Self-Tracking for Solidarity? – Neue Solidaritäts-Technologien im digitalen Gesundheitswesen

Von Niklas Ellerich-Groppe (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)

Die Digitalisierung aller Lebensbereiche betrifft auch Medizin und Gesundheitsversorgung. Dabei steht mit Solidarität zugleich die wesentliche normative Grundlage des deutschen Gesundheitswesens auf dem Prüfstand. Anhand der Debatte um die Nutzung von Self-Tracking-Technologien diskutiere ich die Bedeutung der Digitalisierung für die Solidarität im deutschen Gesundheitswesen – und zeige auf, wie das Self-Tracking im wahrsten Sinne zur Solidaritäts-Technologie werden kann, wenn die Digitalisierung angemessen verstanden und gestaltet wird.

Als der Versicherer Generali im Jahr 2014 ankündigte, in Zukunft Self-Tracking-Daten der Kund*innen in der Tarifgestaltung von Berufsunfähigkeits- und Risikolebensversicherungen sowie später auch von privaten Krankenversicherungen zu berücksichtigen, löste dies kontroverse öffentliche Debatten aus. Dabei war die Ausgangsidee die folgende: Die Kund*innen teilen die Daten ihrer Fitness-Tracker und Smartwatches über die sogenannte Vitality-Anwendung mit ihrem Versicherer und erhalten im Gegenzug zum einen Tipps zur Gesundheitsprävention, zum anderen Rabatte und Gutscheine, durch die sie ihre Versicherungsbeiträge reduzieren können. Diese Angebote funktionieren damit ähnlich wie die analogen Bonusprogramme, in denen der*die Versicherte etwa Bonuspunkte für den Nachweis einer Mitgliedschaft im Sportverein oder im Fitness-Studio erhält.

Schon in den Debatten über diese Bonusprogramme war viel von Solidarität die Rede. Dasselbe zeigt sich nun wieder: Während die Generali und Befürworter*innen durch die Nutzung der Self-Tracking-Technologien die „toxische[] Seite der Solidarität“ (Fromme 2016) eindämmen und die Solidargemeinschaft entlasten wollen, warnen andere vor individualisierten Versicherungstarifen und einer illegitimen Verantwortungsübertragung oder dem Zerfall der solidarischen Sicherungssysteme. Unabhängig davon, wo man sich in diesen Debatten positioniert, scheint Frank Nullmeiers Diagnose aus dem Jahr 2006, wonach die „Sozialversicherung [als] […] Solidaritätstechnologie, ausgerichtet auf die Bedürfnisse einer industriellen Gesellschaft […] [,] nicht mehr den veränderten Bedingungen [entspricht]“ (Nullmeier 2006, 178) angesichts der fortschreitenden Digitalisierung immer mehr zuzutreffen.

Vor diesem Hintergrund beschäftige ich mich in diesem Blog-Beitrag mit drei Fragen: (I) Inwiefern sind Sozialversicherungen wie die Krankenversicherungen als Solidaritätstechnologien zu verstehen? (II) Inwiefern werden diese durch Self-Tracking-Technologien auf den Prüfstand gestellt? (III) Wie lassen sich Self-Tracking-Technologien auf solidarische Weise nutzen – und wie lässt sich in diesem Zuge die Digitalisierung verstehen?

I. Solidaritätstechnologie Krankenversicherung

Obwohl der Solidaritätsbegriff im deutschsprachigen Raum eine lange sozialethische und -politische Tradition hat und entsprechend häufig bemüht wird, liegen sehr unterschiedliche Ausdeutungen dieses Begriffs vor. Dennoch lassen sich vier wesentliche Begriffselemente identifizieren, die in unterschiedlicher Gewichtung in den meisten Definitionen zu finden sind (Löschke 2015): Danach bedeutet Solidarität, aufgrund einer Identifikation auf Basis einer erkannten Gemeinsamkeit in oder gegenüber einer Gruppe bzw. Person einen Beitrag zu leisten oder Kosten zu tragen (Ellerich-Groppe 2023). Ihre normative Verbindlichkeit erhält Solidarität dabei durch die Bezugnahme auf ein weiteres normatives Prinzip wie Gerechtigkeit; sie ist normativ abhängig (Löschke 2015; Forst 2021).

Die deutschen Sozialversicherungen lassen sich als rechtlich-politische Realisierung von Solidarität verstehen. Im Gegensatz zur spontanen Solidarität soll hier durch die Institutionalisierung und die Art und Weise der Organisation Solidarität verlässlich hergestellt werden (Nullmeier 2006). In diesem Sinne kann auch die Krankenversicherung als eine solche Solidaritätstechnologie gelten. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie in der geteilten Vulnerabilität für Krankheit und Verletzung (Identifikation). Die Mitglieder der Solidargemeinschaft (Gruppe) leisten hier einen (finanziellen) Beitrag, um den Erhalt der Gesundheit und das eigene Wohlergehen abzusichern (normative Abhängigkeit). Wie jedoch die Gruppe konstituiert ist oder sein sollte, welcher Beitrag legitim ist und welches Ziel damit genau verfolgt wird, ist immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Das wird auch in den Debatten um die Nutzung von Self-Tracking-Daten in der Krankenversicherung deutlich.

II. Neue Solidarität oder Entsolidarisierung? – Zur Verwendung von Self-Tracking in der Krankenversicherung

Nimmt man das formale Modell der solidarischen Krankenversicherung als Ausgangspunkt, lassen sich im Kontext von Self-Tracking mit Blick auf alle genannten Elemente Verschiebungen beobachten:

Erstens kann die Verwendung der Fitness- und Self-Tracking-Daten die Beitragsstruktur in der solidarischen Versicherung erheblich verändern. Im Unterschied zu einem finanziellen, weitestgehend proportional zum Einkommen gestaffelten Beitrag werden nämlich bei einer Berücksichtigung der Self-Tracking- und Fitnessdaten auch die Daten selbst bzw. der gesunde Lebensstil beitragsrelevant. Das kann auf der einen Seite Kosten reduzieren und einen effektiveren Mitteleinsatz in der Solidargemeinschaft ermöglichen. Allerdings beruhen Gesundheitsrisiken und bestimmte Lebensstile nicht immer auf bewussten Entscheidungen – und vor allem hat die einzelne Person auf die zugrundeliegenden sozialen und strukturellen Bedingungen nur einen sehr begrenzten Einfluss (Martani et al. 2019). An dieser Stelle setzen Kritiken an, die vor der Einführung verhaltensbasierter Tarife warnen und in diesem Zuge die Debatte über den angemessenen Grad der gesundheitlichen Eigenverantwortung erneuern (Hummel/Braun 2020; vgl. auch Nullmeier 2006).

Zweitens lohnt sich ein Blick auf die Solidaritätsgruppe. Die Erhebung und Übertragung von Self-Tracking-Daten sowie ein entsprechender – gesundheitsbewusster – Lebensstil werden hier zu wesentlichen Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe. Diese kann z.B. von denjenigen nicht erfüllt werden, denen entsprechende digitale Geräte und Kompetenzen fehlen oder die sich aus Datenschutzgründen bewusst gegen eine Datenübermittlung entscheiden. Damit wird hier zugleich das Problem der Exklusivität der solidarischen Krankenversicherung verschärft, das schon vor der Digitalisierung auch mit Blick auf die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen insgesamt regelmäßig diskutiert wurde (Lessenich 2020).

Drittens wird die Identifikationsgrundlage der Krankenversicherung auf den Prüfstand gestellt. Denn wenn für jede*n Versicherte*n differenzierte Daten vorliegen und Risiken abschätzbar sind, kann in den Hintergrund rücken, dass all diese Menschen dennoch eine Vulnerabilität für gesundheitliche Risiken teilen, die sich auch mit den besten Daten nicht vollends abschätzen und planen lassen. Umgekehrt kann eine solche Datenbasis auch dabei helfen, gemeinsame Risiken zu entdecken und zu konkretisieren, die dann wiederum Ausgangspunkt für eine gestärkte Solidarität sein können.

Schließlich ist die normative Abhängigkeit in den Blick zu nehmen. So ist stets zu prüfen, zu welchem Zweck die Self-Tracking-Daten im Rahmen der Solidaritätsgruppe genutzt werden. Hier ist einerseits eine Nutzung zum eigenen individuellen Vorteil oder im Sinne eines ökonomischen Potenzials und als weitere „lohnenswerte Geschäftsidee“ (Nosthoff/Maschewski 2019, 76-77) denkbar, andererseits eine bessere, gerechtere und selbstbestimmtere gesundheitliche Versorgung.

III. Digitalisierungsprozesse produktiv nutzen: Auf dem Weg zu neuen oder tatsächlichen Solidaritäts-Technologien

Die Debatte um die Nutzung von Self-Tracking-Technologien verdeutlicht auf beinahe idealtypische Weise, dass es in Digitalisierungsprozessen in Medizin und Gesundheitsversorgung von der konkreten Ausgestaltung abhängt, welche Konsequenzen die Digitalisierung für die normativen Grundlagen des Gesundheitswesens hat. Dabei lassen sich jedoch die Digitalisierungsprozesse auch produktiv zur Vergegenwärtigung, als Prüfstein und zur Transformation nutzen. Wie dies gerade vor dem Hintergrund der Nutzung von Self-Tracking-Technologien in der solidarischen Krankenversicherung zu verstehen ist, möchte ich abschließend skizzieren.

  1. Digitalisierung als Anlass zur Vergegenwärtigung bestehender Herausforderungen: Wenn etwa die Gefahr eines Ausschlusses bestimmter Gruppen aus der solidarischen Krankenversicherung aufgrund der Nutzung von Self-Tracking-Daten angesprochen wird, wird mit dem Verweis auf diese Exklusivität solidarischer Strukturen ein länger bekanntes und dennoch vernachlässigtes Problem unter anderen Vorzeichen wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die zunehmende Nutzung digitaler Technologien kann in diesem Sinne nicht nur neue Herausforderungen bedeuten, sondern auch eine Vergegenwärtigung oder Aktualisierung bestehender Probleme wie eben das des Ausschlusses bestimmter Personengruppen aus der Solidaritätsgruppe veranlassen. Dies kann und sollte dazu führen, die Debatten zu diesem und weiteren Problemen fortzusetzen und auf politischer Ebene (endlich) eine konstruktive Bearbeitung dieser Herausforderungen anzugehen.
  2. Digitalisierung als Prüfstein normativer Grundlagen: An der Nutzung von Self-Tracking-Technologien wird deutlich, dass mit der Digitalisierung nicht bloß bestimmte Strukturen auf dem Prüfstand stehen, sondern auch deren normative Grundlagen. Vor diesem Hintergrund gilt es kritisch zu prüfen, ob der zugrundeliegende normative Anspruch tatsächlich realisiert wird oder ob sich dieses Ideal noch umfassender verwirklichen lässt. Einen ersten Maßstab, woran sich eine solche Prüfung und in der Folge umfassendere Realisierung mit Blick auf die solidarische Krankenversicherung orientieren kann, habe ich mit vier normativen Kriterien für eine moralisch gehaltvolle Solidarität an anderer Stelle formuliert (Ellerich-Groppe 2021): Während (1) die Solidaritätsoffenheit auf die Offenheit für identifikationsstiftende Gemeinsamkeiten und die Bereitschaft zu einem entsprechenden solidarischen Handeln abhebt, anerkennt die (2) gestaltbare Inklusivität  die grundsätzliche Exklusivität von Solidaritätsgruppen. Sie fordert aber zugleich dazu auf, regelmäßig Potenziale für eine inklusivere Gestaltung der Solidaritätsgruppe und den Abbau entsprechender Barrieren zu prüfen. Die (3) Angemessenheit des Beitrags betont die Notwendigkeit eines verbindlichen, aber nicht unverhältnismäßig verpflichtenden Beitrags, der geeignet ist, um ein moralisch wertvolles Ziel zu realisieren, das in der Solidaritätsgruppe verfolgt wird (4 – moralisch wertvolle normative Abhängigkeit).
  3. Digitalisierung als Anlass zur Transformation gegebener Strukturen: Schließlich kann es fruchtbar sein, die Digitalisierung nicht bloß als Digitalisierung analoger Prozesse und Strukturen zu begreifen, sondern als Möglichkeit zu ihrer grundlegenden Transformation und als Verantwortung zu ihrer Verbesserung. Als Organisationsform für Self-Tracking-Daten könnte in diesem Sinne etwa ein Commons geeignet sein. In einem Commons organisiert eine Gruppe von Menschen (die Commoners) die Bereitstellung, Nutzung und Verwaltung einer bestimmten Ressource im Rahmen selbstbestimmter Praktiken und Institutionen (vgl. etwa De Rosnay/Stalder 2020). Für das Self-Tracking würde dabei gelten: Wer zur bestmöglichen und vor allem selbstbestimmten gesundheitlichen Versorgung aller beitragen will, könnte sich hier freiwillig zusammenschließen, seine Self-Tracking-Daten kontrolliert zur Verfügung stellen, die Verwendungszwecke mitbestimmen – und dadurch in der umfassenderen Realisierung der oben benannten normativen Kriterien zu einer selbstbestimmteren, besseren und eben auch solidarischeren gesundheitlichen Versorgung für alle beitragen.

Wird die Digitalisierung derart produktiv als Anlass zur Vergegenwärtigung bestehender Probleme, zur kritischen Prüfung der normativen Grundlagen und zur Transformation der gegebenen Strukturen begriffen, kann auch das Self-Tracking dazu beitragen, Solidarität verlässlich mit digitalen Mitteln herzustellen – und so im wahrsten Sinne des Wortes Solidaritäts-Technologie werden.


Dieser Blogbeitrag geht zurück auf Überlegungen, die ich erstmals in Ellerich-Groppe 2021 formuliert habe.


Niklas Ellerich-Groppe, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ethik in der Medizin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und im Forschungs- und Entwicklungsbereich Gesundheit des OFFIS – Institut für Informatik in Oldenburg. Er forscht v.a. zur Technologisierung und Digitalisierung von Medizin und Gesundheitsversorgung, insbesondere zu Self-Tracking-Technologien im Gesundheitswesen und Technologien in der (ambulanten) Pflege. Weitere Forschungsschwerpunkte: Diversität im Gesundheitswesen, Theorien des Sozialstaats und politische Philosophie. https://uol.de/medizinethik/mitarbeitende/niklas-ellerich-groppe-ma


Literatur

De Rosnay, Mélanie Dulong, und Felix Stalder. 2020. Digital commons. Internet Policy Review 9(4). https://doi.org/10.14763/2020.4.1530.

Ellerich-Groppe, Niklas. 2021. Zwischen neuer Solidarität und Entsolidarisierung – Der Sozialstaat angesichts des digitalen Wandels. Zeitschrift für Politikwissenschaft. https://doi.org/10.1007/s41358-021-00300-4.

Ellerich-Groppe, Niklas. 2023. „Mit Bluetooth ein Signal der Solidarität senden“? – Eine medizinethische Analyse der öffentlichen Debatte über die Corona-Warn-App. Ethik in der Medizin. https://doi.org/10.1007/s00481-023-00751-z.

Forst, Rainer. 2021. Die noumenale Republik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Fromme, Herbert. 2016. Wer sich bewegt, zahlt weniger. Süddeutsche Zeitung, 23. März 2016. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/versicherung-wer-sich-bewegt-zahlt-weniger-1.2920176.

Hummel, Patrik, und Matthias Braun. 2020. Just data? Solidarity and justice in data-driven medicine. Life Sciences, Society and Policy 16:8. https://doi.org/10.1186/s40504-020-00101-7.

Lessenich, Stephan. 2020. Doppelmoral hält besser: Die Politik mit der Solidarität in der Externalisierungsgesellschaft. Berliner Journal für Soziologie 30:113-130.

Löschke, Jörg. 2015. Solidarität als moralische Arbeitsteilung. Münster: mentis.

Martani, Andrea, David Shaw, und Bernice Simone Elger. 2019. Stay fit or get bit – ethical issues in sharing health data with insurers’ apps. Swiss Medical Weekly 149:w20089. https://doi.org/10.4414/smw.2019.20089.

Nosthoff, Anna-Verena, und Felix Maschewski. 2019. Die Gesellschaft der Wearables. Digitale Verfüh- rung und soziale Kontrolle. Berlin: Nicolai.

Nullmeier, Frank. 2006. Eigenverantwortung, Gerechtigkeit und Solidarität – Konkurrierende Prinzipien der Konstruktion moderner Wohlfahrtsstaaten? WSI Mitteilungen 2006(4):175–180.