21 Mai

Bioethische Urteile

Von Nora Heinzelmann (Erlangen)

Auch Ihnen ist sie bestimmt schon begegnet: die spektakuläreDNA-Revolution“, die einen Umsturz in der Landwirtschaft nach sich ziehen, zur Ausrottung ganzer Spezies führen und Ungeborene heilen kann und die uns paradoxerweise einerseits vor Krebs retten und die andererseits das Risiko für Krebserkrankungen erhöhen soll.

Im Zentrum des verwirrenden Medienrummels steht eine Gentechnologie mit dem sperrigen Namen „CRISPR/Cas9“. Die so bezeichnete Methode erlaubt die gezielte Veränderung von DNA, auch „Genomeditierung“ genannt. Wissenschaftler entwickelten sie vor weniger als zehn Jahren zum präzisen Schneiden und Verändern genetischen Materials. CRISPR/Cas9 unterscheidet sich von herkömmlichen Gentechnologien einerseits dadurch, dass sie hochpräzise und flexibel ist und daher – auch im lebenden Organismus – vielseitig einsetzbar und effizient. Außerdem ist sie in der Handhabung relativ einfach und kostengünstig. Dementsprechend schnell und groß waren die Fortschritte, die Forschungsprojekte rund um die neue Gentechnologie in den letzten Jahren verzeichnen konnten. 2013 beschrieben Forscher erstmals die Genomeditierung menschlicher Zellen mithilfe von CRISPR/Cas9 und bereits 2015 erklärte die führende Wissenschaftszeitschrift Science die Methode zum wissen­schaft­lichen Durchbruch des Jahres.

Die neuen Gentechnologien und -therapien befeuern auch zahllose ethische Debatten aufs Neue. Ist es ethisch zulässig, das Genom von Lebewesen zu verändern? Ist es sozial gerecht, öffentliche Gelder in die Entwicklung von Therapien zu investieren, von denen nur wenige Patient*inn*en profitieren werden? Ist es moralisch falsch, zur Aufklärung von Kapitalverbrechen auf Genomdatenbanken zuzugreifen?

All diese Fragen stellen sich nicht zum ersten Mal. Doch sie erlangen jetzt deswegen eine bislang unerreichte Brisanz, weil Science-Fiction-Szenarien wie Designerbabies oder die Heilung von Krebs plötzlich in greifbare Nähe gerückt sind: Ende 2018 behauptete ein chinesischer Forscher, er habe die DNA von Zwillingen im Mutterleib verändert. 2017 ließen die US-amerikanischen Behörden erstmals eine Gentherapie gegen Leukämie zu. In einer aktuellen Stellungnahme erklärt der Deutsche Ethikrat, dass Eingriffe in die menschliche Keimbahn derzeit zwar wegen unabsehbarer Risiken ethisch unverantwortlich, aber nicht prinzipiell auszuschließen seien.

Die bekannten ethischen Fragen stellen sich also immer weniger nur als reine Denkspiele, sondern in der lebensnahen Praxis. Wie wir aus eigener Erfahrung aber nur allzu gut wissen, ist es meist leichter, sich ein hypothetisches Urteil zu bilden, als eine Entscheidung mit realen Folgen zu treffen. Vielleicht deswegen, weil reale und hypothetische Antworten unter­schiedlich schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen, mögen sie auch inhaltlich ganz anders ausfallen: Selbst wenn Sie beispielsweise das Testen menschlicher DNA für unmoralisch halten – sollten Sie die Möglichkeit erhalten, Ihr eigenes werdendes Kind durch einen solchen Gentest vor einer tödlichen Krankheit zu bewahren, ändern Sie Ihre ethische Meinung vielleicht.

Der Gesetzgeber ist also gehalten, die bestehenden Regelungen in Hinblick auf die geänderten Umstände zu überdenken und gegebenenfalls anzupassen. In demokratischen Staaten reflektieren und schützen Gesetze idealerweise das sittliche Empfinden und die sozialen Werte unserer Gesellschaft.

Hier liegt nun allerdings ein Problem: die rasante Entwicklung in der Forschung wirft Fragen auf, die im Kontext der neuen Möglichkeiten und Wirklichkeiten noch kaum gesellschaftlich diskutiert, geschweige denn einvernehmlich beantwortet werden konnten. Allerdings reichen bloße Meinungsumfragen nicht aus, um in sich stimmige Regelungen festzulegen, die auch Rücksicht auf Minderheiten nehmen und praktisch umsetzbar sind. Wir brauchen vielmehr einen wissenschaftlich fundierten Prozess ethischer Urteilsbildung, der moralische Maßstäbe berücksichtigen und zu gesellschaftlich tragfähigen Lösungen kommen kann.

Ich bin Teil eines wissenschaftlichen Teams, das an dieser Stelle einen Beitrag leisten möchte. Aus Ethik und Verhaltensforschung erarbeiten wir die moralischen Fragen, die sich im aktuellen Kontext neu stellen, treten in Dialog mit Laien, dokumentieren ihre moralische Urteilsbildung und kommunizieren unsere Erkenntnisse in Fachkreisen, an politische Akteure sowie die breite Öffentlichkeit.

Unser interdisziplinäres Forschungsprojekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Ein Teil unseres Teams, geführt von Prof. Frank Rösl und Dr. Katrin Platzer, arbeitet am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg, ein zweiter unter der Leitung von Dr. Johannes Dörflinger an der Fakultät für Psychologie der Universität Konstanz und ein dritter unter meiner Regie an der Philosophischen Fakultät der Universität München. Während sich die Heidelberger auf medizinische und gentechnologische Fragen und die Kommunikation mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft konzentrieren, untersuchen die Konstanzer die Rolle von moralischer und persönlicher Identität. Wir Münchener konzentrie­ren uns auf bioethische Urteile, ihre Entstehung und Veränderung.

Dazu haben wir in den letzten Jahren eine Online-Umfrage zu den zentralen ethischen Fragen entwickelt, welche die neuen Gentechnologien aufwerfen. Sie soll als Instrument dienen, mit dem sich moralische Überzeugungen messen und quantifizieren lassen. In aufeinanderfolgenden Pilotstudien haben wir wiederholt den Fragebogen getestet, ausgewertet und Verbesserungen vorgenommen. Er deckt nun etwa ein halbes Dutzend Themen ab, zu denen uns die neuen Gentechnologien ethisch herausfordern: Datenschutz, Gentests an Menschen und anderen Lebewesen, Genomeditierung, Reproduktionsmedizin, soziale Gerechtigkeit, personalisierte Medizin, etc.

Die Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich in folgender Kernaussage zusammenfassen: Bioethische Urteile sind stark kontextabhängig. Erstens sind sie von individuellen Merkmalen der Person abhängig, die das Urteil trifft. Beispielsweise halten Frauen das Testen und Verändern tierischen Genoms für moralisch fragwürdiger als Männer. Zweitens schwanken Urteile über Gentechnologien stark mit dem Kontext ihrer Anwendung. So etwa halten die meisten Proband*inn*en eine Veränderung menschlicher DNA zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit für moralisch inakzeptabel, dagegen die Veränderung tierischer oder pflanzlicher DNA – etwa in der Landwirtschaft – für moralisch zulässig. Dieses Ergebnis ist erstens deswegen interessant, weil ethische Überzeugungen normalerweise als absolut und unverän­der­lich gelten. Für ihre moralischen Überzeugungen beanspruchen Menschen eine größere Allgemeingültigkeit und sind Widersprüchen gegenüber weniger tolerant als etwa für Urteile über Schönheit oder soziale Konventionen. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass etwa ein Urteil darüber, ob Genomeditierung moralisch zulässig ist, stark mit dem Kontext der Anwendung variiert. Zweitens bestätigen unsere Daten die Hypothese, dass bioethische Überzeugungen teilweise auch auf vermuteten, nicht-ethischen Tatsachen beruhen. Ob wir Genomeditierung etwa für moralisch zulässig halten, hängt unter anderem davon ab, welche sachbezogenen Vorstellungen wir von diesem Prozess haben, ob wir ihn für fehleranfällig halten, teuer, alternativlos, etc.

Die Frage liegt also nahe, welche Faktoren die bioethische Urteilsbildung beeinflussen. Daher untersuchen wir in der zweiten Phase unseres Forschungsprojekts den Einfluss ethischer und biomedizinischer Schulungen und Diskussionen auf bioethische Überzeugungen.

Derzeit erfassen wir in einer weiteren Studie die ethischen Entscheidungen von Jugend­lichen mithilfe des neuentwickelten Fragebogens vor und nach einer mehrtägigen Schulung. Diese umfasst Expertenvorträge über Gentechnologien, Gentherapien in der Medizin sowie ethischen Diskurs; außerdem diskutieren Kleingruppen beispielsweise über ethische und rechtliche Fragen. Die Schulung umfasst also sowohl den Erwerb von Sach- und Fachwissen als auch die kritische Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten. Neben den bio­ethischen Urteilen der Teilnehmenden vor und nach dem Workshop messen wir auch den damit einhergehenden Überzeugungsgrad, d. h. wie sicher sich jemand in seinem Urteil ist.

Erste Ergebnisse legen hauptsächlich drei Befunde nahe. Erstens erhöht eine relevante Schulung den Überzeugungsgrad bioethischer Urteile. Denn die Jugendlichen scheinen sich ihrer Urteile nach dem Workshop über Gentechnologien sicherer zu sein als zuvor.

Zweitens geht der Überzeugungsgrad mit Konsens einher: Je näher ein einzelnes bioethisches Urteil einer Person der Durchschnittsmeinung der Gruppe ist, desto sicherer ist sich die Person in dieser Meinung. Drittens ist bemerkenswert, dass extreme ethische Urteile mit höherer Überzeugung einhergehen: Wenn jemand beispielsweise stark gegen Genomedi­tierung eingestellt ist, so ist er von dieser Meinung auch überzeugter als jemand, der eine moderate Position vertritt.

Unsere Forschung kann die Debatte über die neuen Gentechnologien bereichern. Sie zeigt zum Beispiel, dass sich womöglich der Grad, in dem wir von unserer bioethischen Meinung überzeugt sind, dadurch ändert, dass wir uns eingehender in Schulungen oder auf andere Weise informieren. Dies kann etwa dann nützlich sein, wenn wir in der gesellschaftlichen Debatte andere Menschen von unserem Urteil überzeugen wollen.

Die Diskussion über die neuen Gentechnologien und die mit ihnen einhergehenden ethischen Herausforderungen hat noch lange kein Ende gefunden. Um alle Mitglieder unserer Gesellschaft in die Debatte einzubeziehen und konstruktive Fortschritte machen zu können, ist es wichtig, nicht nur eine Vorstellung vom Meinungsspektrum zu haben, sondern auch Bescheid zu wissen über die Bildung bioethischer Urteile und die Faktoren, welche sie beein­flussen. Meine Forschung möchte an dieser Stelle einen Beitrag leisten. Sie möchte zu einem wissenschaftlich fundierten Verständnis davon beitragen, wie wir bioethische Urteile bilden und verändern. Dieses Wissen ist entscheidend dafür, dass unsere Gesellschaft konsens­fähige Antworten auf die ethischen Herausforderungen findet, mit denen uns die neuen Gentechno­log­ien konfrontieren.

Nora Heinzelmann ist wissenschaftliche Assistentin an der philosophischen Fakultät der LMU München. Sie wurde 2017 an der Universität Cambridge (England) mit einer Arbeit über Willensschwäche promoviert. Sie hat sich in Philosophie des Geistes und Moralphilosophie spezialisiert und forscht aktuell mit interdisziplinären Methoden an Werturteilen in der Ethik und Rationalitätstheorie. In Zusammenarbeitet mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum leitet sie ein vom BMBF finanziertes Forschungsprojekt zu bioethischer Entscheidungsbildung.

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