„Iss, was du retten willst.“ Gastrosophische Perspektiven zur Ethik des Essens
Von Wolfgang Schäffner (Salzburg)
Essen und Wissen
Es mag überraschen: Aber schon im ältesten erhaltenen literarischen Text, dem mesopotamischen Gilgamesch-Epos, dessen Überlieferung bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht, sind Essen und Wissen (Kultur) eng miteinander verwoben. Die Zivilisierung Enkidus, des Halbtiers aus der Wildnis, erfolgt in drei Schritten: durch die Erfahrung der menschlichen Sexualität, das Erlernen des Essens und Trinkens und schließlich durch die Freundschaft mit Gilgamesch, dem Halbgott.
Brot legten sie ihm vor,
Bier setzten sie ihm vor,
(aber) Enkidu aß das Brot nicht, er schaut und guckt.
Brot zu essen hatte er nicht gelernt, und
Bier zu trinken verstand Enkidu nicht.
Da sprach die Dirne zu ihm zu Enkidu:
>>Iss das Brot, Enkidu, das die Menschen brauchen,
trink vom Bier, wie es Brauch ist im Lande.<<
Das Gilgamesch-Epos, Reclam 2009, 43
Wie in der alttestamentarischen Geschichte von Adam und Eva ist es ein Essensakt, der zur Menschwerdung führt. Wenn auch der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis zur Vertreibung aus dem Paradies führt, so beginnt doch erst damit unsere irdische, menschliche Existenz und „Essistenz“ (H.Lemke).
Ohne die zahlreichen symbolischen Interpretationen dieser Ursprungsmythen geringzuschätzen, ist es doch bemerkenswert, dass darin das Essen, die reale Nahrungsaufnahme, solch eine zentrale Rolle spielt.
Dies umso mehr, da es in der westlichen Gesellschaft und ihrer Philosophie lange „für ausgemacht galt, dass kein größerer Gegensatz vorstellbar ist als der zwischen Ernährung und Erkenntnis, zwischen Geschmack und Philosophie, Essen und Wissen.“ (Harald Lemke)
In guter platonischer Tradition galt Essen als ethisch und philosophisch irrelevant, ganz im Sinne des folgenden Auszugs aus dem Dialog Phaidon:
Scheint dir, fragt dort der Begründer der westlichen Philosophie,
dass es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu
geben um die Lüste am Essen und Trinken? – Nichts weniger wohl
als das, sprach Simmias. <…> –
Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, dass ein solcher
sie groß achte? <…> –
Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte
Philosoph.
So war es auch nicht sonderlich verwunderlich, dass unserem 2009 erstmals gemeinsam mit der Universität Salzburg durchgeführten Masterlehrgang „Gastrosophische Wissenschaften. Ernährung – Kultur – Gesellschaft“ mit Skepsis und akademischem Naserümpfen begegnet wurde. Mehr als 100 Masterarbeiten und einige Jahre später hat sich die gesellschaftliche Situation und die wissenschaftliche Akzeptanz des Themas erfreulicherweise verändert (wenn auch noch lange nicht hinreichend).
Das liegt im wissenschaftlichen Bereich zum einen an der stärkeren Rezeption englischsprachiger Forschungsrichtungen wie den Food Studies und den Agro-Food Studies (s. Ermann, Langthaler u.a.: Agro-Food Studies. Eine Einführung, 2018) durch die deutschsprachige Science Community, zum anderen an (zivil)gesellschaftlichen Bewegungen und NGOs, die das Thema Ernährung im Kontext der Nachhaltigkeitsforschung und des Klimawandels im Fokus haben. Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit für regionale, saisonale und biologische Ernährung noch einmal erhöht und für die globalen Auswirkungen einer fehlgeleiteten Agrarpolitik sensibilisiert. Aber auch philosophisch hat sich einiges getan: zahlreiche Publikationen, Filme und Dokumentationen beschäftigen sich nicht mehr nur ernährungswissenschaftlich mit unseren Ernährungsverhältnissen.
Gute, saubere und faire Lebensmittel – so die Zielsetzung von Slow Food International – sollen der globalisierten Agrarindustrie Paroli bieten.
Aber was sind gute, saubere und faire Lebensmittel? Das ist eine ethische, eine gastrosophische Frage.
Was aber ist Gastrosophie?
Wir verstehen darunter das Zusammenwirken und fundierte Nach- und Zusammen-Denken aller natur- wie geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen, die sich auf Ernährung beziehen und damit beschäftigen. Dies betrifft jeden Aspekt, von der Erzeugung, der Verarbeitung, der Distribution bis hin zum Konsum, von der „materiellen“, der technischen Seite, bis hin zur ideellen, ästhetischen und mentalen, zu Prägungen, Vor- und Einstellungen, Esskultur und Werten in verschiedenen Epochen und Gesellschaften, in den diversen „Lebenswelten“.
Ziel der gastrosophischen Praxis ist es, die Zusammenhänge unseres täglichen Essens in den internationalen Kontext zu stellen, deren philosophische Hintergründe aufzuzeigen und sie mit unserem Verantwortungsgefühl zu verbinden. Wir setzen uns für eine weltweite Ernährungswende ein und wollen ein entsprechendes Umdenken aktiv mitgestalten.
Philosophisch gesehen, ist es eine Theorie des Essens, eine aktuelle Philosophie der menschlichen Essistenz“(Harald Lemke, Ethik des Essens (2016), 56), die sich zum einen als interdisziplinäre Wissenschaft, zum anderen als normative Theorie versteht. Ihr Ziel ist es, „eine Ethik des guten Essens als eine Praxisform eines ethisch guten Lebens denkbar zu machen“ (ebd. 57), die Realisierung von „GOOD FOOD FOR ALL“.
Der Begriff selbst, ein Neologismus,bedeutet soviel wie „Weisheit des Essens“ oder „Wissen um die richtige Ernährung“ und setzt sich aus den altgriechischen Wörtern σóφos (sophos = kundig, gebildet weise) und γαστήρ (gaster = Magen) zusammen. Erfunden hat ihn der Philosoph und früher Sozialismus- und Utopietheoretiker (ca. 1820) Charles Fourier, der ihn erstmals verwendet, um ihn von „la gastronomie“ zu unterscheiden. Weitergedacht haben ihn Carl Friedrich von Rumohr in seinem Buch „Geist der Kochkunst“ (1822), in dem er Fragen der Esskultur als umfassende Thematik der Gesellschaft, Politik und Ästhetik präsentiert, Jean Anthelme Brillat-Savarin in seiner „Physiologie des Geschmacks“ (1826), Antonius Anthus in seinen „Vorlesungen zur Esskunst“ (1838) und schließlich Eugen Baron Vaerst schon im Titel: „Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel“ (1852).
Zu den wichtigsten Vordenkern der Gastrosophie – und damit als Gegenspieler der klassischen Diätmoral– zählen Sokrates, Epikur, Rousseau, der Kant der Kritik der Urteilskraft und der Tischgesellschaft, Ludwig Feuerbach mit seinem berühmten Diktum „Du bist, was du isst“ und Friedrich Nietzsche, um nur die wichtigsten zu nennen (vgl. Lemke (2016).
Was aber ist nun das Gute aus gastrosophischer Sicht?
Am schönsten hat es Epikur formuliert:
„Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zu ihr.“[1]
Alles beginnt mit dem Schmecken (Nietzsche hat auf die gemeinsame Wurzel (sapio) von schmecken und Weisheit hingewiesen)[2], dem Genuss. Auch Slow Food war anfänglich eine Bewegung, der es primär um das Recht auf Geschmack ging, ehe Carlo Petrini erkannte, dass das ethisch Gute dafür eine unabdingbare Voraussetzung ist (Buono, pulito e giusto – gut, sauber und fair.)
Gutes Essen beginnt aus gastrosophischer Sicht mit der Erkenntnis, dass unser „Essen komplexe Welt- und Selbstbezüge herstellt“ (Lemke) und damit politisch ist. Jeder Essensakt ist ein politischer Akt und eine ethische Entscheidung. Das soll uns aber nicht den Magen verderben, sondern im Gegenteil zu einem politischen Hedonismus ermutigen: Bio-Produkte aus regionaler Landwirtschaft machen es möglich: Das „(ethisch) Richtige“ ist zugleich auch „das (geschmacklich) Gute“.
Freilich verbindet sich damit sofort wieder eine Reihe anderer ethischer Fragen: Wer hat die Möglichkeit, sich sein Mahl frei auszuwählen. Wer hat Zugang zu welchen Lebensmitteln, zu welchem Preis? Dürfen wir Tiere essen? Auf welche Kosten leben wir?
All diese Fragen und viele mehr verlangen nach interdisziplinären Forschungsarbeiten und Präzisierungen. Die 2015 beschlossenen SDGs (Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen könnten dafür ein Kompass sein. An alternativen Wirtschaftsmodellen (z.B.: Gemeinwohl-Ökonomie, Postwachstumsökonomie oder Donut-Ökonomie) fehlt es ebenso wenig wie an der wissenschaftlichen Beschreibung unserer planetaren Grenzen. Aus diesem Grund vertreten wir eine normative Ethik, die sich für gutes Essen für alle einsetzt. Weltweit leiden immer noch 690 Millionen Menschen an chronischem Hunger (Factsheet Welthunger-Index 2020) „Die Welt ist nicht auf Kurs“, wenn es um das Ziel 2 der Agenda 30 geht: den Hunger in der Welt bis 2030 vollständig zu besiegen.
Den Zusammenhang zwischen unserem täglichen Fleischverbrauch, dem Klimawandel und sozialer Gerechtigkeit sichtbar zu machen, wäre ein Beispiel für eine gastrosophische Intervention (Wir veranstalteten dazu eine philosophisch-künstlerisches Symposion im Nationalpark Hohe Tauern in Mittesill/Salzburg: „Klimawandel in der Küche“).
Die Herausforderungen sind bekannt und wurden gerade durch das neue GAP-Abkommen auch in Europa prolongiert: Die Lobbys der Agrar-Großindustrie haben sich großteils durchgesetzt. Vom Einsatz von Pestiziden bis zum Land Grabbing scheint wieder alles möglich.
„Was soll ich tun“, diese Frage stellt sich also mehr denn je. Eine mögliche philosophische Antwort darauf erscheint in diesem Kontext vielleicht widersprüchlich und provokant: Es ist das Experiment der „Ästhetischen Existenz“. Nicht im Sinne Kierkegaards als Opposition zur ethischen Existenz, sondern in der Bedeutung von Nietzsche und Michel Foucault als zugleich ethische Entscheidung zu einer künstlerischen Lebensform.
„Philosophie als Lebenskunst“(Wilhelm Schmid) , als ästhetische Existenz, meint die bewusste Gestaltung des Lebens und des Selbst. Als „Dichter im eigenen Leben“, im „Kleinsten und Alltäglichsten“ zugleich (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 3,538) dem eigenen Verhalten „Stil zu geben – eine große und seltene Kunst“ (ebd. 530). Eine solcherart gestaltete Ethik der Ernährung „berücksichtigt die verschiedensten Aspekte der Ernährung für Selbst und Welt und verknüpft die Ethik des Selbstverständnisses mit einer Ethik des Weltverhältnisses“ (Wilhelm Schmid).
Es ist absurd, sagt Carlo Petrini in einer berühmt gewordenen Rede, dass eine Unterhose von Armani mehr kostet als eine Mahlzeit. Wenn ich Schinken esse, wird er in ein paar Sekunden zu Carlo Petrini. Eine Unterhose von Armani bleibt immer außerhalb von Petrini.
Nimm eine Tomate und erkenne darin unsere Welt! (www.gastrosophie.net)
Dr. Wolfgang Schäffner
Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der SMC Studien und Management Center gGmbH (= Studienzentrum Saalfelden). Studiengangsleiter des Masterstudiengangs „Gastrosophische Wissenschaften. Ernährung – Kultur – Gesellschaft“ an der Universität Salzburg (gemeinsam mit Univ.Prof. DrDr. Gerhard Ammerer)
[1] Epicurus; Laskowsky, Paul M. (1988): Epikur–Philosophie der Freude. Briefe, Hauptlehrsätze, Spruchsammlung, Fragmente. 1. Aufl. [Frankfurt am Main]: Insel Verlag (Insel Taschenbuch, 1057), S. 94
[2]„Das griechische Wort, welches den »Weisen« bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausschmecken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden[363] macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigentümliche Kunst des Philosophen aus. (Friedrich Nietzsche, Der Philosoph im Tragischen Zeitalter der Griechen)