Schelling und die guten Gründe


Von Leonard Weiß (London)


Schelling macht es uns nicht leicht – nicht mit den Themen, die er wählt, nicht mit der Sprache, in der er sie formuliert, und ganz bestimmt nicht mit seiner aufdringlichen Attitüde intellektueller Überlegenheit, die bisweilen an die Stelle stichhaltiger Begründungen tritt. Schelling kann selbst einem wohlmeinenden Leser gehörig auf die Nerven gehen. Einer, dem es damit ab einem gewissen Punkt zu viel wurde, ist Hegel. Dieser (aller genannten Laster selbst nicht unverdächtig) stört sich besonders an der Sache mit der intellektuellen Überlegenheit. Freilich, hier macht sich der Bock selbst zum Gärtner. Aber recht hat er trotzdem. Hegel kritisiert vor allem, dass Schelling sich wiederholt geweigert hat, seine Thesen so zu begründen, dass sie unabhängig von vorbestehenden Neigungen und besonderen intellektuellen Vermögen nachvollziehbar sind. Hegelianer wie Robert Stern (2002, 38ff.) oder James Kreines (2015, 241ff.) haben herausgearbeitet, inwiefern Hegels Schellingkritik über den argumentativen Anspruch von Hegels eigener Philosophie Auskunft gibt. Ich möchte im Folgenden einige der dabei diskutierten Passagen zum Anlass nehmen, um über Schellings Verhältnis zu Argument und Begründung nachzudenken.

Tatsächlich hatte Schelling lange behauptet, bestimmte grundlegende Einsichten würden sich nur demjenigen erschließen, der über das Vermögen, der „intellektuellen Anschauung“ verfüge. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, Einwänden gegen seine Ansichten damit zu begegnen, den Kritikern fehle es eben an jener Geistesgabe:

Warum unter dieser Anschauung etwas Mysteriöses – ein besonderer nur von einigen vorgegebener Sinn verstanden worden, davon ist kein Grund anzugeben, als daß manche desselben wirklich entbehren, welches aber ohne Zweifel ebensowenig befremdend ist, als daß sie noch manches anderen Sinns entbehren, dessen Realität ebensowenig in Zweifel gezogen werden kann. (SW III.370)

Damit kann man sich die Kritiker zwar auf Armlänge vom Leibe halten, aber man kann auch nicht mehr sinnvoll mit ihnen sprechen. Denn dafür muss ich mich bemühen, meine Ansicht dem Anderen so verständlich zu machen, dass er sie selbst und ergebnisoffen beurteilen kann. Und in diesem Sinne schreibt Hegel:

Man will, wenn man philosophiert, daß es so ist, bewiesen haben. Wird aber mit der intellektuellen Anschauung angefangen, so ist das Assertion, Orakel, das man sich gefallen lassen soll, weil die Forderung gemacht ist, daß man intellektuell anschaue. (TWA 20.435 vgl. hierzu auch Kreines 2015, 242)

Denn, wer sich (wie Schelling oben) auf eine nur Wenigen vorbehaltene Einsicht beruft, der macht aus der Philosophie „ein Kunsttalent, Genie, als ob nur Sonntagskinder sie hätten. Philosophie aber ist ihrer Natur nach fähig, allgemein zu sein; denn ihr Boden ist das Denken“ (TWA 20.428).

Damit hat Hegel natürlich völlig recht. Und trotzdem haben wir uns wahrscheinlich alle schon einmal wie Schelling verhalten und uns genervt darauf zurückgezogen, die Kritiker verstünden eben nichts von unserer Kunst. Mindestens der inzwischen sprichwörtliche „reviewer 2“ ist und bleibt ein geistloser Pedant, dem es schlichtweg an den Mitteln zur wahren Einsicht mangelt. Akademische Philosophie hat viel von einem Wettbewerb im organisierten Herumkritteln. Das ist heute nicht anders als damals, und die entsprechende psychologische Reaktion ist verständlich. Hegel hat sich freilich selbst ausgiebig an diesem Wettbewerb beteiligt. Gegen Wilhelm Traugott Krug ging es soweit, dass er ihn nicht nur als philosophisch unfähig darstellte, er konnte es sich auch nicht verkneifen, Krugs Sprache mit dem bösartigen Stilmittel der ironischen Interpunktion zu verhöhnen (vgl. TWA 2.189).

Recht hat Hegel mit seinem prinzipiellen Punkt trotzdem: Wir müssen uns zumindest bemühen, unsere Thesen anderen zugänglich zu machen, indem wir sie in allgemein nachvollziehbarer Weise begründen. Tun wir es nicht, können wir schmollen wie Schelling, aber wir können nicht sinnvoll miteinander diskutieren. Hätte Hegel Schellings intellektuellen Weg weiterverfolgt, hätte er gewiss auch an folgenden Worten Anstoß genommen:

Die positive Philosophie ist die eigentlich freie Philosophie; wer sie nicht will, mag sie lassen, ich stelle es jedem frei, ich sage nur, daß wenn einer z.B. den wirklichen Hergang, wenn er eine freie Weltschöpfung u.s.w. will, er dieses alles nur auf dem Wege einer solchen Philosophie haben kann. (SW XIII.132)

Hier geht es weniger um ein besonderes Vermögen, das man entweder hat oder nicht hat. Hier geht es um die persönliche Vorliebe, darum, ob ein Gedanke die eigenen Neigungen bedient oder eben nicht. Auch das ist ein Problem. Wenn wir anfangen philosophische Thesen danach zu beurteilen, ob sie uns in Hinblick auf unsere Neigungen dienlich sind oder nicht, dann stehlen wir uns um etwas sehr Bedeutsames herum. Wir fragen nicht mehr, ob die Gedanken wahr sind. Stattdessen fragen wir, ob wir persönlich etwas von ihnen gewinnen.

Man kann die genannte Stelle freilich auch wohlwollender lesen. Vielleicht bedient sich Schelling hier lediglich einer rhetorischen Zuspitzung, die nicht wirklich an die Stelle von durchaus vorhandenen Argumenten treten soll (ich danke Carlos Zorrilla für diesen Hinweis). Andererseits kann man sich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass diese Rhetorik verdächtig gut zu den bereits erwähnten Tendenzen Schellings passt.

Wer jedenfalls das Wollen-und-Mögen zum Unterfutter seiner philosophischen Thesen erklärt, der liefert durchaus Gründe, aber keine guten. Denn, was ich glaube an einem Gedanken für meine intellektuellen, moralischen oder politischen Neigungen zu gewinnen, ist vielleicht etwas ganz anderes als das, was Sie daran zu gewinnen (oder eben zu verlieren!) glauben. Folgen wir dem Prinzip Neigung, lesen Sie besser, was Ihnen guttut und ich lasse mich weiter von Schelling (und Hegel) traktieren. Vielleicht gefällt Ihnen Simone de Beauvoir besser? Aber seien Sie gewarnt! Die französische Philosophin kannte ihren Hegel und war entsprechend irritiert, als man ihr die Frage aufdrängte, was denn nun zu gewinnen sei, wenn man sich die Philosophie des Existenzialismus zu eigen mache: „what does one gain by being an existentialist?“ (de Beauvoir 2004, 214) De Beauvoirs Antwort ist erfrischend klar:

The question will seem strange to any philosopher. Neither Kant nor Hegel ever asked himself what one would gain by being Kantian or Hegelian. They said what they thought was the truth, nothing more. They had no other goal but the truth itself. (de Beauvoir 2004, 214)

Das hätte sich Schelling hinter die Ohren schreiben sollen. Wahrheit und nicht, was man will oder mag,ist die Währung der Philosophie. Und es lässt sich auch nicht ohne weiteres eine Brücke vom einen zum anderen bauen. Der Grund dafür, dass das Wollen-und-Mögen nicht die Wahrheit einer philosophischen These belegen kann ist, dass ihm die nötige Objektivität fehlt. Wie auch immer man Wahrheit interpretiert, sie muss in irgendeiner Weise allgemeingültig sein, und das gilt plausiblerweise auch von dem, was wir als Beleg für die Wahrheit unserer Thesen anführen.

Eigentlich sollte man meinen, dass sich Schelling dieser Ansicht sehr wohl verpflichtet fühlte. Zumindest schreibt er bereits in seinem frühen Text Vom Ich als Prinzip: „Mit Leuten, die alles Interesse an Wahrheit verloren haben, läßt sich deswegen nichts anfangen, weil man ihnen nur mit Wahrheit beikommen könnte“ (SW  I.33). Mindestens, was das „Beikommen“ angeht, hat er aber oft einen eigenwilligen Stil an den Tag gelegt.

Was machen wir jetzt mit einem wie Schelling? Hegel war irgendwann ent-nervt. Davon zeugen die bissigen Bemerkungen in der Phänomenologie des Geistes, wo Hegel (mutmaßlich) gegen Schellings Philosophie polemisiert,

die wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt und mit anderen Standpunkten dadurch schon fertig ist, daß sie keine Notiz davon zu nehmen erklärt. (TWA 3.31 vgl. hierzu auch Stern 2002, 43)

Schelling hat durchaus diesen Zug des thetisch Behauptenden, den Hegel ihm vorwirft. Das mag ein Grund sein, warum er in der englischsprachigen Forschung lange keinen allzu guten Stand hatte. In letzter Zeit aber gibt es wieder vermehrt Interesse an Schelling. Nicht nur in Deutschland (beispielsweise im Rahmen des DFG-Projekts „Schellings unvollendetes System“ an der LMU), auch im englischsprachigen Raum schließt sich an das Hegel-Revival ein Schelling-Revival an. (Eine interessante Zusammenfassung dieser Entwicklung kann man in Peter Dews (2023) Buch Schelling’s Late Philosophy in Confrontation With Hegel nachlesen.)

Ich persönlich glaube, dass es bei Schelling zwei Seiten gibt. Eine, die tatsächlich das Argument vermeidet und im Zweifelsfall zur Waffe der Polemik greift und eine andere, die sich mit unermüdlichem Fleiß daran abmüht, philosophische Intuitionen so aufzubereiten, dass sie vernünftig einsehbar und überprüfbar werden. Von dieser zweiten Seite her sollten wir Schelling aufgreifen, und ich denke, dass er vor allem in seiner spätesten Phase auch sehr daran interessiert war, rationale Begründungen für seine Thesen zu liefern. Das betrifft auch die berüchtigte These, dass das Sein der Dinge letztlich eine „unvordenkliche“, also mit den Mitteln des reinen Denkens nicht zu ergründende, Dimension aufweise. Gerade diese These muss der Pflicht der rationalen Begründung nachkommen. Denn Grenzen der Rationalität sind für vernünftige Wesen nur dann akzeptabel, wenn das Vorhandensein dieser Grenzen ihrerseits mit Vernunft einzusehen ist. Andernfalls ist ihre Behauptung bloßes Dogma.

Was nun die Gründe für jene These betrifft, so hat Schelling stets betont, dass sich bestimmte Sachverhalte nicht erklären ließen, wenn wir nicht eine “unvordenkliche” Form des Seins, ein reines und von der Vernunft nicht mehr einholbares „Dass“ der Dinge zugeben. Einer dieser Sachverhalte ist die Tatsache, dass es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts gibt. Die „letzt[e] verzweiflungsvoll[e] Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?“ (SW XIII.7), so Schelling, ließe sich nur mit Verweis auf eine aller logischer Bestimmung vorauseilende Faktizität des Seins beantworten.

Dabei wird sofort klar, dass wir gegen diese Begründung Einspruch erheben können. So gibt beispielsweise Robert Stern zu bedenken, dass bereits die Frage nach einer globalen Erklärung von Existenz („warum gibt es etwas“) einen problematischen Gebrauch von Begründungs-Kategorien voraussetzt. So argumentiert Stern:

[W]hile concepts like ‚cause’, or ‘ground’, or ‘essence’, and so on make sense when applied to matters within it [reality], they do not make sense when applied to it as a totality – so that in this way, the question of why there is being and not nothing drops away. (Stern 2009, 34)

Dass solche Einsprüche möglich sind, zeigt bereits, dass Schelling Argumente liefert, mit denen man sich auseinandersetzen kann, dass er sich am Geben und Nehmen von Gründen beteiligt. Noch spannender wäre es freilich, ein Schellingsches Argument zu finden, das sich weniger leicht entkräften lässt. Meiner Ansicht nach hat Schelling ein solches Argument vorgelegt. In groben Zügen basiert es auf der These, dass es ohne die Annahme einer vor-begrifflichen Dimension des Seins keine Individuen mit einer einzigartigen, nicht durch andere vertretbaren Identität geben könnte. Dieses Argument ist gerade in Hinblick auf Schellings liebsten Gegner Hegel interessant. Denn anders als beim Problem einer globalen Begründung von Realität, handelt es sich bei der Erklärung von Individualität durchaus um ein Anliegen, dessen Relevanz Hegel nicht abstreitet.

Wenn Sie jetzt Lust haben, in die nächste Runde des Gebens und Nehmens von Gründen mit Schelling einzusteigen, dann werfen Sie doch einen Blick auf meinen Aufsatz Schelling vs. Hegel on Individuation (Weiss 2024) und beurteilen Sie selbst, ob Schelling am Ende ein gutes Argument geliefert hat.

Leonard Weiß arbeitet aktuell als Research Associate im Rahmen des Forschungsprojekts „Existence after Kant“ am King’s College London.


Literatur

de Beauvoir, Simone. 2004. Philosophical Writings. Hg. v. Margaret A. Simons. Chicago University of Illinois Press.

Dews, Peter. 2023. Schelling’s Late Philosophy in Confrontation with Hegel. Oxford: Oxford University Press.

Hegel, G.W.F. 1970ff. Werke in zwanzig Bänden/Theorie Werkausgabe’ [=TWA], auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt: Suhrkamp.

Kreines, James. 2015. Reason in the World. Hegel’s Metaphysics and its Philosophical Appeal. Oxford: Oxford University Press.

Schelling, F.W.J. 1856–61. Sämmtliche Werke [=SW] herausgegeben von K. F. A. Schelling. Stuttgart: Cotta.

Stern, Robert. 2002. Routledge Philosophy Guidebook to Hegel and the Phenomenology of Spirit. London: Routledge.

—. 2009. Hegelian Metaphysics. Oxford: Oxford University Press.

Weiss, Leonard. 2024. “Schelling versus Hegel on Individuation.” Hegel Bulletin: 1-25. https://doi.org/10.1017/hgl.2024.50.