Gerechtigkeit quo vadis? Die Suche nach Planetaren Grenzen & nach der ‚Natur‘ in Gerechtigkeitstheorien
Von Anna Wienhues (Zürich)
Es gibt jene Bücher, die wir lieben, und es gibt solche Bücher, welche uns prägen. Ein Buch, welches dazu beigetragen hat, dass ich mich jetzt ein Jahrzehnt nach dessen Lektüre mit Umweltphilosophie beschäftige, hat keinen philosophischen Anspruch. Das war der Bericht die Grenzen des Wachstums von 1972bzw. dessen Fortsetzung als Limits to Growth: The 30-Year Update von Donella Meadows und Kollegen (2004) des Club of Rome.
Damals schrieb ich einen Aufsatz über diesen Bericht für mein Studium der Politikwissenschaften und ich kann mich heute noch gut daran erinnern, wie mich dessen Lektüre fasziniert hat. Mit einer Neigung zur Theorie anstatt der Praxis führte mich mein eigener akademischer Weg danach immer weiter in die Umweltethik hinein. Ein Weg, der schon durch meinen umweltinteressierten Vater geprägt war. Nach dessen Tod erzählte mir mein Onkel, dass ihm mein Vater schon als Jugendlicher von den Grenzen des Wachstums und dem Club of Rome erzählt hatte. Also schon wieder dieses Buch.
Planetare Grenzen
Die politischen Debatten und Konflikte, welche wir heute bezüglich Umweltfragen beobachten können, sind durch ein Narrativ geprägt, zu dem auch dieses Buch gehört. Die Basis dieses Berichts ist die Beschreibung eines Computermodells, das unterschiedliche Szenarien darstellen kann. Die These: Wachstum – d. h. zum Beispiel im Sinne eines immer höheren Ressourcenverbrauches – stößt an ökologische Grenzen. Für die Gesellschaften dieser hypothetischen Modellszenarien führt dies zu Problemen („overshoot“ und „collapse“ als Stichwörter), wenn die prognostizierten Konsequenzen unterschiedlicher simulierter Entwicklungen zum Tragen kommen.
Obwohl das Modell, auf dem dieser Bericht basiert, mehr als Veranschaulichung bestimmter Annahmen als eine empirische Studie über real-existierende Zusammenhänge verstanden werden sollte, ist dies dennoch mit der Annahme verbunden, dass die im Bericht beschriebenen Zusammenhänge sich mit den in der realen Welt abspielenden Prozessen – wenngleich nicht identisch – ähneln. All dies sowie auch das Narrativ selbst, das hiermit geformt wird, kann kritisch diskutiert werden. Aber darauf möchte ich hier nicht hinaus.
Worauf ich hinaus will, ist, dass die Grenzen des Wachstums sowie auch viele andere Publikationen (siehe z. B. die berühmten „planetary boundaries“, Rockström et al. 2009) unterschiedliche Konzeptionen von Endlichkeit, Limitationen, Grenzen und Knappheit mit ihren zugehörigen Problemstellungen einführt haben, was wiederum in einem Kontrast mit dem philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs steht, welcher ganz eigene Problemstellungen und Ziele im Blick hat.
Was ich spannend finde, ist, dass sehr einflussreiche Theorien der (distributiven) Gerechtigkeit wie jene von John Rawls (1971), welche in einem ähnlichen Zeitraum und auch an Universitäten in den Vereinigten Staaten entstanden, die Thematiken des Club of Rome Berichts nicht aufgreifen. Im Gegenteil. Die Umwelt, die Natur sind einfach da – als nützlicher Hintergrund, vor dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stattfinden. Aber wie sieht Gerechtigkeit aus in einer Welt – nicht wie wir uns diese Welt wünschen – sondern wie wir sie vorfinden mit ihren Limitierungen?
Hierbei geht es nicht darum, bestimmte wirtschaftliche Vorstellungen des Umweltdiskurses (wie z. B. degrowth) für Gerechtigkeitsüberlegungen vorauszusetzen, sondern viel allgemeiner darum, politische Philosophie in einem realistischen Kontext zu denken, in dem es durchaus möglich ist, dass es manchmal an wichtigen und wünschenswerten Gütern fehlt, welche aus natürlichen Ressourcen gewonnen werden, oder dass Ökosysteme wichtige Funktionen nur zu einem gewissen Grad ausführen können, wenn diese überbeansprucht werden. Was wir meines Erachtens brauchen, ist ein allgemeines Verständnis von planetaren Grenzen in Theorien der Gerechtigkeit.
Politische Philosophie gewinnt ein andere Perspektive, wenn angenommen wird, dass Umwelt und Politik eng verwoben sind, und das ist der Trend, welchen wir in den letzten Jahren beobachten können. Dabei gibt es meiner Ansicht nach grob gesehen zwei überlappende Tendenzen bezüglich theoretischer Überlegungen zur Gerechtigkeit (Nuancen lasse ich zugunsten von Klarheit, Kürze und etwas Überspitzung beiseite).
Zwei Trends innerhalb des Gerechtigkeitsdiskurses
Einerseits gibt es immer mehr Literatur der politischen Philosophie, welche die Natur – oder Teile dessen – in das Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen stellt. Entweder als ‚das Problem‘, wie wir es in der Klimagerechtigkeitsliteratur sehen, oder als ‚das Subjekt‘ (als Entitäten mit moralischem Status mit Gerechtigkeitsansprüchen), wie wir es im political turn (Milligan 2015) der Tier-und Umweltethik sehen können.
Was hier manchmal fehlt – hauptsächlich im Fall der letzteren Gruppe von Werken des political turns – ist ein durchdachter theoretischer Austausch zwischen einerseits den Subjekten mit Rechten, Interessen, Fähigkeiten, Notwendigkeiten und Wünschen und andererseits einer Theorie der ökologischen Grenzen. Häufig wird das theoretische Erbe der jeweiligen Bereichsethik weitergeführt, indem solche Grenzen entweder nicht beachtet werden, weil sie auf einer anderen theoretischen Ebene existieren, oder angenommen wird, dass diese Grenzen genug Raum bieten, dass jeglichen substanziellen Konflikten aus dem Weg gegangen werden kann. Aber zwischen diesen beiden theoretischen Polen – den Subjekten und den planetaren Grenzen – eröffnet sich das relevante Spannungsfeld, in dem meiner Ansicht nach Gerechtigkeitstheorien, welche auch ökologisch überzeugend sein wollen, agieren müssen.
Obwohl die ‚Natur‘ in das Zentrum von Theorien der Klimagerechtigkeit oder zwischenartlichen Gerechtigkeit gestellt wird, ist es erstaunlich häufig der Fall, dass die nicht-endlose, sehr konkrete und wenig abstrakte ‚Natur‘ im Sinne von physisch existierenden Lebewesen, Objekten und Orten; im Sinne der materiellen Grundlage menschlichen Lebens; und im Sinne von ökologischen, biologischen, chemischen und physikalischen Prozessen nicht vorkommt.
Zum Beispiel befassen sich klimaethische Ansätze nicht ausschließlich, aber dennoch häufig damit, wer für die Eindämmung des Klimawandels aufkommen soll („the burden-sharing question“ mit den berühmten „polluter pays principle“, „beneficiary pays principle“ und „ability to pay principle“, siehe Caney 2020). Lastenverteilung ist eine wichtige Frage, welche ich nicht herunterspielen möchte oder vermag, insbesondere um der internationalen Dimension des Problems gerecht zu werden. Dennoch besteht dabei das Risiko, dass ein grundlegendes Umweltproblem vorrangig als Problem der gerechten Finanzierung diskutiert wird. Dabei würde der Klimawandel als Phänomen in den Hintergrund geraten, was es meines Erachtens zu vermeiden gilt.
Ein anderes Beispiel nennend, verlangen tierethische Gerechtigkeitstheorien (als prominentes Beispiel siehe Donaldson und Kymlicka 2011) z. B. – basierend auf guten Gründen – nach angemessenem Habitat für wildlebende Tiere, aber liefern häufig keine Handlungsempfehlungen im Falle einer Verknappung an Habitat, welches dieses Ziel untergräbt. Eine Theorie wird allerdings nicht allein dadurch ökologisch, in dem sie einen nicht-anthropozentrischen Ansatz verfolgt. Sie muss u. a. auch über die berühmte Annahme der ‚moderate scarcity‘ – welche zentral in Rawls Theorie ist – hinausgehen. Deswegen ist es sinnvoll, sich mehr Gedanken darüber zu machen, wie wir Grenzen in diesem Kontext verstehen (können/wollen/müssen).
Der zweite Trend, der dies unterstützt, nimmt anstatt der ‚Natur’ selbst eher die Grenzen an sich in seinen theoretischen Fokus. Hier würde ich eine Reihe von Ansätzen zuordnen, die Nachhaltigkeit und Suffizienz selbst in das Zentrum gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen stellen (siehe u. a. Spengler 2016). Diese Perspektiven sind ‚materieller‘ in ihrer Ausrichtung, indem sie Grenzen anerkennen, aber sie sind häufig auch äußerst anthropozentrisch ausgerichtet. Dadurch werden Grenzen zwar auf unterschiedlichste Weise dargestellt, aber die ‚Natur‘ bleibt hier wiederum Objekt und stellt kein Subjekt der Gerechtigkeitstheorie dar.
Aber ich sprach auch von überlappenden Tendenzen. In der Überschneidung der zwei beschriebenen Trends liegen vielversprechende Entwicklungen. Einerseits finden wir z. B. immer mehr theoretische Ansätze, welche nicht-menschliche Lebewesen als Subjekte und nicht nur als Objekte von Theorien der Nachhaltigkeit bzw. nachhaltigen Entwicklung verstehen (siehe Bossert 2022, Bourban 2022, Rupprecht et al. 2020). Andererseits gibt es auch nicht-anthropozentrische Gerechtigkeitsansätze, welche Limitationen und mögliche Verknappung wichtiger Ressourcen ernst nehmen. Das bedeutet, mit einem Verständnis von Nachhaltigkeit zu beginnen – als Teil des Denkrahmens der Gerechtigkeit – und dieses nicht nachträglich einbringen zu müssen, wenn die Theorie unausweichlich an Grenzen stößt. Aus einer biozentrischen Perspektive habe ich selbst diese zweite Route genommen, um eine Theorie der zwischenartlichen Gerechtigkeit auszuarbeiten, welche an unterschiedliche Knappheitskontexte angepasst ist (siehe Wienhues 2020).
Fazit
Eine Interpretation planetarer Grenzen im Sinne der Nachhaltigkeit ist noch nicht der gängige Startpunkt, um über Gerechtigkeit in der liberalen Tradition nachzudenken, auch wenn es darum geht, den Gerechtigkeitsbegriff nicht-anthropozentrisch zu verstehen. Dennoch ist dies genau das, wo wir beginnen sollten.
Um dem Anspruch gerecht zu werden, realistisch anstatt utopisch zu sein (also was Rawls eine ‚realistic Utopia‘ nennt), müssen Gerechtigkeitstheorien u. a. ökologisch informiert sein und das wiederum bedingt eine Konzeption von planetaren Grenzen. Anderseits besteht auch die Gefahr, dass dieses Bild von Grenzen instrumentalisiert wird, um aus sogenannten Sachzwangargumenten oder Übereifrigkeit heraus Gerechtigkeitsansprüche zu delegitimieren. Deswegen ist es nicht nur der Fall, dass Gerechtigkeitstheorien ökologisch informiert sein müssen, sondern es ist ebenso wichtig, dass Leitbilder des Umweltdiskurses auf einem theoretisch schlüssigen Gerechtigkeitsfundament stehen, damit das Individuum als Subjekt gewürdigt und nicht im Kontext einer Reihe von Problemen mit globalem Ausmaß vergessen wird. Dazu kann wiederum die politische Philosophie beitragen.
Literatur
Bossert, Leonie. 2022. Gemeinsame Zukunft für Mensch und Tier: Tiere in der Nachhaltigen Entwicklung. Baden-Baden: Karl Alber.
Bourban, Michel. 2022. ‘Strong Sustainability Ethics’. Environmental Ethics (Online First).
Caney, Simon. 2020. ‘Climate Justice’, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = <https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/justice-climate/>.
Donaldson, Sue und Will Kymlicka. 2011. Zoopolis: A Political Theory of Animal Rights. Oxford: Oxford University Press.
Meadows, Donella, Jørgen Randers und Dennis Meadows. 2004. Limits to Growth: The 30-Year Update. London: Earthscan.
Milligan, Tony. 2015. ‘The Political Turn in Animal Rights’. Politics and Animals 1 (1): 6–15.
Rawls, John. 1971. A Theory of Justice. Revised Edition. Cambridge, Mass.: Belknap Press.
Rockström, Johan, Will Steffen, Kevin Noone, Åsa Persson, F. Stuart Chapin, Eric F. Lambin, Timothy M. Lenton, Marten Scheffer, Carl Folke und Hans Joachim Schellnhuber. 2009. ‘A Safe Operating Space for Humanity’. Nature 461 (7263): 472–75.
Rupprecht, Christoph D. D., Joost Vervoort, Chris Berthelsen, Astrid Mangnus, Natalie Osborne, Kyle Thompson, Andrea Y. F. Urushima, et al. 2020. ‘Multispecies Sustainability’. Global Sustainability 3: e34.
Spengler, Laura. 2016. ‘Two Types of “Enough”: Sufficiency as Minimum and Maximum’. Environmental Politics 25 (5): 921–40.
Wienhues, Anna. 2020. Ecological Justice and the Extinction Crisis: Giving Living Beings Their Due. Bristol: Bristol University Press.
Anna Wienhues ist Postdoktorandin am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und befasst sich mit unterschiedlichen Themen der Umweltethik und politischen Philosophie. Zum Thema der zwischenartlichen Gerechtigkeit hat sie die Monografie Ecological Justice and the Extinction Crisis (BUP 2020) veröffentlicht.