09 Jan

Über die epistemische Ungerechtigkeit alltäglicher Kommunikation

Von Jonathan Assmus (Universität Bremen)

Epistemische Ungerechtigkeit ist ein allzu alltägliches Phänomen. Wer erst anfängt ihre Zeichen zu erkennen, wird nicht umhinkommen, sie wiederzufinden, wohin der Blick auch fällt. So werden Phänomene sichtbar, die in der Dunkelheit sozialer Missstände verbleiben würden, gäbe es nicht die Möglichkeit sie als epistemische Ungerechtigkeit zu benennen.

Ein Paar, ein Streitgespräch, angespannt aber in versöhnlichem Ton. Die Frau sucht nach den geeigneten Worten, um ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen. Bevor ihr Zögern einer pointierten Formulierung weichen kann, fällt ihr der Partner, etwas ungeduldig, aber wohlmeinend ins Wort und bringt den Satz zu Ende. Er hat nicht einmal unrecht, er kennt sie gut, aber es ist nicht die angedachte Ausdrucksform, nicht das von ihr geschneiderte Wortkleid. Sie versucht zu korrigieren, stößt auf Unverständnis: „Das meinte ich doch!“ Schweigen, Resignation. In ein Gespräch auf Augenhöhe hat sich die Deutungshoheit eingeschlichen und auch sie kennt ihren Partner gut: Wohlmeinend aber starrköpfig, im Drang der Hilfsbereitschaft fand das Zuhören sein Ende. Ihr fallen nicht die richtigen Worte ein, um auszudrücken, was sie nun stört. Der Streit ist beigelegt doch nicht befriedet – Unwohlsein, unterschwellig aufdringlich und doch vermeidbar.

Was ist hier falsch gelaufen? Wo brach die Kommunikation zusammen? Mit Miranda Fricker könnte vermutet werden, hier liege ein Fall epistemischer Ungerechtigkeit[1] vor: Eine Person erfährt eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung in ihrem Status als Wissende. Ihr wird nicht die Zeit zugestanden, ihre Gedanken auszuformulieren, wodurch die Form ihres Ausdrucks fremdbestimmt wird. Ein Beispiel für sogenannte Zeugnisungerechtigkeit.

Darüber hinaus könnte eine hermeneutische Ungerechtigkeit ausgemacht werden. Der Frau fehlt nämlich ein Konzept, um das Problem mit dem Verhalten ihres Partners artikulieren zu können. Es gibt eine Lücke in den kollektiven Ressourcen, die wir für die Beschreibung unserer gemeinsamen sozialen Welt verwenden. Konkret fehlt der aus dem Englischen entlehnte Neologismus „Mansplaining“. Mit diesem wundervoll gradlinigen Wort wird die Art (meist) männlichen, ungefragten Erklärens beschrieben, bei der hochmütig die Deutungshoheit beansprucht wird, ohne dem Gegenüber die Gelegenheit zuzugestehen, eigenständig die eigene Gefühlslage oder Gedankenwelt zum Ausdruck zu bringen.

Folglich besteht personale Ungerechtigkeit im Akt der Unterbrechung, während sich eine strukturelle Ungerechtigkeit im gemeinsamen Vokabular und den gemeinsamen Konzepten niederschlägt, mit denen wir die soziale Welt beschreiben. Sicherlich könnte der vorliegende Text nun weiter fließen in den reißenden Strom der Diskurse über soziale Macht. Mit dem Thema epistemischer Gerechtigkeit eng verwoben sind soziale Hierarchien, durch historische Rollenbilder bedingte Erwartungshaltungen und unterschwellige Manifestationen von Unterdrückung. Doch statt ins Meer begrifflicher Klärungen abzutauchen – wie Philosoph*innen es nur allzu gerne tun – wollen wir noch ein wenig bei dem streitenden Pärchen verweilen. Verglichen mit anderen Instanzen epistemischer Ungerechtigkeit liegt hier nämlich ein recht milder Fall vor. Es manifestieren sich zwar etwaige Sexismen, aber die grundlegende Intention ist wohlmeinend. In der Kommunikation entsteht ein Machtgefälle, aber der Mann nutzt seine soziale Dominanz nicht bewusst aus.

Nach Miranda Fricker ist sogar zweifelhaft, ob hier überhaupt von epistemischer Ungerechtigkeit gesprochen werden sollte. Gegeben ist die negative affektive Einstellung des Mannes gegenüber dem eigenen Fehlverhalten: Statt mit Bedacht zuzuhören, um die Position seiner Partnerin zu verstehen, wird Verständnis proklamiert, wo keines sein kann, da nur von der eigenen Missdeutung ausgegangen wird. Nur bedingt vorhanden ist hingegen der Bezug auf negative Stereotype, die von Vorurteilen gegenüber sozialen Gruppen geprägt sind, was für Fricker das entscheidende Merkmal epistemischer Ungerechtigkeit ist. Stereotype seien hierbei heuristische, also auf begrenztem Wissen beruhende, Verallgemeinerung, die eine Verkürzung und dadurch Beschleunigung des Urteils ermöglichen. Im Alltag wenden wir Stereotype nur allzu häufig an und keinesfalls sind sie immer nachteilhaft. Einer Ärztin aufgrund ihrer Qualifikation zu trauen ist nicht verwerflich. Problematisch werden Stereotype hingegen, wenn sie auf Vorurteilen gegenüber sozialen Gruppen beruhen, die aus der Pluralität einzigartiger Menschen eine homogene Masse machen.

Negative, vorurteilsbelastete Stereotype sind historisch gewachsen und gefestigt. Sie hängen mit Fragen der sozialen Macht und Hierarchien zusammen und spiegeln sich in Rollenbildern sowie den damit verbundenen Erwartungen wider. Wer in einer Gesellschaft sozialisiert wird, die von sexistischen, rassistischen, diskriminierenden Stereotypen durchsetzt ist, sollte sich nicht wundern, Züge dieser Stereotype auch im eigenen Verhalten wiederzufinden. Allerdings sind sie oft unterschwellig sowie verdeckt rationalisiert im Zuge des Bestrebens ein guter Mensch zu sein und vor allem, sich selbst als solchen zu sehen. Unglücklicherweise werden durch diese Tendenz, eine positive, kohärente Geschichte unseres Selbst zu kreieren, epistemische Oppressionen reproduziert.

So hat der Mann im dargestellten Streitgespräch das Bestreben, ein guter Partner zu sein und zugleich das Bedürfnis, als guter Partner gesehen zu werden. Enthusiastisch versucht er, sein Verständnis zu artikulieren, unterbindet dadurch aber die Möglichkeit einer freien Entfaltung der Kommunikation. Ein paternalistischer Zug liegt in seiner Aufdringlichkeit, keineswegs auf böswilligen Intentionen beruhend, aber faktisch wird gesellschaftlich verankerte Unterdrückung manifestiert. Elemente epistemischer Ungerechtigkeit können in dieser Situation ausgemacht werden, aber für Fricker wäre vermutlich ausschlaggebend, dass ein Missverständnis vorliegt. Es gelten gewissermaßen mildernde Umstände. Obwohl also epistemische und ethische Übel vorhanden sind – eine Stimme, die kein Gehör findet, die Veranlassung zur Eigenzensur, die Minderung des Selbstvertrauens – muss nicht zwingend von epistemischer Ungerechtigkeit gesprochen werden: ein Grenzfall.

Die epistemischen Übel in der Geschichte des Paares betreffen eher die Form der Kommunikation als den Inhalt des Gesprächs. Die Verhaltensweisen sind geprägt von der Präsenz epistemischer Oppression, auch wenn kein direkter Bezug zu vorurteilsbelasteten Stereotypen besteht. Deswegen passt Frickers Definition von epistemischer Ungerechtigkeit nicht zur Erörterung des beschriebenen Problems. Die Situation ist allerdings zu alltäglich, die Übel zu bezeichnend für fehlgeschlagene Kommunikation, um sich mit dieser Beurteilung zufrieden zu geben. Statt also in Kategorien von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu denken, deren Zuschreibung mit den erläuterten Schwierigkeiten konfrontiert ist, soll nun ein Versuch gewagt werden, die Möglichkeiten des Individuums zu untersuchen.

In ihrem Aufsatz „A cautionary tale“ beschreibt Kristie Dotson epistemic agency als die Befähigung, geteilte epistemische Ressourcen zu verwenden und – wenn nötig – zu revidieren, um an der gemeinsamen Wissensproduktion teilzuhaben.[2] Eine geeignete Übersetzung wäre meines Erachtens epistemische Handlungsfähigkeit, worin noch eine zweite Komponente epistemischer Möglichkeiten mitschwingt: Handlungsfähigkeit impliziert nämlich, selbstbestimmt über das Wie der Tat zu entscheiden. Mit epistemischer Handlungsfähigkeit als Maßstab der Untersuchung wird nun benennbar, was zuvor aus dem Rahmen epistemischer Ungerechtigkeit herausgefallen ist. Einerseits wird der Frau die Möglichkeit genommen eigene Worte zu finden, um ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen, andererseits wird ihr Versuch unterbunden, die Probleme der Kommunikation zu erläutern. Somit scheitert die Kommunikation aufgrund eines doppelten Verlusts epistemischer Handlungsfähigkeit.

Die Form, in der unsere Gedanken Ausdruck finden, ist oft entscheidend für deren exakten Gehalt; manchmal mag die Form sogar relevanter sein als der Inhalt. Das zur Bezeichnung der Welt verwendete Vokabular ist ebenso einzigartig, wie die Perspektive des Mitmenschen. Mariana Ortega bezeichnet die Praxis, sich auf den Erfahrungshorizont anderer einzulassen, ihnen wahrlich und bis zum Ende zuzuhören, statt das Gesagte ins eigene Bezugssystem zu inkorporieren, bevor das letzte Wort verklungen ist, als Weltenwanderung.[3] Es ist weder einfach noch selbstverständlich, anderen auf diese Weise zuzuhören und kann keineswegs immer umgesetzt werden.  Aber es zeugt von Respekt und Wertschätzung, sich auf den Versuch einzulassen, die Welt durch die Augen Anderer zu sehen.

In alltäglichen Situationen wird die Sprache schnell auf ihre funktionale Komponente reduziert: der Austausch von Informationen steht im Vordergrund. Sollen aber Konflikte befriedet sowie Missverständnisse aufgeklärt werden, so bedarf es eines Umgangs mit der Sprache, die ihre enthüllende Komponente berücksichtigt. Sartre schrieb einst[4], Sprache sei gleichsam heilig und magisch. Heilig, da sie auf eine ungreifbare Welt jenseits der unseren verweist. Magisch, da durch sie eine Brücke zu dieser Welt errichtet werden kann. Um andere Welten zu besichtigen, müssen wir uns also auf die Magie der Sprache besinnen und uns auf heilige Worte verlassen, die zu enthüllen vermögen, was uns oft im allzu hektischen Alltag verborgen bleibt.


[1] Die Verweise auf Frickers Theorie beziehen sich auf ihr Werk „Epistemic Injustice – Power and the Ethics of Knowing“ (2007).

[2] Siehe Dotsons Aufsatz „A Cautionary Tale: On limiting Epistemic Oppression” in “Frontiers: A Journal for Woman Studies” (2012 Vol.33, No.1).

[3] Siehe Ortega, M. (2006). Being Lovingly, Knowingly Ignorant: White Feminism and Women of Color. Hypatia, 21(3), 56-74. doi:10.1111/j.1527-2001.2006.tb01113.x

[4] Siehe Sartre, J-P. (1943). Das Sein und das Nichts im Kapitel „Die konkreten Beziehungen zu Anderen“, Dritter Teil, Seite 442 der in der deutschen Ausgabe vermerkten, ursprünglichen Seitenzahl.


Jonathan Assmus ist Student der Philosophie an der Universität Bremen. Im Rahmen der von ihm mitbegründeten Studiengruppe Das philosophische Atelier beteiligte er sich an öffentlichkeitswirksamen Auftritten in der philosophischen Gesellschaft Bremen und publizierte in der Manege für Architektur sowie der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie.

Kontakt: Jassmus@Uni-Bremen.de