23 Sep

Ernährungsethik, Essen und Kommunikation

Von Ines Heindl (Flensburg)


„Einst war fleischloses Essen gekochte Weltverbesserung, heute essen wir Gemüse, weil es schmeckt. Erst ohne Ideologisierung wurde vegetarisches Essen populär – also hört auf mit dem Moralisieren!“ Der Veggieday der Grünen ist eine dumme Idee.

Welt am Sonntag, 05. März 2013

Tischgemeinschaften der unterschiedlichen Esskulturen bringen Menschen zusammen. Als soziales Totalphänomen verbindet das Essen Menschen und prägt ihre Kommunikation. Zentral ist das jeweilige Konzept der Gastlichkeit einer Mahlzeit, das wie ein Beziehungs- und Schutzkonzept in der Gemeinschaft ausgehandelt wird. Über Aspekte der reinen Nahrungsaufnahme und des geteilten Genusses nehmen heute Diskurse von Bedürfnissen und Wertvorstellungen einer Identitätssuche immer größeren Raum ein.    

Der sozio-kulturelle Blick auf heutige Ess- und Lebensstile verdeutlicht, dass die wenigen interdisziplinären Analysen von Wissenschaft und Praxis zwischen Ernährung und Gesundheit, Philosophie und Ideologie eine hochemotionalisierte Ernährungslandschaft freilegen. Der essende Mensch schafft sich ein sinn- und identitätsstiftendes Ordnungssystem und handelt die jeweiligen Ebenen in Diskursen aus. Vegetarismus und Veganismus werden in dem Bedürfnis nach Abgrenzung bzw. Zugehörigkeit zu Ausdrucksformen einer strategischen Kommunikation.

Begriffsklärung | Ernährung vs Essen
Hier handelt es sich nicht um synonyme Begriffe: „Gegessen wird mit den Sinnen, ernährt wird mit dem Verstand.“ Ernährung wird mit kognitiven und gesundheitsorientierten Aspekten assoziiert, Essen hingegen mit emotionalen Prozessen und Genuss. Werden die Menschen zu den Begriffen Essenund Ernährungbefragt (Spontanassoziationen), so unterstreicht Essen positive Bewertungen: der gute Geschmack, die soziale Atmosphäre beim Essen oder die wohlige Sättigung. Ernährung steht eher für naturwissenschaftliche Erkenntnisse: Nähr-/Wirkstoffgehalt der Lebensmittel, Gesundheitswert, Fettgehalt bzw. Auswirkungen einer richtigen oder falschen Ernährung auf das Körpergewicht. Es entstehen Widersprüche zwischen Kopf und Körper, weshalb die Menschen anders essen, als sie sich ernähren sollten. Die wiederholten begrifflichen Auseinandersetzungen zwischen Essen und Ernährung lassen dabei vor allem eines vermissen: Die grundlegende Bedeutung von Sprache, Denken, Wirklichkeit, die der Mensch auch im sozialen Raum der Tischgemeinschaften strategisch einzusetzen weiß.

Ernährungsethik und Kommunikation

Denn wo und wie entstehen Deutungshoheiten einer gesunden Ernährung zwischen Wissen und Handeln? In der Mitte der Gesellschaft angekommen, erreicht uns das Thema über eine Flut von Informationskanälen zwischen Tradition und Moderne. Den Bedeutungsgehalt bestimmt jedoch der Mensch in seinem sozialen Umfeld und dort werden die Bezüge ausgehandelt: Das Gute und Böse von Nahrungs- und Ernährungssystemen wird bestimmt und festgelegt und liefert so einen Orientierungsrahmen. Was fehlt, ist Essen als Mittel der Kommunikation zu verstehen, denn Essen ist Reden mit anderen Mitteln, was es zu entziffern gilt.

Essen als Kulturphänomen
Küchen und Rituale an den Tischen der Gemeinschaft sind Offenbarungen über Kulturen. Länder und ihre Sitten des Kulinarischen (lat. culina: die Küche) haben Koch-, Ess- und Tischordnungen, Rezepte, Speisen und Küchen als Orte des Geschehens hervorgebracht. Das Einende und Trennende zeigt sich vor allem in den Mahlzeiten als Kommunikationsanlässe, sie bildeten überall und zu allen Zeiten eine Quelle von Lust und Leid, förderten die Gemeinschaft oder die Individuation, waren Zeichen von Macht, Liebe oder Hass. Eingebettet in Alltag und Festtag, fungierten sie als Erziehungsmittel. Essen und Trinken erschöpften sich nie in der bloßen Stillung von Hungergefühlen oder in der Beachtung von Nährwertempfehlungen. Essen und Trinken sind zuerst menschliche Grundbedürfnisse, dann aber Kommunikationsformen unterschiedlicher Kulturen und individueller Handlungen, die nicht delegiert werden können. Insgesamt prägt diese Komplexität den Alltag und Festtag der Menschen in einem Ausmaß, dass man das Verständnis von Essen und Trinken als ´soziales Totalphänomen` des Soziologen Marcel Mauss aus dem Jahre 1923 fortschreiben kann.

Befragt man Menschen nach ihrem Verständnis von Essen und Kommunikation, so fallen ihnen stets Esssituationen ein, deren Atmosphäre gute Gespräche bei den Mahlzeiten fördern: Alle sitzen am Tisch, das Essen ist aufgetragen, keiner springt auf oder läuft davon und nun beginnt ein immer wieder spannender Prozess der Gespräche, der fast alles zulässt. Besonders glückliche Momente entstehen, wenn Sorgen und Nöte sich im Gespräch auflösen. Wenn dann die samtige Konsistenz des Schokoladenpuddings umso besser schmeckt, so ist das der Ausgangspunkt für erinnerte Essmuster, die sich jederzeit wieder beleben lassen in Duft, Geruch und Geschmack. Eine Tischgemeinschaft tastet sich langsam vor, wenn schlechte Noten oder Misserfolge zu offenbaren sind. Auch die Bereitschaft, von Enttäuschungen und Trauer zu sprechen, braucht Zeit. Gesprächspartner:innen arbeiten sich sozusagen gemeinsam in die Tiefe vor. Erfolge, Freude und Ärger dagegen sprudeln heraus und verschaffen sich schneller Gehör. Dieses Verständnis von Mahlzeiten, Tischgemeinschaft, Essen und Kommunikation ist abhängig von der Fähigkeit, zuhören zu können. Eine gute Küche und ein gutes Essen fördern die Atmosphäre für eine gelingende Kommunikation. So ist jeder Meister der Kochkunst auch ein Meister der Kommunikation. Literatur und Medien (Filme und Werbung) sind voller Beispiele.

Essen ist Kommunikation | Diskursebenen einer guten Ernährung
In diesem Sinne bedeuten Mahlzeiten mehr als die reine Nahrungsaufnahme. Verschiedene Kulturmerkmale wie ´Kult um das Essen` oder auch als ´Statussymbol der Kulinarik´ begleiten das menschliche Mahl. Unsere Esskultur ist an soziale Settings gebunden. Innerhalb der Sozialisation des Menschen gestaltet sich das Hineinwachsen in Gemeinschaften, die Aneignung der naturgegebenen, ererbten, psychischen und soziokulturellen Zusammenhänge über Interaktions- und Kommunikationsprozesse, deren Mittel Tag für Tag auch die Nahrungsmittel sind.

Auf der Suche nach diesen Zusammenhängen, wie Menschen ihren geschilderten Essmustern in ihren Lebensläufen Sinn verleihen, erforsche ich seit 2005 die Lebensberichte von Frauen und Männern. Der Fokus liegt auf narrativ-biografischen Forschungsmethoden, auf Erzählmustern einer Sinngebung subjektiv erlebter Esssituationen und gelebten Essverhaltens. Die im Interview erinnerten und erzählten ´Mikrogeschichten` eröffnen Deutungen einer ´Masternarrative`, die den erzählten Lebenslauf der Proband:innen sinngebend überspannt. Es geht dabei um Auswahl, Kommunikation, Zeitpunkt und Angemessenheit des Erzählten. Essmuster als Mittel der Kommunikation lassen sich herausschälen – wiederkehrende Erzähl- und Gestaltungseinheiten – aus denen, so die Hoffnung, pragmalinguistische (Spiel)-Regeln abgeleitet werden können. Der Stand der Auswertung kulinarischer Diskurse lässt z. Zt. vier Ebenen erkennen:

  1. Kommunikative Regieanweisung einer Mahlzeit
  2. Reden über das Kochen und Essen
  3. Gespräche und die kommunikative Atmosphäre beim Essen 
  4. Das Essen selbst (Auswahl, Gestaltung, Verzehr) als Mittel von Ausdruck und Identität

Ad 1. Kolleg:innen treffen sich in der Mittagspause zum Essen in einem italienischen Restaurant. Die Bestellungen sind aufgegeben, das Warten eröffnet Zeit für Gespräche, die während der Arbeitszeiten an den Arbeitsplätzen kaum möglich sind. Nun kommen die Speisen aus der Küche, die Bedienung ruft schon auf dem Weg zum Tisch: „Vorsichtig, heiß…! Wer war noch die Pizza bolognese, die Antipasti?“ Und so geht es weiter, bis alle Speisen am Platz sind, die teamfördernden Gespräche sind unterbrochen. Als Gast merkt man schnell, ob in der Ausbildung einer Servicekraft Kommunikation von Bedeutung ist. Zu den Aufgaben der Vermittlung zwischen Küche, Speisekarte und Esstisch gehören Beratung und Aufnahme der Speisenfolge sowie der spätere Ablauf beim Servieren der Speisen. Er/sie merkt sich die Bestellung für jeden Gast, so dass Unterbrechungen der Gespräche bei Tisch nur noch in wichtigen Momenten nötig sind. 

Ad 2. Der Anlass – Eine Einladung von vier Studentinnen, die der Gastgeberin beim Umzug geholfen haben, führt zu folgenden Überlegungen: „Welches Restaurant sollte ich wählen, damit jede der jungen Frauen ihre Speise, je nach Verträglichkeit und Bekömmlichkeit findet?“ Die Wahl fiel auf ein Tapas-Restaurant. Die Stimmung war gut, als mit einem Begrüßungsgetränk die Speisekarten herumgereicht wurden. In die entstehende Ruhe beim Lesen gibt eine der jungen Frauen folgende Hinweise: Sie entnimmt der Speisekarte sämtliche Allergene und Auslöser für Unverträglichkeiten, liest diese vor und verdammt vor allem die Datteln im Speckmantel. Die Köpfe der Kommilitoninnen sinken stumm in die Speiskarten. Das Erscheinen der Bedienung wirkt erlösend, verschiedene Tapas werden ausgesucht, auch Datteln im Speckmantel, und ein fröhlicher Abend kann beginnen. Hier offenbart sich ein ernährungsethisches Verständnis, dass sich in der Kommunikation bei Tisch zeigt: Das Gute und Böse wird in den Speisen festgelegt. Dabei geht es nicht um die Frage: Gibt es Allergien bzw. Nahrungsunverträglichkeiten und was ist jeweils zu tun? Aus der Sicht von Essen und Kommunikation ist hier die Frage: Warum hat die junge Frau das Bedürfnis, aus der Zutatenliste das Negative vorzulesen? Ist es Selbstdarstellung oder das Bedürfnis nach Unterscheidung? Dies bleibt im Verborgenen der Tischgemeinschaft, wie so oft, wenn Essen und Kommunikation nicht hinterfragt werden.

Ad 3. Die privaten häuslichen Tischgemeinschaften in der Nachkriegszeit des 20sten Jahrhunderts mit präzisen Vorgaben der Essenszeiten (8 Uhr Frühstück, 12 Uhr Mittagessen, 18 Uhr Abendessen) und elterlich dominierter kommunikativer Strenge bei Tisch trieb die Jugendlichen der 1968er Generation in die Fast-Food-Restaurants – das erste deutsche Restaurant von McDonalds wurde 1970 in München eröffnet. Bis heute wird vor allem die Ernährungsqualität von Fast Food in ihrer gesundheitlichen Wirkung diskutiert als die kommunikative Bedeutung dieser Speisen für die Essstile junger Leute. Essen im Fast-Food-Restaurant ist unkonventionell, fast alles ist erlaubt: ohne Teller, Glas und Besteck, direkt aus der Hand, man stützt die Ellenbogen auf den Tisch, isst, den Mund weit aufreißend, nach vorne gebeugt, kleckert und schmiert. Da XXL-Burger nichts anderes zulassen, sind die Backen prall gefüllt und gleichzeitiges Reden ist sowieso erlaubt.

Ad 4. Auf der Suche nach dem verlorenen Geschmack
Mit der vierten Diskursebene erreichen wir die entscheidende Stufe, auf der das Essen selbst zu einem Mittel der Kommunikation wird. Das narrativ-biografisch geprägte Interview mit einem männlichen Probanden (53 J.) führt in den Geschichten seiner Erzählungen durch einen Lebenslauf, der den Geschmack einfacher Speisen widerspiegelt, die im Nachkriegsdeutschland, auch der DDR, typisch waren: „Meine Großmutter hat mir als Kind jeden Wunsch von den Augen abgelesen, vor allem essensmäßig. Es gab ja nicht viel, aber für Schmorbraten mit Rotkohl und Klößen hab ich alles steh’n gelassen.“ Und nun beginnt eine Beschreibung der Düfte und Aromen im Geschmack von Rotkohl und Sauce, deren Zutaten der Interviewpartner nur erahnen kann. Sie bleiben jedoch mit Emotionen (Wärme, Geborgenheit, sich aufgehoben fühlen, ohne Netz und doppelten Boden über alles reden können) verbunden, nach denen sich der erwachsen gewordene Mann bis heute sehnt, wie seine Trauer um den Verlust dieses Geschmacks zeigt. Bis zu diesem Zeitpunkt des Interviews nähren alle Mikrogeschichten des Erzählers seine „Suche nach dem verlorenen Geschmack“. Doch dann ändert sich etwas in der Erzählperspektive, während er Speisen, d. h. ihren Geschmack, aus Sicht der Beziehung beschreibt, in der er zur Zeit des Interviews lebt. Der Erzähler kommuniziert sich nachdenklich in eine Chance der Veränderung, die er am Ende des Interviews leise und zögerlich formuliert: „Vielleicht sollten wir Schmorbraten, Rotkohl und Klöße vom Speisenplan streichen, denn da wird sie [die aktuelle Partnerin] nie gewinnen können, und das macht sie traurig?“

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es nicht wichtig ist, was sich später in der Wirklichkeit des Alltags dieses Probanden tatsächlich ändern mag. Wesentlich ist, dass die Forschungsmethodik der Narrative vorgibt, im Erzählten, d. h. in der Kommunikation, nach wiederkehrenden Spuren und Mustern zu suchen, um sie im Essverhalten der Menschen besser zu verstehen.

Fazit: Für eine Philosophie der Gastlichkeit
Wenn Nahrung und Ernährung, Essen und Speisen als Mittel der Kommunikation verstanden werden und in der Trias von Esskultur, Kommunikation und Tischgemeinschaft erkennbar wird, wie sich der geistig, kulturell und politisch angelegte Wandel einer Gesellschaft vollzieht, wo zeigen sich dann heute die Befürchtungen vor und Hoffnungen auf Veränderungsprozesse, die in der Ernährung und den Diskursen der Essmuster zum Ausdruck kommen?

Einerseits droht ein Szenario, in dem Küchen, Kochen und Tischgemeinschaften überflüssig geworden sind: Fertigprodukte, Kühl-Gefrier-Kombinationen und Geräte zum Aufwärmen sind ausreichend für eine Nahrungsversorgung, bei der sich jede:r zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Belieben bedient und Essen zur kauenden Nebenbeschäftigung wird. Anderseits bleibt die Sehnsucht nach Küchen, Essen und Gastlichkeit als Mittelpunkt der sozialen Gemeinschaft von Leben und Wohnen, in der selten alleine gekocht und gegessen wird. Die alltäglichen Erfahrungen durch die Corona-Pandemie, zurückgeworfen auf Home office und Home kitchen, offenbarten die Sehnsüchte nach dem Essen und Reden an Tischen der Gemeinschaft in Kita, Schule, Betrieb und der Gastronomie.

Was auch immer Menschen kochend und essend gemeinsam tun, es fördert Beziehungen, soziale Gemeinschaft und erhält die Kommunikation. Es ist ein weiter Weg vom simplen „Man nehme …“ bis zur Vereinigung der Fähigkeiten von Ernährung und Genuss im Geschmack. Das kulinarische Wissen der Liebespaare, Familien und Gesellschaften wartet darauf, im Zentrum sozialer Gemeinschaft unterschiedlicher Ess- und Lebensstile immer wieder neu entdeckt zu werden. Tischgemeinschaften eröffnen eine Vielzahl sinnlicher und kommunikativer Räume.


Autorin:

Prof`n Dr. em. Ines Heindl wurde im Saarland geboren, studierte Oecotrophologie in Bonn und lebt seit 1976 in Schleswig-Holstein. 1980 wurde sie an die heutige Europa-Universität Flensburg berufen. Seither engagiert sie sich in Lehre und Forschung für das Themenfeld: Ernährung, Gesundheit, Konsum und Bildung. Im Zentrum stehen die Altersgruppen von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung. Seit 2005 bestimmt der Zusammenhang von Ernährung, Esskultur und Kommunikation ihre transdisziplinäre Forschung.

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