Warum ich kein Vegetarier bin

Von Konrad Ott (Kiel)


In den vergangenen Jahrzehnten wurden tierethische Forderungen gesteigert. Was zunächst im utilitaristischen Paradigma (Singer 1990) mit der berechtigten Forderung nach mehr Tierwohl und weitaus weniger Tierleid begann, wurde zur Forderung nach Tierrechten (Regan 1989), nach politischen Tierrechten (Donaldson & Kymlicka 2013) und zuletzt zur Forderung, auch das Leid von Wildtieren zu reduzieren (Nussbaum 2010, Horta 2017). Die Tierrechtsbewegung postuliert ein Recht auf Leben für alle „subjects of a life“ (Regan), was ein prima-facie-Tötungsverbot impliziert. Demnach bestünde eine moralische Pflicht, weder als Produzent*in noch als Konsument*in an der Produktion fleischlicher Nahrung zu partizipieren, die nicht „in vitro“ erfolgt, sondern auf der Schlachtung von Tieren beruht. Diese Forderung präsumiert, vom moralischen Sandpunkt aus überzeugend zu sein, und sie unterstellt, dass moralische Gründe alle anderen Arten von Gründen übertrumpfen (sog. „overridingness“). Die „overridingness“ moralischer Gründe wird häufig so verstanden, dass durch sie sämtliche außer-moralischen Gründe (tendenziell) belanglos, d.h. irrelevant werden. Sofern ein Thema überhaupt vom moralischen Standpunkt aus betrachtet werden kann, entwertet dessen Einnahme alle übrigen Gesichtspunkte, die dann nach dem Schema von Pflicht und Neigung behandelt und den bloßen Neigungen oder Konventionen zugeordnet werden können. Bei Kant sind Neigungen allerdings letztlich heteronom; heutige Ethiken des guten Lebens schließen nicht aus, dass Wertschätzungen authentisch sein können.

Die tierrechtliche Position unterscheidet sich grundlegend von der Auffassung, wonach Ernährungsstile eine Angelegenheit kultureller Lebensstile seien. In seiner Kritik an der Figur des moralischen Phantasten rechnet Kant die Ernährungsweisen sogar noch den „adiaphora“ zu. Diese Auffassungen möchte ich nicht verteidigen. In der Umweltethik hat sich ein Konsens etabliert, dass Lebensstile, die mit hohen Schadenskosten verbunden sind, individuelle Handlungspflichten nach sich ziehen können. Die moralische Relevanz von Tierleid steht außer Frage. Steht aber wirklich ethisch fest, dass alle empfindungsfähige Tiere Rechte haben? Warum sollten wir unter der Voraussetzung, dass die Moral alle „moral patients“ ausreichend schützt, nicht die Kategorie der Rechte für diejenigen Wesen reservieren, die verstehen können, was es bedeutet, Rechte auszuüben? Steht weiterhin fest, dass das Gradieren von moralischer Berücksichtigung etwa nach Spezieszugehörigkeit (Wal versus Sardine) unzulässig ist, weil uns das Gradieren bei „human marginal cases“ moralische Skrupel bereitet (Regan 1989, S. 112)? Könnte das Ersetzbarkeitsargument für Schwarm- und Rudeltiere nicht plausibel sein (Ott 1998)? Entwertet der Speziesismus-Vorwurf sämtliche Unterschiede zwischen Menschen und Tieren? Womöglich ist die Formel „Kantianismus für Personen, Utilitarismus für Tiere“ ethisch nicht abwegig. Ich möchte in diesem Beitrag nicht in den begründungstheoretischen Diskurs eingreifen (siehe Hiebaum 2012), sondern nur eine Möglichkeit eröffnen, mit Blick auf Fleischkonsum außermoralische Gründe stärker zu würdigen. Außer-moralische Gründe sind axiologisch, d.h. solche der Wertschätzung. Ich setze for the sake of argument keine Tierrechte voraus.

Kant unterscheidet bekanntlich zum einen negative Unterlassungs- von positiven Hilfspflichten und zum anderen vollkommene von unvollkommenen Pflichten. Kant selbst verstand die negativen Pflichten (wie das Lügenverbot) als vollkommene Pflichten, was zu der kontraintuitiven Position in der Schrift von 1797 führt, die sich gegen ein vermeintliches Recht wendet, aus Menschenliebe zu lügen. Die positiven Verpflichtungen zu Hilfe und Beistand hält Kant hingegen für unvollkommen, da zu ihrer Anwendung Klugheit erforderlich ist. Die fremde Glückseligkeit ist zwar ein Ziel, das zugleich Pflicht ist, aber niemand kann alle anderen glücklich machen. Man kann eine Pflichtenlehre nun so konzipieren, dass beide Unterscheidungen (positiv-negativ, vollkommen-unvollkommen) unabhängig voneinander gehalten werden. Dies erlaubt es, eine Vier-Felder-Matrix zu konstruieren, in der ein Feld negative, aber unvollkommene Verpflichtungen beinhaltet. Diese Art der Verpflichtung: unvollkommene Unterlassungspflichten könnte sich auf Veränderungen und Reduktionen einer bestehenden Praxis beziehen, die aus moralischen Gründen tiefgreifender Reformen bedarf, aber die Möglichkeit belässt, sie in transformierter Form aufgrund von außer-moralischen Gründen beizubehalten. Wenn die Konsequenzen einer verallgemeinert gedachten Handlungsweise mit hohen moralischen Übeln und außer-moralischen Schäden verbunden sind, so hat jede/r einen guten Grund, die Handlungsweise entweder einzustellen oder sie nach Ausmaß zu reduzieren (M. G. Singer 1975). Man kann bspw. die Individualpflicht, Treibhausgasemissionen zu reduzieren, als unvollkommene Unterlassungspflicht ansehen, die vielfach mit Zielen konfligiert, die man im Rahmen seiner Lebensführung realisieren möchte. Ich beziehe diese Art der Verpflichtung im Folgenden nur auf Fleischkonsum. Hier treffen nun ex hypothesi eine unvollkommene Unterlassungspflicht und außer-moralische Wertschätzungen aufeinander.

Ich esse praktisch kein Fleisch aus der industriellen Tiermast, aber ich bin kein Vegetarier. Hierfür kann ich folgende nicht-moralische Gründe anführen. Als Naturwesen sind wir Menschen omnivor; Fleischkonsum ist evolutionär adaptiv (Love & Sulikowski 2018). „Meat contains creatine (…) which improves muscular strength, size, and physical and neural performance. (…) Meat has a more complete profile of amino acids than do plant-based proteins” (Love & Sulikowski 2018, S. 1f). Die Domestikation von Nutztieren und die Viehzucht, die vor ca. 10.000 Jahren begann, zählt zu den Errungenschaften einer Lebensform, die die der Jäger und Sammler*innen hinter sich ließ. Domestikation und Zucht von Nutztieren ist eine Kulturleistung, die abzuschaffen eine Verarmung unseres Umgangs mit außer-menschlichen Lebewesen wäre. Die Tierrechtsbewegung tendiert zum Abolitionismus, da sich bei einem Tötungsverbot, das die Verpflichtung zur Altersversorgung aller Legehennen, Wollschafe und Milchkühe nach sich zieht, die Produktion von Eiern, Wolle und Milch wohl nicht mehr rentieren dürfte. Der Abolitionismus ist für mich eine kontraintuitive Konsequenz der Tierrechtsbewegung. Die Tiere hätten dann zwar ein Recht auf Leben, aber es würde (außerhalb von zoologischen Gärten) wohl kaum noch Tiere bestimmter Spezies geben (Schweine, Hühner, Schafe, Ziegen).  

Würde der moralische Standpunkt strikt universell verstanden, gälte das Verbot der Tötung empfindungsfähiger Tiere auch für nicht-westliche Kulturen (Jäger, Hirten, Fischer) bis an die Grenze der Zumutbarkeit (Hungern). Würde der moralische Standpunkt hingegen auf „westliche“ Kulturen eingeschränkt, so fragte sich, wo die Grenzen etwa an den Peripherien Europas verlaufen: Grönland, Finnland, Zypern, Armenien, wo Robben gejagt, Rentiere gezüchtet, Schafe gehalten und Fische gefangen werden. Die Einschränkung des Geltungsbereiches implizierte, dass an manchen Raum-Zeit-Stellen kulturelle Gründe der Beibehaltung einer tradierten Lebensform einer moralischen Forderung Paroli bieten können. Gilt eine geographisch-kulturelle Einschränkung der moralischen Forderung, so ist zu fragen, ob außer-moralische Gründe nicht generell bei der Fleischkonsumfrage Berücksichtigung finden dürfen, da man ansonsten moralische Verpflichtungen geographisch-kulturell und damit wohl immer willkürlich relativierte. Dürfen die Sami weiterhin Rentierfleisch essen, die Norweger*innen nicht? Muss in der Schulspeisung entsprechend strikt getrennt werden?

Die Naturseite des Menschen und die Kulturleistungen können freilich für moralisch belanglos erklärt werden. Das Alter einer Praxis sei moralisch irrelevant; der Mensch solle seine Naturseite moralisch disziplinieren, und letztlich könnten und sollten sich auch Sami, Innui und Massai pflanzlich ernähren. Oder genügt es zu wissen, dass der Vegetarismus in den urbanen Milieus Westeuropas verpflichtend ist, wo die Versorgung mit vegetarischen und veganen Nahrungsmitteln gut ist?

Friedrich Nietzsche hat im „Ecce Homo“ seinen Ernährungsstil mitgeteilt. Das möchte ich ebenfalls tun. Individuell betrachtet, wurde ich von Kindheit an an fleischliche Nahrung gewöhnt, da meine Eltern die Inhaber einer Fleischerei im Vordertaunus waren. Dieser Gewöhnungseffekt dürfe sich auch in der Physiologie meines Metabolismus und meiner Geschmacks- und Geruchsnerven niedergeschlagen haben. Meine Experimente mit vegetarischer und veganer Ernährung erbrachten immer, dass mein leibliches Grundbefinden sich allmählich zum Negativen hin veränderte, wenngleich eher moderat. Eine auf Dauer und vor allem im Winter unbekömmliche Diät schlägt sich, noch dazu in Verbindung mit beruflichem Stress, aufgrund des Leib-Geist-Nexus (physiologisch genauer: „bidirectional gut-brain-nexus“) auch mental nieder, bei mir in Missmut, Verdrießlichkeit, Lustlosigkeit, Gereiztheit etc., also in Befindlichkeiten und Stimmungen, die auch die Moralität negativ affizieren. Richtig ist allerdings, dass eine Ernährungsweise, die stark auf industriell verarbeiteter Nahrung beruht, den „gut-brain-nexus“ ebenfalls negativ beeinflusst (Barber et al. 2021). Die für mich aus eigener leiblicher Erfahrung bestbekömmliche Diät ist eine Mischung aus „indianisch“ und „mediterran“: Fisch, Obst, Salat, bestimmtes Gemüse, Fleisch, Nüsse, etwas Getreide.

Freilich kann man erwidern, dass man seine kontingente Herkunft überwinden können sollte, dass leiblich verspürte Bekömmlichkeit und Befindlichkeit moralisch irrelevant seien und dass jedwede Verbindung von Fleischkonsum und maskuliner Identität moralisch und gender-politisch abzulehnen sei. Die in der Philosophie vielfach geforderte Aufwertung der Leiblichkeit mitsamt der Phänomenologie des leiblichen Spürens müsse ihre Grenzen dort haben, wo Fleischkonsum mit wertgeschätzten leiblichen Attributen assoziiert werde. Insbesondere die Assoziation von Fleischkonsum und Virilität sei ideologiekritisch selbst dann zu destruieren, wenn sie nicht bloß auf leiblichen Evidenzen, sondern auch auf wissenschaftlichen Befunden beruhte (hierzu Love & Sulikowski 2018).  

Der Mensch ist seit der Zähmung des Feuers nun auch ein „kochendes“ Wesen. Kulturell gesehen, würden die diversen kulinarischen Traditionen, d.h. würde indische, die chinesische, die japanische, die skandinavische, die mediterrane, die levantinische Küche usw. bei gebotenem Verzicht auf Fleisch verarmen. Dies stellt überhaupt nicht in Abrede, dass der Vegetarismus es zur Kochkunst bringen kann. Interkulturelles Kochen ist eines meiner Hobbies und die Zubereitung eines Festmahles im Kreis der Familie oder für Freunde ergibt das, was Kant die Freuden eines geselligen (Fest-)Mahles nannte. Auch in der Küche des Volkes sind Fleischgerichte für Sonn- und Feiertage vorgesehen. Ich vertrete also eine Art „Festmahl“-Konzeption von Fleischgenuss, wie sie auch Meyer-Abich vertrat (1997, S. 428). Hochwertiges und gut zubereitetet Fleisch bedeutet Geschmacksintensität, d.h. kulinarischer Genuss. Das tote Tier wird im intensiven kulinarischen Geschmack von Menschen sinnlich-geistig „erhöht“, ja veredelt. Es wird dabei auf eine dankbare Weise wertgeschätzt, die Tierrechtler*innen wohl kaum nachempfinden können, meine Freundin Jeanette Armstrong von der Okanagan-Sylx-Nation jedoch sehr wohl, deren Angehörige sich auch von Lachs, Büffel, Hirsch, Gans u.a. ernähren.

Gewöhnung, Bekömmlichkeit, leibliches Befinden, Genuss, Kochkunst, gemeinsames Fest-Mahl, kulinarischer Geschmack sind Arten der außer-moralischen Wertschätzung. Diese Wertschätzungen können und sollen einher gehen mit Selektion und Reduktion von Fleischkonsum. Unvollkommene Unterlassungspflichten sind keine Erlaubnisse, sondern fordern Reduktion und stellen Bedingungen. Reduktion folgt der Maxime: „Weniger ist mehr“. Negative Selektion, also eine partielle Unterlassung betrifft alles Fleisch, das mit den bekannten Nachteilen der industriellen Fleischmast verbunden ist. Also muss man sich auf die Suche nach „gutem“ Fleisch machen. Das EU-Bio-Siegel ist für mich die unterste Grenze. Da ich der Auffassung bin, dass Jagd eine waldökologische Notwendigkeit ist (und die Wildbestände zu hoch sind), ist Wildfleisch die erste Wahl. Ein Jagdverbot würde im Klimawandel zu einer drastischen Erhöhung der Wildschweinbestände führen und die Anzahl der Wölfe ließe sich kaum so stark erhöhen, dass sie menschliche Jäger*innen substituieren könnten. Und das Tierleid wäre bei Wolfsbejagung weitaus höher als bei professioneller Ansitzjagd.

Fleisch von Tieren, die auf Weideland extensiv gehalten werden, kommt hinzu, da extensiv beweidetes Grünland zum Arten- und u.U. sogar zum Klimaschutz beiträgt. Offenhaltung von Landschaften mit Naturschutzzielen kann durch Beweidung mit robusten Rassen von Rindern, Schafen und Ziegen erfolgen. Fleisch aus der Wanderschäferei, die agrarpolitisch zu fördern wäre, kann dem Landschaftsschutz zugutekommen. Alte Nutztierrassen sind unter genetischen Aspekten erhaltenswert. Ich würde es niemandem verübeln, der/die eine nicht-vegetarische Suffizienz-Konzeption der Ernährung vertritt und Kleinviehzucht (Kaninchen) betreibt. Die bisherigen Experimente mit tierfreier Landwirtschaft haben mich nicht überzeugt, dass organischer Dünger leicht zu substituieren ist. Diese Naturschutzaspekte (Wald, Grünland, Offenhaltung der Landschaft, organische Düngung) sind dabei Gründe, die mit den Regeln „starker“ Nachhaltigkeit gerechtfertigt werden können (Ott & Döring 2011), die ihrerseits mit kollektiven Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen in Ansehung der erhaltenswerten Naturkapitalien und Ökosystemdienstleistungen verknüpft sind.

Ich erwarte nicht, dass Tierrechtler*innen meiner Lebensart, Nicht-Vegetarier zu sein, zustimmen werden. Aber das brauchen sie auch nicht. Ich möchte niemandem den Vegetarismus streitig machen, wenn sie/er von bestimmten Begründungsfiguren (Tierrechte) überzeugt ist und die „clear and uncomprimising implications“ (Regan 1989, S. 13) attraktiv findet. Die Frage bleibt, ob meine Position von Tierrechtler*innen als moralisch vertretbar geachtet oder nur notgedrungen toleriert werden kann.   


Literatur

Barber, Thomas et al. (2021): Dietary Influences on the Microbiota-Gut-Brain-Axis. International Journal of Molecular Sciences, Vol. 22(7), Article 3502, April 2021.

Donaldson, Sue, Kymlicka, Will (2013): Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin: Suhrkamp.

Hiebaum, Christian (2012): Lost in Foundation. Über ‘Speziesismus’ und ‘Anti-Speziesismus’ in der Tierrechtsdebatte. Zeitschrift für philosophische Forschung Vol. 66, Heft 3, S. 409-428.

Horta, Oscar (2017): Animal Suffering in Nature: The Case for Intervention. Environmental Ethics, Vol. 39, No. 3, S. 261-279.

Love, Harris, Sulikowski, Danielle (2018): Of Meat and Men: Sex Differences in Implicit and Explicit Attitudes Toward Meat. Frontiers in Psychology, Vol. 9, Article 559, April 2018.

Meyer-Abich, Klaus Michael (1997): Praktische Naturphilosophie. München: Beck.

Nussbaum, Martha (2010): Grenzen der Gerechtigkeit. Berlin: Suhrkamp.

Ott, Konrad (1998): Das Tötungsproblem in der Tierethik der Gegenwart. In: Engels, Eve-Marie (Hg.): Biologie und Ethik. Stuttgart: Reclam, S. 127-160.

Ott, Konrad, Döring, Ralf (2011): Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis.

Regan, Tom (1989): The Case for Animal Rights. In: Regan, Tom, Singer, Peter (Eds.): Animal Rights and Human Obligations. Englewood Cliffs: Prentice Halls, S. 105-114.

Singer, Marcus George (1975): Verallgemeinerung in der Ethik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Singer, Peter (1990): Animal Liberation. Second Edition. London: Thorsons & Harper.


Konrad Ott wirkte von 1997 bis 2012 als Professor für Umweltethik an der Universität Greifswald und ist seitdem als Professor für Philosophie und Ethik der Umwelt an der Universität Kiel tätig.