Produzenten und Verbrauchern, die auf eine Zukunft verweisen, in der das soziale Miteinander in neuer Form prägend für die Ernährungskultur werden wird. Erste Beispiele einer gemeinschaftsgestützten Landwirtschaft oder von Landwirtschafts-Gemeinschaftshöfen, Wirtschafts- und Versorgungsgemeinschaften oder Solidarhöfen zeigen die Attraktivität, aber auch die Schwierigkeiten der Produktions- und Konsumwende rund um Essen und Trinken an (siehe Rützler, Food Report 2020).

Um bio und regional nachhaltig und zukunftsfähig weiterzuentwickeln, braucht es ein neues Denken in räumlichen Zusammenhängen. Es kann, um die Vielfalt und Menge urbaner Teil-Gesellschaften nachhaltig zu ernähren, nicht nur darum gehen, wie viele Kilometer (food miles) ein Produkt mit sich bringt. Vielmehr bedarf es rund um Essen und Trinken einer Lebensstil-Debatte, bei der die soziale Nähe der entscheidende Gesichtspunkt des Ernährungsverhaltens wird. Bio und regional sind Merkmale eines neuen Lebensstils, der sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens zunehmend auswirken wird. Gerade dadurch wird er Kultur schaffen. Bio und regional ordnen sich zukünftig zivilgesellschaftlich verstärkt neu durch soziale Teilhabeprozesse an regionalen Knotenpunkten, durch ein Miteinander von Erzeugern, Verarbeitern, Vermarktern und Verzehrern, die alle gemeinsam eine Vision sozioökonomischer Biotope teilen, um auf diese Weise das sogenannte gute Leben, auf das Kultur auch immer abzielt, für sich zu genießen und gesellschaftlich zu befördern. Eine derartige Entwicklung könnte als moralischer Fortschritt gedeutet werden.

Politik ist im Feld der Kultur und insbesondere der Regelung von Ernährungskulturen oder des Lebensstils eher sekundär. Sie läuft nach anderen zeitökologischen Maßstäben ab (in der Regel Legislaturperioden). Ernährungskulturelle Änderungen sind jedoch langwellig. Sie können allerdings durch Maßnahmen der politischen Kommunikation über Ernährung definitiv in Richtung Nachhaltigkeit befördert werden oder durch verstärkt politisch gewollte Organisation von Beschaffung, z.B. für von der öffentlichen Hand betriebene Kantinen und Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung, oder durch ein gutes Miteinander in Projekten der Public-Private-Partnerships zur Stimulierung nachhaltiger System-Gastronomien. Gerade an diesen Orten kann zunehmend eine Bewusstseinsarbeit geleistet werden, um Lebensmitteln als moralischen und politischen Produkten einen neuen Wert zu geben.


Franz-Theo Gottwald, Dr.phil., Dipl.Theol., Hon.Prof. für Umweltethik am Albrecht Daniel Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin; leitend tätig in Stiftungs- und Vereinsvorständen für Agrar- und Ernährungsthemen. Unternehmens- und Politikberater. Email: info@cocreatio.de


Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Artikels, der erstmals 2019 erschien; in: Nachhaltige Ernährung – Beiträge von Kirche und Diakonie zur Ernährungswende. 2. Nachhaltigkeitsforum der EKD, Evangelische Akademie Bad Boll, 9. bis 10. September 2019; Dokumentation 45, Evangelischer Pressedienst.