Darf man Fleisch essen, wenn Tiere Rechte haben? Eine Antwort auf Konrad Ott
Von Marina Moreno und Adriano Mannino (München)
Konrad Ott schließt seinen spannenden Beitrag “Warum ich kein Vegetarier bin” mit der folgenden Bemerkung und Frage:
“Ich erwarte nicht, dass Tierrechtler*innen meiner Lebensart, Nicht-Vegetarier zu sein, zustimmen werden. Aber das brauchen sie auch nicht. Ich möchte niemandem den Vegetarismus streitig machen, wenn sie/er von bestimmten Begründungsfiguren (Tierrechte) überzeugt ist und die „clear and uncomprimising implications“ (Regan 1989, S. 13) attraktiv findet. Die Frage bleibt, ob meine Position von Tierrechtler*innen als moralisch vertretbar geachtet oder nur notgedrungen toleriert werden kann.”
Wir verstehen uns als Tierrechtler*innen und hegen Sympathien für den Antispeziesismus bzw. den Unitarismus, also die Ansicht, dass alle empfindungsfähigen Wesen den gleichen fundamentalen moralischen Status haben (vgl. Mannino & Moreno 2022, im Erscheinen). Die Tierrechtsposition erfordert allerdings keinen strikten Unitarismus, insoweit man gewisse Abstufungen zwischen Menschen- und Tierrechten zulässt.
Die Vorbemerkung ist angezeigt, dass der gegenwärtige Fleischkonsum großmehrheitlich auch unter nicht-tierrechtlichen Prämissen unhaltbar ist, weil er auf Formen der Massentierhaltung beruht, die (ethisch und rechtlich) nur als Tierquälerei taxiert werden können. In diesem Punkt, so scheint es, stimmen wir mit Konrad Ott überein.
Was andere Haltungsformen betrifft, lässt sich aus unserer Sicht festhalten: Wenn Tiere Rechte haben, wird es kaum möglich sein, die Tötung auch nur eines Tiers zu rechtfertigen, wenn dabei nicht auf vitale menschliche Interessen verwiesen werden kann, die ihrerseits durch Rechte gedeckt sind. Eine existenziell notwendige Jagd oder eine lebensrettende Xenotransplantation etwa ließen sich wohl entsprechend rechtfertigen. Gaumenfreude aber – genauer: die Gaumenfreudedifferenz zur bestmöglichen fleischlosen Ernährung – wird zur Rechtfertigung nicht genügen. Der Hinweis auf kulinarische Traditionen und kulturelle Identitäten ist vielversprechender, vermag die Verletzung vitaler Tierinteressen bzw. entsprechender Rechte letztlich aber auch nicht zu rechtfertigen (selbst wenn Menschenrechte höher stehen als Tierrechte gleicher Art): Auf der Seite des Tiers geht es hier um das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben – und damit um alles.
Insofern kann uns auch das Argument nicht überzeugen, dass der Tierrechtsabolitionismus zu einer “Verarmung unseres Umgangs mit außer-menschlichen Lebewesen” führen würde. Glücklicherweise erwarten wir jedoch ohnehin eine Bereicherung: Eine Gesellschaft, die die Rechte von Tieren ernst nimmt, wird sich viel stärker für alle Formen des gewaltfreien, genuin bereichernden Zusammenlebens mit ihnen interessieren. Die Zahl der “Lebenshöfe” würde sich vervielfachen, und vielleicht würden Schweine (die mindestens so intelligent und bindungsfähig sind wie Hunde) oft als Haustiere gehalten bzw. als Familienmitglieder betrachtet und behandelt. Insoweit sich die Lebensqualität der Tiere in entsprechenden Kontexten gewährleisten lässt, scheint uns dies mit der Abolition der Tierrechtsverletzungen völlig kompatibel zu gehen. Eingehend geprüft werden muss freilich, ob die Züchtung dazu geführt hat, dass die Lebensqualität der Tiere schon aus biologischen Gründen kein hinreichendes Niveau erreicht. Der neue bundesdeutsche Agrarminister hat unlängst eine Studie zitiert, wonach 85 Prozent der Legehennen Brustbeinbrüche aufweisen (unabhängig von der Haltungsform). Empfindungsfähige Wesen qualzuzüchten, kann nicht als “Bereicherung” unseres Umgangs mit ihnen gelten, selbst wenn ihnen während ihres Lebens keinerlei Gewalt widerführe.
In diesem Zusammenhang wird manchmal auch argumentiert, dass die Nutztierhaltung einer viel größeren Zahl von Tieren die Existenz ermögliche, als ein Tierrechtsregime dies tun würde. In der Massentierhaltung aber ist das Leiden der Tiere zweifelsohne so intensiv und dauerhaft, dass die Nicht-Existenz vorzugswürdig ist. Und wenn wir unterstellen, dass andere Haltungsformen den Tieren ein hinreichend gutes Leben ermöglichen, so wäre zu fragen: Warum rechtfertigt der Plan, vielen Tieren eine gute Existenz zu ermöglichen, die Verletzung ihrer Grundrechte auf Unversehrtheit und Leben? (Alle Nutztiere werden nach einem kleinen Bruchteil ihrer Lebenserwartung umgebracht, wiederum unabhängig von der Haltungsform.) Die Verletzung der Grundrechte eines Tiers stünde hier jeweils im Dienste des Ziels, dritten Tieren zu “helfen”, auf die Welt zu kommen. Moralisch ist das nicht vertretbar, an sich und weil ein solcher “Hilfsplan” auch ohne jede Nutzungs- bzw. Tötungsabsicht umgesetzt werden könnte: Schon heute ließen sich ohne Weiteres Mäuse- und Hühnerparadiesfarmen aufstellen. Tiere mit geringer Körpermasse würden sich dafür gut eignen, weil so pro Ressourceneinheit viel mehr Individuen eine glückliche Existenz ermöglicht werden könnte. Dass niemand ernsthaft solche Pläne verfolgt, ist jedoch kein Zufall: Die Nicht-Existenz ist für die nicht-existierenden Tiere kein Problem, während die Existenz für die existierenden Tiere durchaus ein Problem sein kann (und gegenwärtig in der Tat oft ein schwerwiegendes Problem ist). Aus diesen Gründen schlägt das Argument fehl, dass die Nutztierhaltung zu bewahren sei, weil sie Tieren die Existenz ermögliche.
Weiterhin ist auch der Hinweis auf gesundheitliche Vorteile des Fleischkonsums als Argument zweifelhaft: Viele Studien legen inzwischen nahe, dass vegetarische Ernährungsformen netto mindestens so gesund sind wie fleischhaltige. (Wir vermuten stark, dass dies für eine gut geplante vegane Ernährung auch gilt, wollen es aufgrund der etwas komplexeren empirischen Datenlage jedoch nicht behaupten.) Falls jemand aber – Herrn Ott folgend – geltend machen kann, dass der Vegetarismus im eigenen Falle mit erheblichen gesundheitlichen Nachteilen oder Risiken verbunden wäre, gelangen wir tatsächlich in den Bereich einer respektablen Rechtfertigung für den Fleischkonsum.
Das gilt jedoch, wie wir im Folgenden argumentieren wollen, nicht bedingungslos, sondern hat wesentlich damit zu tun, dass dem Konsumverzicht als Handlungstyp aus tierrechtlicher Sicht ohnehin keine herausgehobene Bedeutung zukommt. (In diesem Punkt, so scheint uns, irren auch viele Tierrechtler*innen.) Das liegt nicht etwa daran, dass der Konsumverzicht unwichtig wäre; von individuellen Konsumentscheidungen gehen umwelt-, tier- und sozialethisch oft erhebliche erwartete Schadensfolgen aus (vgl. Mannino 2020). Vielmehr liegt es daran, dass andere Handlungstypen aus tierrechtlicher Sicht noch bedeutend wichtiger sind.
Betrachten wir dazu eine menschenrechtliche Analogie: Bevor die Sklaverei – vor nicht langer Zeit – zurückgedrängt wurde, entstammten zahllose Konsumgüter der Sklavenarbeit. (Auch heute finden sich in den Produktionsketten vieler Güter Zwangsarbeit und Sklaverei. In absoluten Zahlen gibt es aufgrund des Bevölkerungswachstums vielleicht mehr Sklaven als jemals zuvor in der Geschichte, trotz des drastischen relativen Rückgangs. In den elektronischen Geräten, mit denen wir diesen Text schreiben – und Sie diesen Text lesen – steckt wahrscheinlich Sklavenarbeit.) Entsprechende Produkte nachzufragen, bedeutete und bedeutet also die Unterstützung massiver Menschenrechtsverletzungen durch den individuellen Konsum. Folgt daraus, dass es für Menschenrechtler*innen zwingend war und ist, so umfassenden Konsumverzicht zu üben, dass der Konsum zur erheblichen Bürde wird, die in der Folge womöglich auch das gesellschaftlich-politische Engagement für Menschenrechte behindert?
Das scheint nicht der Fall zu sein. Zwingend war es zu allen Zeiten, selbst keine Menschen zu versklaven und keine Sklaven zu halten. Wenn die Schadensfolgen, die vom eigenen Konsum ausgehen, jedoch hinreichend indirekt, probabilistisch und unter Mitwirkung hinreichend vieler anderer (nicht-kooperativer) Konsument*innen zustande kommen, dann scheint die vollkommene Unterlassungspflicht zur unvollkommenen zu werden – zumindest dann, wenn der Konsumverzicht einem erhebliche Bürden auferlegt und andere Formen des Engagements behindert, die menschenrechtlichen Katastrophen oft effektiver entgegentreten.
Deshalb kann es aus menschenrechtlicher Sicht durchaus erlaubt sein, Produkte zu konsumieren, die aus Sklavenarbeit stammen. Es ist dann jedoch umso mehr geboten, sich effektiv zu engagieren und insgesamt hinreichend viel gegen die Menschenrechtsverletzungen zu tun: Darauf – und nicht auf den Konsumverzicht allein – laufen unsere unvollkommenen menschenrechtlichen Pflichten nämlich hinaus. Wir könnten beispielsweise einen Teil unserer Arbeits- oder Freizeit in die zivilgesellschaftliche und politische Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen investieren; wir könnten einen erheblichen Teil unseres Einkommens oder Vermögens an strategisch kompetente Menschenrechtsorganisationen spenden; und wir könnten versuchen, Technologien und Wirtschaftszweige mitzuentwickeln, die die Menschenrechtsverletzungen mit guter Wahrscheinlichkeit obsolet werden lassen.
Analog kann es aus tierrechtlicher Sicht erlaubt sein, sich im individuellen Konsumbereich nur beschränkt zu engagieren (und beispielsweise nur auf Produkte aus Massentierhaltung zu verzichten), wenn man dafür etwa gesundheitliche Gründe geltend machen kann. Umso stärker geboten ist dann allerdings ein großes Engagement – mit Geld, Zeit und Willenskraft – gegen die in unserer Gesellschaft milliardenfach stattfindenden Tierrechtsverletzungen. Dieses Engagement scheint aus tierrechtlicher Sicht noch bedeutend wichtiger als der Konsumverzicht, weil es geeigneter ist, der tierrechtlichen Katastrophe, in der wir leben, ein Ende zu bereiten. In Kombination mit diesem Engagement (und nur so) scheint es aus tierrechtlicher Sicht vertretbar, keinen umfassenden Konsumverzicht zu üben. Andernfalls müsste im Konsumbereich mehr getan werden – wobei ein umfassender Verzicht allein wohl nicht genügen würde, die unvollkommene Pflicht zu erfüllen, der tierrechtlichen Katastrophe hinreichend entgegenzuwirken. (Anzumerken ist hier, dass wir uns damit keineswegs auf einen “Konsequentialismus der Rechte” festlegen: So wie es zum Beispiel eine vollkommene Unterlassungspflicht bzw. strikte verboten ist, selbst Sklaven zu halten, ist es strikte verboten, ohne große Not selbst Tiere zu töten, etc.)
Dabei sind neben dem zivilgesellschaftlichen und politischen Engagement technologische und wirtschaftliche Interventionen nicht zu vernachlässigen (die natürlich nicht nur direkt, sondern auch auf zivilgesellschaftlichem und politischem Wege gefördert werden können): Die Förderung schmack- und nahrhafter pflanzlicher Fleischalternativen ist wichtig, ebenso die Entwicklung des im Labor kultivierten Fleisches hin zur kommerziellen Rentabilität. Ein Staat wie Deutschland könnte das bislang mickrige globale Investitionsvolumen in die Clean Meat-Technologie aus dem Labor ($1 Mrd./Jahr) im Alleingang vervielfachen. Die Wahrscheinlichkeit ist intakt, dass die Technologie dadurch (viel früher) zum globalen Exportschlager würde. Das würde Billionen Tierrechtsverletzungen verhindern und der politischen Tierrechtsforderung mächtig Schub verleihen. Denn der Widerstand gegen die Tierrechte rührt ganz wesentlich daher, dass sie dem Magen nicht behagen.
Literaturverweise:
Mannino, A. & Moreno, M. (2022). Alle Tiere sind gleich – nur manche gleicher? Zur Plausibilität einer unitaristischen Ethik. In: Mannino, A. & Moreno, M. (Hg.). Peter Singer: Alle Tiere sind gleich (Reihe Great Papers Philosophie, Übersetzung und Kommentar). Stuttgart: Reclam.
Mannino, A. (2020). Why leave the car at home, if that doesn’t save the climate? A consequence-based approach to an altruistic public goods problem. Grazer Philosophische Studien 97, 693–704.
Rorheim, A. et al. (2015). Cultured Meat: An Ethical Alternative To Industrial Animal Farming. Sentience Politics – Policy Paper Series.
Marina Moreno studiert am Munich Center for Mathematical Philosophy der LMU München Logik, Wissenschaftstheorie und formale praktische Philosophie.
Adriano Mannino forscht an der LMU München im Bereich der Ethik und Entscheidungstheorie und leitet das Solon Center for Policy Innovation der Parmenides Stiftung in München-Pullach.