18 Nov

Macht es Sinn, von gemeinsamer Verantwortung für Weltarmut zu sprechen?

Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.


von Anne Schwenkenbecher (Murdoch University, Perth)


Wer regelmäßig Nachrichten aus dem eigenen Land und der Welt verfolgt, wird nicht umhin können, sich die Fragen zu stellen, ob man mehr tun kann und sollte, um anderen zu helfen. Wir erkennen allgemein an, dass wir eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen anderer haben. Während man als Einzelner angesichts von komplexen und weitreichenden Problemen wenig ausrichtet, sind wir uns zunehmend bewusst, dass kollektives Handeln äußerst erfolgreich sein kann. Gemeinsam mit anderen können wir oft Dinge erreichen, die allein unmöglich sind. Folgt daraus eine gemeinsame Verantwortung für derartige Probleme?

Verantwortung ist ein vieldeutiger Begriff. Wir können für ein Ereignis verantwortlich sein, das bereits stattgefunden hat (retrospektive Verantwortung) oder für eines, das durch uns herbeigeführt werden kann und sollte (prospektive Verantwortung). In diesem Beitrag interessiert mich die Frage, ob wir gemeinsame prospektive Verantwortung haben, globale Armut zu bekämpfen und den Status Quo zu verbessern? Dabei interessiert mich besonders die konzeptionelle Frage: was kann mit gemeinsamer oder ‚kollektiver‘ Verantwortung gemeint sein? Traditionell wurde in der Moralphilosophie und in der Politischen Philosophie Verantwortung als individuell aufgefasst.[i] In den letzten vier bis fünf Jahrzehnten haben sich Philosophen vermehrt der Idee gemeinsamer Verantwortung (und gemeinsamer Pflichten) gewidmet. Der Grund dafür ist die Einsicht in unsere soziale Natur: wir handeln ständig gemeinsam mit anderen, setzen uns gemeinsame Ziele und übernehmen gemeinsam Verantwortung für diese gemeinsamen Ziele, wie z.B. wenn wir Kinder großziehen.

Philosophen illustrieren gemeinsame Verantwortung gern mithilfe kollektiver Rettungsszenarien: Man stelle sich vor, dass wir beide – ich, die Autorin dieses Beitrags und Sie, die oder der Leser/in – während eines Spaziergangs im Park zufällig beobachten, wie jemand in einem Teich zu Ertrinken droht. Man stelle sich weiterhin vor, dass wir angesichts der Umstände, diese Person nur gemeinsam vor dem Ertrinken retten können, dass wir zusammenarbeiten müssen. Es ist offensichtlich, dass wir in diesem Fall eine (prospektive) Verantwortung für die Rettung des Ertrinkenden haben, selbst wenn wir jeweils allein nicht dazu in der Lage sind. Aber wem genau fällt diese Verantwortung zu?

In der Beantwortung dieser Frage sind Philosophen sich uneinig:[ii] die einen halten an einem individualistischen Verantwortungs- und Pflichtbegriff fest. Eine alternative Konzeption plädiert für eine Ausweitung, oder auch eine ‚Kollektivierung’ des Verantwortungsbegriffs. Gemäß den sogenannten ‚Individualisten’ kann Verantwortung immer nur konkreten Einzelakteuren zugeschrieben werden, da nur diese als moralische Akteure gelten können.[iii] Zwei Spaziergänger, die zufällig zusammen auf einen Nichtschwimmer in einer Bredouille stoßen, sind zusammen genommen kein moralischer Akteur, sondern eben zwei unabhängige, und diesen Fall willkürlich aufeinandertreffende Einzelakteure. In Bezug auf unser Beispiel bedeutet dies, dass keinem der beiden Spaziergänger Verantwortung für die Rettung des Ertrinkenden zukommen kann, da Verantwortung die Fähigkeit voraussetzt, entsprechend zu Handeln. Wir haben aber mit einem Fall zu tun, wo individuelles Handeln nicht ausreicht, um die Person, die in Lebensgefahr ist, zu retten. Vertreter eines individualistischen Verantwortungsbegriffs schlagen vor, dass jede Person jeweils eine Pflicht hat, ihren Beitrag zur gemeinsamen Handlung bzw. deren Realisierung zu leisten.

Ein individueller Verantwortungsbegriff erzeugt scheinbar mehrere Dilemmata. Da ist zunächst das Problem der wechselseitigen ‚Entschuldigung’ oder Ausrede: Man stelle sich vor, dass im oben beschriebenen Fall keine der beiden Spaziergängerinnen eingreift. Beide sehen tatenlos dem Ertrinkenden zu. Im Nachhinein können beide Folgendes behaupten: sie hätten deshalb nicht eingegriffen, da die jeweils andere nicht eingegriffen hat. Und angesichts der Tatsache, dass der Ertrinkende nur gemeinsam gerettet werden konnte, war ihnen klar, dass sie allein nichts hätten ausrichten können. Jede der beiden könnte an dieser Stelle entweder sagen, dass sie keine Pflicht hatte, zu helfen, da sie allein nicht dazu in der Lage war. Oder sie könnte behaupten, dass die Pflicht, einzugreifen hier an die notwendige Bedingung geknüpft war, dass die jeweils andere auch eingreift. Bleibt die jeweils andere Person tatenlos, dann greift die notwendige Bedingung nicht und keine der Spaziergängerinnen hat daher ein Pflicht zu helfen.[iv]

Das oben beschriebene Verhalten erinnert an ein Problem, das unter der Bezeichnung ‚Bystander Effect’ in der sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Literatur diskutiert wird. Dieser tritt ein, wenn Personen die Passivität anderer als Grund interpretieren, angesichts derartiger Notfälle passiv zu bleiben anstatt helfend einzugreifen.[v]  

Das zweite Dilemma wird deutlich, wenn wir unser Beispiel leicht modifizieren. Man stelle sich vor, dass vier Spaziergängerinnen die Szene beobachten aber nur zwei von ihnen zusammenarbeiten müssen, um die Person vor dem Ertrinken zu retten. Im Prinzip kann jede der vier sagen, dass sie und ihr Beitrag nicht zwingend für den Erfolg der Rettung notwendig ist, da es noch jeweils drei andere Personen gibt, die eingreifen können. Es ist nicht so, dass die Verweigerung der Hilfeleistung seitens einer der vier Personen die Rettung vereitelt. Falls es dazu kommt, dass die Person, die sich in der Notlage befindet, nicht gerettet wird, kann im Prinzip jede der vier Anwesenden sagen, dass es nicht an ihr lag. Warum sollte genau sie die Verantwortung für die Rettung haben, wenn die anderen genauso gut eingreifen können? Wenn die Verantwortung einer jeden, hier einzugreifen daran geknüpft wäre, dass deren Handlung für die Rettung notwendig ist, dann ergibt sich dieses sogenannte ‚Aufhebungsproblem’.

Für dieses Problem gibt es zwei Lösungen: erstens, könnte man sagen dass in diesem Fall die Rettungsverantwortung einem beliebigen Zweierset von Akteuren zukommt. Aber warum sollte einem willkürlichen Zweierset von diesen Vieren die Verantwortung helfend einzuschreiten zukommen? Wie auch immer man die Wahl trifft, unter der Annahme dass alle vier gleichsam in der Lage sind zu helfen, ist die Auswahl eines beliebigen Zweiersets immer willkürlich und letztendlich unbegründet. Und haben dann Zwei die Pflicht, einzugreifen und die anderen zwei nicht? Sowohl wäre dies ein willkürliche Auswahl, als auch würde es die zusätzliche Schwierigkeit mit sich bringen, dass die Einzelpersonen nicht gut in Erfahrung bringen können, ob sie Teil einer Zweiergruppe sind, der Verantwortung zukommt.

Die zweite Lösung des Aufhebungsproblems besteht darin, die kollektive, also die gemeinsame Ebene als primär anzusehen, d.h. diese als Ausgangspunkt sowohl für die Charakterisierung der Verantwortung anzusehen, also auch für die Bestimmung der jeweiligen Beitragspflichten Einzelner. Mit anderen Worten, wenn die Verantwortung, einzugreifen und zu helfen nicht auf Einzelpersonen oder in diesem Fall auf beliebigen Teilgruppen, sondern auf allen vier Personen gemeinsam lastet, lassen sich die oben beschriebenen unplausiblen Schlussfolgerungen vermeiden. Vertreter eines Begriffs kollektiver (oder gemeinsamer) Verantwortung schlagen vor, dass alle gemeinsam Verantwortung für die Rettung haben, selbst wenn nur zwei Personen für den Erfolg der Rettungshandlung zwingend notwendig sind.

Was bedeutet das alles für unsere Verantwortung gegenüber weitreichenden, komplexen und globalen Problemen, wie Weltarmut? Macht es Sinn von einer gemeinsamen globalen Verantwortung sprechen? Die Unterschiede zwischen derartigen Problemen und dem hier beschriebenen, überschaubaren Rettungsfall sind offensichtlich und gravierend. Wir sollten nicht einfach von simplen Szenarien auf sehr viel komplexere Fälle schließen. Was sich als globale Armut offenbart, ist zudem das Resultat einer Vielzahl von Problemen, die ganz unterschiedlicher Lösungen bedürfen: von ungerechten Handelsabkommen, über die Nachwirkungen kolonialer Unterdrückung und Abhängigkeiten, zur Korruption lokaler Eliten.[vi] Zudem scheint die Zuständigkeit für die Behebung oder zumindest Linderung von Weltarmut zunächst bei Regierungen, internationalen Organisationen und NGOs zu liegen, nicht vorranging bei ‚normalen Bürgern‘ ohne speziellen Einfluss auf das Weltgeschehen.  

Dennoch schlage ich vor, dass auch in Bezug auf moralische Probleme derart komplexer Natur ein Umdenken von einem individualistischen zu einem kollektiven Verantwortungs- und Pflichtbegriff angemessen ist.[vii] Ohne zu behaupten dass Normalbürgern die komplette Verantwortung für deren Lösung zukommt, lässt sich unsere ‚Komplementärverantwortung‘ am Besten als kollektive verstehen. Damit ist gemeint, dass die kollektive Handlungsebene hier als primär angesehen wird, d.h. dass wir unsere Beiträge zur Lösung dieser Probleme – sei es durch Spenden, durch politische Wahlentscheidungen, durch Verbreitung von Informationen oder Änderungen unseres Konsumverhaltens – als individuelle Handlungen im Kontext eines Gemeinschaftsprojektes ansehen. Ein derartiges Verständnis unserer individuellen Pflichten als eine Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung reflektiert am Besten die Tatsache, dass diese Handlungen eben als Teil eines Ganzen am meisten Sinn machen, selbst wenn wir allein genommen nicht viel ausrichten können.


Dr. Anne Schwenkenbecher ist Senior Lecturer in Philosophy an der Murdoch University in Westaustralien. Sie erforscht Theorien sozialen Handelns, gemeinsamer Verantwortung und kollektiven Wissens im Zusammenhang mit Umwelt- und Klimaschutz, politischer Gewalt und globaler Armut. Ihr neuestes Buch, Getting Our Act Together: A Theory of Collective Moral Obligations, ist 2021 bei Routledge erschienen, ein Video mit Diskussion des Buches findet sich hier.


[i] Levy, Neil.  2018.  „Socializing Responsibility.“  In Social Dimensions of Moral Responsibility, eds.  Katrina Hutchison, Catriona MacKenzie and Marina Oshana.  New York: Oxford University Press.  185-205.

[ii] Ein ausführlicher Vergleich von Konzeptionen gemeinsamer Pflichten findet sich in: Schwenkenbecher, A. (2018). Making sense of collective moral obligations:  A comparison of current approaches. Collectivity: Ontology, Ethics and Social Justice. T. Isaacs, K. Hess and V. Igneski. London, Rowman and Littlefield: 109-132.

[iii] Manche Philosophen räumen ein, dass sogenannte strukturierte Gruppen wie z.B. Korporationen, Universitäten oder Staaten moralische Akteure sein können, wenn sie eine entsprechende Organisations- und Entscheidungsstruktur haben. Diese Ansicht ist kompatibel mit einer Ablehnung der Idee, dass unstrukturierte und zufällige Gruppen von moralischen Akteuren, die keinerlei feste Entscheidungsprozesse haben, selbst (kollektive) Verantwortung tragen können, bzw. dass die Akteure in solchen Gruppen gemeinsam Verantwortung haben können.

[iv] Bob Goodin hat sich diesem Problem ausführlicher gewidmet in Goodin, R. E.  2012.  „Excused by the Unwillingness of Others?„.  Analysis 72: 18-24.

[v] Rendsvig, Rasmus K.  2014.  „Pluralistic Ignorance in the Bystander Effect: Informational Dynamics of Unresponsive Witnesses in Situations Calling for Intervention.“  Synthese 191: 2471-98.

[vi] Wisor, Scott.  2011.  „Against Shallow Ponds: An Argument against Singer’s Approach to Global Poverty.“  Journal of Global Ethics 7: 19 – 32.

[vii] Siehe Schwenkenbecher, Anne.  2021.  „Structural Injustice and Massively Shared Obligations.“  Journal of Applied Philosophy 38: 23-39.

———.  2021.  „Kollektive Verantwortung Und Armut.“  In Handbuch Philosophie Und Armut, eds.  Gottfried Schweiger and Clemens Sedmak.  Berlin: J.B. Metzler.  326-332.

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