21 Jun

Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen? Internationale Diskussionen um ‚Kontroversität‘ und ‚Positionalität‘ von (religiöser) Bildung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund)


Am 10. Januar titelt die Washington Post (WP): „Ein republikanischer Senator vertritt die Auffassung, dass Lehrkräfte im Unterricht über Nationalsozialismus und Faschismus ‚unparteiisch sein‘ sollen.“ Diese Position vertrat Scott Baldwin, um den es im Artikel geht, im Kontext eines Gesetzesentwurfs in Indiana (‚Bill 167‘), der es Eltern erlauben sollte, sich aktiv gegen „spaltende Ideologien“ im Klassenzimmer einzusetzen. Auch wenn Baldwin die Aussage nach heftiger Kritik etwas relativierte, steht sie doch exemplarisch für eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der eine wertebezogene Dimension von pädagogischer Praxis geleugnet bzw. eine bestimmte Form (‚pro-demokratisch‘; ‚pro-liberal‘ o.ä.) angegriffen wird. Bereits im Artikel der WP wird ein anderes Beispiel angeführt: Vor weniger als drei Monaten musste sich ein Schulverwalter in Nordtexas dafür entschuldigen, dass er Pädagog:innen dazu angewiesen hatte, Lesematerial mit „gegensätzlichen“ Ansichten zum Holocaust bereitzustellen. Der Kontext dieser Anweisung war ein neues Gesetz, welches Lehrkräfte zu einer multiperspektivischen Didaktik bei „gegenwärtig kontroversen“ Themen verpflichtete.

Der größere Kontext von ‚Bill 167‘ und dieser Debatte sind politisch hochgradig aufgeladene Konflikte um die sog. „Critical Race Theory“ (CRT), welche nicht nur in Indiana, sondern in mehr als zwanzig weiteren Bundesstaaten verboten werden soll. Grob wird mit der CRT die Position assoziiert, dass es strukturellen bzw. systemischen Rassismus (z.B. durch Gesetze) gibt. In Bezug auf die pädagogische Praxis implizieren solche Gesetze, die den Historiker Timothy Snyder zufolge an „restriktive ‚Erinnerungs-Gesetze‘ in autoritären Staaten“ erinnern, etwa eine ‚behutsame‘ Auseinandersetzung mit Geschichte. Historischer Unterricht solle nicht zu kritisch mit der eigenen Vergangenheit (z.B. Geschichte von Sklaverei und Rassismus), auch weil damit die Gefahr von ‚emotionaler Überwältigung‘ verbunden wird: „Unterrichtsinhalte“, so formuliert es die Journalistin und Autorin Annika Brockschmidt im Tagesspiegel, „dürften nicht zu ‚Unbehagen, Schuldgefühlen, Schmerz und anderen Formen von psychologischer Bedrängnis auf der Basis der race oder des Geschlechts des Individuums‘ führen.“[1] In diesem Sinn formuliert der Gouverneur Oklahomas Kevin Stitt seine Auffassung: „Wir müssen Geschichte unterrichten, ohne dass sich unsere Kinder als Unterdrücker oder Schuldige schämen müssen.“ Konsequenzen einer solchen Position werden exemplarisch dadurch deutlich, dass der Pulitzerpreis-gekrönte ‚Holocaust-Comic‘ „Maus“ in Tennessee als Schullektüre verboten wurde. Kontrolliert werden sollen Unterrichtsmaterialien und Lehrpläne, etwa in Indiana, auch durch die bzw. bestimmte Eltern: Geplant ist dort beispielsweise, „dass die Schulen Ausschüsse bilden, damit die Eltern die Lehrpläne der Lehrer überprüfen und die während des Unterrichts verwendeten Materialien begutachten können.“

Die Auseinandersetzungen in den USA stehen exemplarisch für eine internationale Debatte um die ‚politische Neutralität‘ von Schule. Ähnliche Kontroversen finden sich auch in anderen Ländern, beispielsweise in Brasilien. Dort wurde die Bürgerinitiative „Escola sem Partido“ („Unparteiische Schule“) bereits 2004 gegründet, sie war „eine[s] der ersten Anzeichen der Wende […], die sich 2018 mit der Wahl des rechtsradikalen Abgeordneten und pensionierten Hauptmanns Jair Bolsonaro zum Präsidenten vollzog.“ Auch in Deutschland gibt es grosso modo ähnliche Streitigkeiten. Beispielsweise sollen sich Eltern in Sachsen über die ‚einseitige Perspektive‘ und ‚eindeutige Positionierung‘ beschwert haben, mit der im Unterricht das „Tagebuchs der Anne Frank“ behandelt wird. Und die sog. Meldeportale „Neutrale Schule“ der Partei AfD (z.B. in Hamburg) erinnern – wohl nicht zufällig – an die US-amerikanische oder brasilianische Debatte. Sie führen zu der auch rechtlich diskutierten Frage, ob (schulische) Bildung „[n]eutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen“ sein müsse. Ein Gutachten des Deutschen Instituts für Menschenrechte kommt dabei zu der klaren Position, dass solche Positionen rechtlich aufgegriffen und kritisch thematisiert werden sollten: (Politische) Bildung ist, so wird es in dem Gutachten formuliert,

„nicht neutral, sondern basiert auf Werten. […] Wird der Grundsatz der gleichen Menschenwürde und der Rechtsgleichheit eines jeden Individuums in Frage gestellt, haben Lehrer_innen sowie Akteure im Rahmen staatlich geförderter Bildungsarbeit dem zu widersprechen, auch wenn es sich um Positionen politischer Parteien handelt. Wesentlich ist allein, dass die Auseinandersetzung sachlich erfolgt.“[2]

Doch mit diesem juristischen Befund, welcher auch nur eine erste rechtliche Einschätzung darstellt, ist die Auseinandersetzung keinesfalls erledigt. Besonders auf pädagogischer und didaktischer Ebene ergeben sich neue Fragen: Wann ist etwas denn nun rassistisch und rechtsextrem? Wann erfordert etwas ‚Positionalität‘, wann ‚Kontroversität‘ und wann ‚Neutralität‘? Gerade im ‚wilden Geschäft‘ des Unterrichtens ist diese Fragen zum Teil diffizil zu beantworten.[3] In Deutschland wird in der Politikdidaktik, aber auch in der Philosophiedidaktik und der Religionspädagogik diesbezüglich häufig auf den sog. „Beutelsbacher Konsens“ verwiesen. Allerdings evoziert dieser – gerade für die Religionspädagogik, aber auch für die Politikdidaktik – ähnlich viele Fragen, wie er beantwortet. Zwei davon seien exemplarisch aufgeführt:

  • Was heißt genau ‚Überwältigung‘? Impliziert das Eintreten für eine pro-demokratische (oder pro-biblische) Position und die Kritik an rassistischen, antisemitischen oder extremistischen Positionen bereits, die Schüler:innen „im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln“? Politikdidaktisch wird zwar die Auffassung vertreten, dass bezüglich solcher Positionen „die pädagogischen Intentionen auf Prävention, Problematisierung und soweit möglich auch Überwindung durch neue Bildungserfahrungen zielen“ sollten. Doch was heißt das nun konkret in der Bildungspraxis? Müssen etwa ‚negative‘ Emotionen, beispielsweise in Rollenspielen zur Geschichte des Nationalsozialismus oder zu Rassismus, vermieden werden?
  • Ab wann ist ein Thema ‚kontrovers‘ in dem Sinne, dass es auch im Unterricht ergebnisoffen diskutiert werden sollte? Werden nicht auch Verschwörungserzählungen oder die Leugnung des menschengemachten Klimawandels „in Wissenschaft und Politik kontrovers“ (2. Grundsatz des Beutelsbacher Konsenses) diskutiert und müssten diese Debatten somit in den Unterricht projiziert werden? Und was bedeutet das für den Religionsunterricht, der ja nicht nur Kontroversen innerhalb von Politik, Religion oder Kirche, sondern auch zwischen Gesellschaft, Lehramt und wissenschaftlicher Theologie widerspiegeln müsste. In welchem Verhältnis zueinander stehen dann aber diese Bezugspunkte?

Erste Umgangsmöglichkeiten mit diesen Fragen wurden bereits auf diesem Blog von Johannes Drerup, Ole Hilbrich und Johannes Giesinger diskutiert. Die Auseinandersetzung, die mittlerweile in erweiterter Form in einem Sammelband publiziert wurde, betrifft vor allem den zweiten Fragekomplex. Johannes Drerup hat beispielsweise Impulse aus der angelsächsischen Bildungsphilosophie aufgenommen und weitergedacht. In seiner Perspektive ist es sinnvoll, das weite soziale Kriterium des Beutelsbacher Konsenses („das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist“) durch die Kopplung eines politischen bzw. demokratischen und eines epistemischen bzw. wissenschaftlichen Kriteriums adäquat zu beschränken. Beispielsweise lassen sich so relevante Abgrenzungen gegenüber ‚Verschwörungstheorien‘ oder Weltanschauungen vornehmen, die demokratischen Prinzipien oder akademischer Redlichkeit widersprechen.

Besonders der erste Fragenkomplex, aber auch weitere Fragen, wurden aus religionspädagogischer und bildungspraktischer Perspektive auf der Tagung „New Bottler, Old Wine? Ein neuer Blick auf politische Themen in der religiösen Bildung mit Jugendlichen“ verhandelt, die vom 25.–26. März 2022 in der Katholischen Akademie Schwerte stattgefunden hat. Beispielhaft wurden sie anhand der Themen ‚Ökologie‘, ‚Ökonomie‘ und ‚Antisemitismus‘ in den Blick genommen. Dadurch konnte auf einer inhaltsspezifischen Ebene den Fragen rund um Neutralität, Positionalität und Kontroversität nachgegangen werden. In abschließenden Impulsvorträgen wurde aus verschiedenen Perspektiven – aus der Systematischen Theologie (Dr. Simone Horstmann), der katholischen Religionspädagogik (Andreas Menne), der evangelischen Religionspädagogik (Dr. Jasmine Suhner) und der Politikdidaktik (JProf. Dr. Alexander Wohnig) – die Erträge verallgemeinert und abschließend gebündelt. Systematisch zusammen gefasst werden die auf der Tagung präsentierten Antworten auf die Frage „Braucht die Religionspädagogik ihren eigenen ‚Beutelsbacher Konsens‘?“ in einem erweiterten Sammelband zur Tagung, der im Wochenschau Verlag erscheinen wird. Darin soll auch ein im partizipativen Modus erarbeiteter ‚Schwerter/Dortmunder Konsens‘ als eine religionspädagogische Erklärung auf der Basis der Tagungsergebnisse publiziert werden.


Jan-Hendrik Herbst, M.A. und M.Ed. (Mathematik und katholische Theologie) ist ausgebildeter Lehrer und promoviert an der TU Dortmund im Fach „Religionspädagogik“.


[1] Ausführlicher in: Brockschmidt, Annika (2021): Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet. Reinbek: Rowohlt. Eine durchaus ähnliche Position wie im Zitat findet sich auch bei eher liberal einzuordnenden Politikwissenschaftler:innen wie Mounk, Yasha (2018): The people vs. Democracy: Why Our Freedom Is in Danger and How to Save It. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 237–252. Für die deutschsprachige Debatte: Sander, Wolfgang (2021). Identität statt Diskurs? Diskursivität in der politischen Bildung und ihre Gefährdungen. Pädagogische Rundschau, 75(3), 293–306.

[2] Cremer, Hendrik (2019): Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Analyse_Das_Neutralitaetsgebot_in_der_Bildung.pdf, S. 32. Hendrik Cremer zufolge sind die rechtlichen Vorgaben in Bezug auf parteipolitische Positionalität diffizil, weil es das Gebot der Chancengleichheit der Parteien im politischen Willensbildungsprozess gibt (Art. 21 GG).

[3] Vgl. etwa das Fallbeispiel in Reinhardt, Sybille (2021): Das vermeintliche Neutralitätsgebot für die politische Bildung. In: Kenner, Steve/Oeftering, Tonio (Hg.): Standortbestimmung Politische Bildung. Gesellschaftspolitische Herausforderungen, Zivilgesellschaft und das vermeintliche Neutralitätsgebot. Frankfurt am Main: Wochenschau, S. 35f.

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