25 Jan

Wie Erzählungen Wissenssubjekte dehumanisieren

Von Natalie Giuseppina Duţescu (Oldenburg)


Fassungslos stehen wir vor den Ereignissen, die den Nahost-Konflikt in bisher unbekannten Dimensionen neu entfacht haben und ihn seitdem weiter befeuern. Die Philosophie als Wissenschaft kann als Beitrag einen gemeinsamen Boden zur Rückgewinnung dieser Fassung leisten. Sie kann Rahmenbedingungen entwickeln, diese Ereignisse zu deuten und sich über sie zu verständigen. Dieser Auftrag umfasst auch, Barrieren zu identifizieren, die diese gemeinsame Deutung und Verständigung verhindern.

Aus den Überlegungen zur epistemischen Ungerechtigkeit lassen sich Perspektiven gewinnen zur Bewältigung dieses Auftrags. Anhand des Diskurses über den Nahost-Konflikt lässt sich zudem das Verständnis von Wirkmechanismen epistemischer Ungerechtigkeit schärfen, die bisher unterrepräsentiert sind: Inwiefern legt die Art des Sprechens über Menschen fest, ob ihr Wissen von Bedeutung ist?

Die Klärung dieser Frage beginnt mit der Akzentuierung des hier aufschlussreichen Aspektes epistemischer Ungerechtigkeit, um weiter zu ermitteln, inwiefern diese vorliegt. Zentral wird dann die Beschreibung der Qualität des Sprechens über die unmittelbar Betroffenen des Konflikts und über diejenigen, die sich dazu äußern, um die Abhängigkeit der Anerkennung als Wissensproduzent*innen von diesen Erzählungen zu problematisieren.

Unter der Vielzahl der zurzeit diskutierten[1] besteht die hier spezifische, für das Thema fruchtbare Form epistemischer Ungerechtigkeit in der „Zeugnisungerechtigkeit“, die dann vorliegt, wenn ein Mensch „nicht als Quelle vertrauenswürdiger Informationen wahrgenommen“ wird, „obwohl [er] eigentlich eine ist und auch als solche erkennbar wäre“[2], was seinen Status „als epistemisches Subjekt“[3] abschwächt.

Das Wissen eines Menschen hat also keine Bedeutung, es zählt nicht. Wie er die Welt erfährt, deutet und diese Deutung mitteilt, bleibt unberücksichtigt. Darin besteht die epistemische Ungerechtigkeit. Der Mensch, dessen Erfahrung und Verstehen nicht existent sind, ist auch als Mensch nicht existent.

Mit Blick auf den Nahost-Konflikt findet sich Zeugnisungerechtigkeit auf zwei Ebenen: Im öffentlichen Diskurs wird kaum oder nur verkürzt abgebildet, wie die unmittelbar involvierten Akteur*innen und Betroffenen die Ereignisse erleben. Ihre Verstehenversuche und Entscheidungshintergründe kommen nicht zur Sprache. Vielmehr finden sich Mutmaßungen über die Erfahrungen, deren Verstehen sowie Handlungsmotivationen seitens Außenstehender und Unbeteiligter.

Einjede*r vermeint, sagen zu können, was Israelis, Palästinenser*innen, die israelische Regierung und die Hamas denken, aus welchen Gründen sie handeln und was ihre Absichten seien. Es werden Erzählungen formuliert über diejenigen, die eigentlich die Situation aus unmittelbarer Nähe bezeugen könnten.

Die zweite Ebene betrifft diejenigen, die sich über den Nahost-Konflikt äußern. Auch ihre Motive und Absichten werden von außen zugeschrieben und schaffen Distanz zu ihrem eigentlichen Wissensbeitrag. Wer den Terror der Hamas als solchen verurteilt, sei Beführworter*in imperialistischer Gewalt. Wer Anteilnahme zeigt am Leid der israelischen Opfer dieses Terrors, sei Gegner*in des palästinensischen Kampfes für Autonomie. Wer Anteilnahme zeigt am Leid der palästinensischen Bevölkerung, sei Unterstützer*in des islamistischen Terrors. Wer die Angemessenheit der militärischen Entscheidungen der israelischen Regierung hinterfragt, sei Antisemit*in. Wer den real stattfindenden Antisemitismus auf den Straßen und im Netz als solchen identifiziert, sei Islamfeind*in.

Auf beiden Ebenen lässt sich eine Spur in den Zusammenhang aufnehmen zwischen Erzählung und Zeugnisungerechtigkeit. Wie Menschen erzählt, wie sie bezeichnet werden, beeinflusst, ob ihre Erfahrung, ihr Wissen und sie als Zeug*innen zählen. Wer als Zeug*in nicht berücksichtigt wird, dessen Aussage ist nicht im Diskurs repräsentiert. Sie fehlt als Mosaikstein im Erarbeitungsprozess der Situation, die so multidimensional ist, dass sie jedes einzelnen bedarf. Die kursierenden Erzählungen stellen Barrieren dar. 

Die menschliche Lebensrealität ist komplex, vielschichtig, oft widersprüchlich. Menschliches Handeln erfolgt aus der Erfahrung dieser Lebensrealität, in die Menschen zutiefst verstrickt sind. Sie verhalten sich aus dieser Verstrickung heraus, die umso dichter und unübersichtlicher ist, je komplizierter die Gesamtsituation ist und je mehr Menschen involviert sind.

Erzählungen verkürzen Lebensrealitäten, blenden die Verstrickungen aus und versprachlichen eine isolierte Momentaufnahme aus dem Gesamtzusammenhang von Handlungen. Dieser kontextlose Einzelaspekt wird dann zu einer Gesamtidentität verdichtet, die ausschließlich entsprechend dieser Einzelheit gedeutet werden kann.

Es wird nicht über Menschen berichtet, die in Israel oder im Gazastreifen leben, die jüdischen oder muslimischen Glaubens sind. Die Rede ist von „Juden“ und „Palästinensern“, von „Hamas“ und „dem Militär“. Als herrsche unter Menschen jüdischen Glaubens Konsens über den Konflikt und die Ereignisse, als gäbe es unter ihnen keine kontroversen Positionen, als hätten alle Palästinenser*innen dieselbe widerspruchsfreie Haltung zu Israel und zur Hamas.

Diejenigen, die den Diskurs über den Konflikt führen, werden nicht dargestellt als Menschen, die den Überfall der Hamas auf Israel als Terrorismus beurteilen, denen eine Differenzierung zwischen Hamas und der palästinensischen Zivilbevölkerung wichtig ist, die darauf hinweisen, dass auch Araber*innen unter den Opfern der Hamas sind, die sich für eine Differenzierung zwischen der israelischen Zivilbevölkerung und dem israelischen Militär engagieren, die sich für die palästinensische Zivilbevölkerung einsetzen, die weiterhin aufmerksam sind für antisemitische Töne im Gewand der angeblichen Kritik am Staat Israel.

Die Rede ist von Befürworter*innen imperialistischer Gewalt oder islamistischen Terrors, von Gegner*innen des Islams, von Antisemit*innen. Als wären das die einzig möglichen Positionen unter denen nur eine einzige unveränderlich bezogen werden könne. Die jeweilige zugewiesene Position löst die Zeugnisfähigkeit vom Menschen ab und disqualifiziert von der Teilnahme am Diskurs.

In der erzählten Welt gibt es keine echten Menschen, sondern nur holzschnittartige Figuren. Ihre individuellen Erfahrungen, ihr Wissen und ihre möglichen Aussagen verschwinden im Sog der Zuschreibung von Außenstehenden, die keinen Zugriff haben auf den Menschen hinter dieser Figur. Der Zugriff wird zudem dadurch erschwert, dass die Figuren in eine antagonistische Struktur eingegliedert werden. Die zugewiesene Position schließt Gemeinsamkeiten mit jeder anderen aus. Diese Organisation lässt nur ein feindliches einander Gegenüberstehen zu. Alle Erfahrungs- und Wissenshorizonte sind innerhalb einer „Wir-gegen-Sie“- Schablone mittels einer „Grammatik des Hasses“[4] vermeintlich zu Ende gedacht und erzählt. Die Anderen nicht anzuhören, wird als legitim betrachtet. Sie sind Feind*innen und können nichts weiter sein. Figureneiner erzählten Welt sind keine epistemischen Subjekte. Sie sind überhaupt keine Subjekte. Erzählungen zersetzen das Subjekt. Sie reduzieren Lebenszusammenhänge auf isolierte Aspekte, konstruieren daraus eine Figur und gliedern diese ein in archetypische Muster, die so alt sind wie Krieg, Fundamentalismus, Antisemitismus selbst. Dass eine Erzählung „ohne Charaktere“[5], also echte Menschen auskomme, schlussfolgerte schon Aristoteles in seinen Überlegungen zur Poetik.

Auch, wenn diese Überlegungen nicht die Chronologie offenlegen, kein Licht bringen können in die Henne-Ei-Problematik, ob Menschen als Figuren erzählt werden und deshalb keine Wissenssubjekte sind, oder ob sie als Feinde bereits jede Glaubwürdigkeit verloren haben und deshalb als solche erzählt werden, so lässt sich doch der Apell formulieren, das Erzählverhalten zu verändern.

Wir können uns in Acht nehmen vor dem Einstimmen in die Grammatik des Hasses, in die Erzählungen von Wir-gegen-Sie, in der alle zu Figuren werden, auch wir selbst, wenn wir dem Glauben verfallen, wir würden andere besser verstehen als sie sich selbst.

Wir können darauf verzichten, Menschen zu Figuren zu dehumanisieren. Wenn diese Erzählmuster uns in 2000 Jahren einander nicht verständlicher gemacht, nicht nähergebracht haben, werden sie es auch jetzt nicht.

Wenn das Anliegen ist, zumindest partiell die Fassung, einen gemeinsamen Boden zurückzugewinnen, bedarf es eines Rahmens für die Erfahrungs- und Deutungsperspektiven derjenigen, die unmittelbar involviert sind und die versuchen, unterschiedliche Aspekte der Situation zu verstehen.

Ein Diskurs, der die Komplexität einer Situation zu rekonstruieren versucht, die so stark emotionalisiert und sich der rationalen Annäherung zunächst so weit entzieht, braucht das Wissen vielschichtiger Perspektiven. Er braucht unterschiedliche Wissenssubjekte, die nur dann zur Sprache kommen, wenn ihnen Zeugnisfähigkeit zugestanden wird. Er braucht Zeugnisgerechtigkeit.

Für diese können wir uns engagieren. Teil dieses Engagements ist, der Beurteilung einer Situation, die so schwer zugänglich und bereits so eskaliert ist wie der Nahost-Konflikt, einen Schritt vorauszuschicken, der darauf zielt, ihre Komplexität anzuerkennen, so viele Wissensinhalte wie möglich zusammenzutragen und einen Rahmen aufzuspannen, in dem dieses Wissen erschlossen, verortet und verhandelt werden kann.


[1] Wie beispielsweise die hermeneutische Ungerechtigkeit nach Fricker oder die hermeneutische Ignoranz bei Pohlhaus (vgl. Fricker Miranda: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens. München 2023, S. 13f.).

[2] Bratu/ Dammel: Eine wirklich soziale Erkenntnistheorie: Miranda Frickers Epistemische Ungerechtigkeit. In: Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens. München 2023, S. 10.

[3] Fricker Miranda: 2023, S. 17.

[4] Di Cesare, Donatella: Philosophie der Migration. Berlin 2021, S. 118.

[5] Fuhrmann, Manfred (Hrsg.): Aristoteles. Poetik. Stuttgart 1993, 21.


Natalie Giuseppina Duţescu ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Fachdidaktik am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und forscht zum Interdependenzverhältnis von Identität, Narrativität und Moral.

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