17 Aug

Die philosophisch anspruchsvolle Hinterlassenschaft des Berichtes „Grenzen des Wachstums“

Von Eugen Pissarskoi (Tübingen)


Vor 50 Jahren ist der Bericht an den Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ erschienen. Seine Autor*innen – Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jørgen Randers und William W. Behrens III – behaupteten darin:

Wenn das weltweite Wachstum der Bevölkerung und der Industrieproduktion aufrechterhalten bleibt, wird die Menschheit mit hoher Sicherheit die Grenzen der Tragfähigkeit des Planeten innerhalb des 21. Jahrhunderts überschreiten – d. h. seine natürlichen Ressourcen und ökologische Aufnahmekapazität derart ausgeschöpft haben, dass wirtschaftliche Schrumpfungsprozesse aufgrund von natürlichen Knappheiten ausgelöst werden.

Diese Behauptung selbst war nicht neu. Neu war ihre Begründung mithilfe eines Weltmodells, das computergestützt nicht-lineare Dynamiken mit Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Systemen berechnete, die zuvor nicht berechnet werden konnten.

Damit haben die Autor*innen des Berichtes uns – die interessierte Öffentlichkeit samt den politischen Entscheidungsträger*innen – zum ersten Mal vor zwei philosophisch herausfordernde Aufgaben gestellt:

  • Den epistemischen Status von Vorhersagen zu interpretieren, die aus Ergebnissen eines hoch aggregierten und, wie auch von den Autor*innen zugegeben, vereinfachenden und damit nicht alle relevanten kausalen Aspekte berücksichtigenden computergestützten Modells abgeleitet wurden;
  • kritisch zu reflektieren, welche Handlungsempfehlung sich vernünftigerweise auf der Basis der den Vorhersagen zukommenden Gewissheit begründen lassen.

Mein Eindruck ist, dass diesen Aufgaben auf eine unbefriedigende Weise nachgegangen wurde. Die Autor*innen des Berichts haben eine Interpretation nahegelegt, gemäß welcher ihren Vorhersagen hohe Gewissheit zukomme, und auf der Grundlage dieser Gewissheit für eine politisch sehr unbequeme Strategie – Konsumreduktion – argumentiert. Gegen den Bericht wurde eingewandt – zu Recht, wie ich in diesem Beitrag zu begründen suche – dass den Vorhersagen des Berichts keine hohe Gewissheit zukomme. Die Kritiker*innen haben jedoch übersehen, dass die politisch unbequeme Handlungsempfehlung des Berichtes – Konsumreduktion – dennoch auf der Grundlage der Modellergebnisse vernünftig begründbar ist. Auch dies will ich im Folgenden aufzeigen. Zum Schluss unterbreite ich einen Vorschlag, wie eine solche missglückte Dialektik vermieden werden kann.

Die Argumentation im Bericht

Gegenstand des Berichtes war das damals bereits viel diskutierte Problem, wie die Menschheit es vermeiden kann, ihre natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Es ist unbezweifelbar, dass die sogenannte „Planetare Tragfähigkeit“ begrenzt ist: Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche sowie die Menge nicht-erneuerbarer Ressourcen sind begrenzt sowie auch die Aufnahmekapazität der natürlichen Systeme für Stoffe, die bei der Verarbeitung von natürlichen Ressourcen in die Umwelt gelangen. Wenn die Bevölkerungszahl und die Konsummenge pro Kopf exponentiell zunehmen, werden die Grenzen der Planetaren Tragfähigkeit notwendigerweise irgendwann überschritten. Das würde verheerende Konsequenzen auslösen, sei es durch veränderte Umweltbedingungen, sei es durch schrumpfende Produktion aufgrund von Ressourcenmangel. Unklar blieb jedoch, wann dieser Punkt erreicht wird.

Der Bericht an den Club of Rome behauptete, dass dies noch vor dem Jahr 2100 erfolge, falls nicht rechtzeitig gegengesteuert werde. Die Begründung hierfür lieferten Berechnungen des eigens hierfür von Meadows und ihren Ko-Autor*innen konstruierten Weltmodells. Das Modell erlaubte es, zeitliche Entwicklungen in fünf sich exponentiell verändernden Bereichen unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen und aggregiert für die gesamte Welt zu berechnen: Bevölkerung, Industrieproduktion, Nahrungsmittelproduktion, Umweltverschmutzung, Verfügbarkeit von nicht-erneuerbaren Ressourcen. Das Modell wurde anhand der Daten für den Zeitraum zwischen 1900 und 1970 kalibriert, d. h. Werte für die relevanten Parameter wurden so gesetzt, dass das Modell die vergangenen Verläufe in den betrachteten Bereichen adäquat nachrechnete.

Um Ergebnisse einer computergestützten Berechnung von zukünftigen Dynamiken für die Begründung einer Handlungsempfehlung zu verwenden, ist es erforderlich, eine epistemische und eine normative Frage zu beantworten:

  • Frage nach dem epistemischem Status: Welche Gewissheit haben die Ergebnisse der jeweiligen Modellierung?
  • Frage nach der Handlungsimplikation: Welche Handlungsempfehlungen lassen sich auf der Grundlage der den Modellergebnissen zukommenden Gewissheit vernünftigerweise begründen?

Betrachten wir, wie diese Fragen im Bericht „Grenzen des Wachstums“ beantwortet wurden.

Begründung der epistemischen Einschätzung

Meadows et al. erkennen ausdrücklich an, dass ihr Modell stark vereinfachend ist und dass mit dem Modell keine präzisen Prognosen für die zukünftige Entwicklung einzelner Systeme begründet werden können. Sie beanspruchen aber, mithilfe der Modellrechnungen eine Vorhersage über ein „generelles Verhalten“ der betrachteten sozio-ökologischen Systeme zu begründen: Ohne eine Einschränkung des Wachstums der Bevölkerungsanzahl und des Konsums werden die Grenzen Planetarer Tragfähigkeit innerhalb des 21. Jahrhunderts überschritten.

Hierzu haben die Autor*innen mehrere Szenarien berechnet, in denen sie variierende Werte für nicht präzise bekannte, da in der Zukunft variable, Modellparameter eingesetzt haben. Neben einem Basisszenario haben sie Szenarien untersucht, die Effekte der technologischen Veränderungen repräsentieren. Sie haben angenommen, die Vorkommen von nicht-erneuerbaren Ressourcen seien doppelt so hoch wie damals bekannt, dass die Ressourcenintensität – Ressourcenmenge, die nötig ist, um eine Einheit der Wertschöpfung zu erwirtschaften – um das Vierfache sinkt; dass die Umweltbelastungen um das Vierfache gesenkt werden und dass die landwirtschaftlichen Erträge pro Fläche verdoppelt werden. Selbst unter diesen aus der Sicht der Autor*innen optimistischen Annahmen berechnet das Modell, dass noch vor dem Jahr 2100 erst das Wachstum der Nahrungsmittelproduktion und dann der Bevölkerungsanzahl kippen und rasch ungefähr auf das Ausgangsniveau von 1900 sinken wird.

Die Begründung für die Kernbehauptung des Berichts möchte ich wie folgt rekonstruieren:

(AM-1) Selbst wenn optimistische Annahmen über den technologischen Fortschritt – über den zukünftigen Anstieg von landwirtschaftlichen Erträgen, von Reduktion von Umweltbelastungen und über die Verfügbarkeit von Ressourcen – getroffen werden und die Industrieproduktion sowie die Bevölkerungszahl weiter wachsen, kalkuliert das Modell, dass die Planetare Tragfähigkeit noch vor dem Jahr 2100 überschritten wird.

(AM-2) Eine optimistische Annahme über einen zukünftigen Sachverhalt p bedeutet, dass eine geringe Gewissheit besteht, dass p eintreten wird.

(AM-3): Aus 1 uns 2 folgt: Selbst wenn man annimmt, dass der technologische Fortschritt ein Ausmaß erreicht, bei dem geringe Gewissheit besteht, dass es in dem Ausmaß eintreten wird, kalkuliert das Modell unter Annahme weiteren Wachstums der Industrieproduktion und Bevölkerungszahl, dass die Menschheit vor dem Jahr 2100 die Planetare Tragfähigkeit überschreitet.

Aus (AM-3) schlussfolgern die Autor*innen:

(Nicht-A): Es besteht geringe Gewissheit, dass die Planetare Tragfähigkeit durch technologischen Fortschritt derart stark ausgeweitet wird, dass bei unverändert wachsendem Konsum der Menschheit die Grenzen der Planetaren Tragfähigkeit innerhalb des 21. Jahrhunderts nicht überschritten werden.

Die Autor*innen unterscheiden zwei Strategien, mit denen die Menschheit vermeiden kann, dass durch wachsenden Konsum die Planetare Tragfähigkeit überschritten wird (die Strategien schließen einander nicht aus): (A) Entweder wird die Planetare Tragfähigkeit mittels technologischer Entwicklungen hinreichend stark ausgeweitet oder (B) die Menschheit schränkt das Wachstum ihres Konsums natürlicher Ressourcen hinreichend stark ein. Da die Modellrechnungen zeigen, dass geringe Gewissheit besteht, dass (A) zum Erfolg führt (das ist die Behauptung in Nicht-A), folgt:

(Kernthese): Es besteht hohe Gewissheit, dass die Planetare Tragfähigkeit innerhalb des 21. Jahrhunderts überschritten wird, wenn keine hinreichend starke Reduktion des Wachstums des Konsumverbrauchs erfolgt.

Begründung einer Handlungsempfehlung

Die Kernthese beschreibt die Konsequenzen, zu denen die Strategie A führen dürfte. Für eine Entscheidung zwischen A und B ist es noch erforderlich zu wissen, welche Konsequenzen aus B, also einer Einschränkung von Konsum- und/oder Bevölkerungswachstum, zu erwarten sind. Auch das untersuchen Meadows et al. mit ihrem Modell. Ihr Ergebnis lautet: Wird der weltweite Konsum auf einem Niveau eingeschränkt, das allen Menschen weltweit ein Konsumniveau ermöglicht, das dem durchschnittlichen Niveau in Westeuropa zur damaligen Zeit entspricht, ist es möglich, dass die Planetare Tragfähigkeit vor dem Jahr 2100 nicht überschritten wird.

Angesichts der möglichen Konsequenzen aus den beiden Strategien ist die politisch unbequeme Handlungsempfehlung des Berichts kaum vernünftig zu bestreiten. Wenn die Strategie A (allein durch technologischen Fortschritt die Planetare Tragfähigkeit zu erweitern), bei fortbestehendem Konsumwachstum mit hoher Sicherheit scheitern wird, die Strategie B hingegen (das Wachstum des Konsums kontrolliert zu begrenzen), Aussicht auf Erfolg hat, ist es tollkühn, wenn nicht gar halsbrecherisch, das Risiko von A in Kauf zu nehmen.

Kritik an der epistemischen Bewertung

Der Bericht „Grenzen des Wachstums“ bringt ein Argument für die politisch höchst unbequeme Handlungsempfehlung zu bewusster Einschränkung des Konsums vor. Die normative Prämisse des Arguments ist kaum sinnvoll bestreitbar. Zentral für das Argument ist die Behauptung, dass hohe Gewissheit darüber bestehe, dass die Planetare Tragfähigkeit vor dem Jahr 2100 überschritten wird, falls nicht rechtzeitig gegengesteuert werde.

Gegen die oben rekonstruierte Begründung dieser Behauptung lassen sich jedoch gewichtige Einwände vorbringen (und sie wurden nach dem Erscheinen des Berichts vielfach artikuliert).

Erstens enthält die Prämisse (AM-1) eine epistemische Bewertung, die bestreitbar ist, nämlich dass die in den Modellrechnungen unterstellten Annahmen zur Repräsentation des technischen Fortschritts optimistisch sind und somit geringe Gewissheit haben. Die Autor*innen unterstellen beispielsweise, dass sich die landwirtschaftliche Produktivität ab 1975 verdoppelt. Dass sie sich zwischen 1970 und 1975 verdoppelt, ist in der Tat eine optimistische Annahme. Dass eine Verdoppelung der landwirtschaftlichen Produktivität in einem Zeitraum von über 100 Jahren eine optimistische Annahme ist, ist wiederum weniger plausibel[1]. Die Autor*innen hätten Ergebnisse von Modellläufen mit optimistischen Annahmen präsentieren sollen, bei denen kein Zweifel daran besteht, dass die Annahmen optimistisch sind: sei es Verzehn- oder Verfünfzigfachung der Bodenerträge, der Ressourcenverfügbarkeit und der Aufnahmekapazität für Umweltbelastungen. 

Zweitens lässt sich die Schlussfolgerung von (AM-3) auf (Nicht-A) anzweifeln. Nehmen wir an, die Prämisse (AM-3) sei wahr: Auch mit unbestreitbar optimistischen Annahmen über technologischen Fortschritt kalkuliert das Modell, dass die Planetare Tragfähigkeit vor dem Jahr 2100 überschritten wird. Folgt hieraus, dass es epistemisch unsicher ist, dass die Planetare Tragfähigkeit allein durch technologischen Fortschritt eingehalten wird? Um diesen Schluss ziehen zu können, müsste gelten, dass das verwendete Modell die relevanten Ausschnitte der Realität adäquat abbildet. In dem hier diskutierten Fall sind es Wechselwirkungen zwischen Veränderungen von natürlichen Systemen (Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, landwirtschaftlicher Flächen und Umweltbelastungen) und sozialen Systemen (industrielle und landwirtschaftliche Produktion). Angesichts der hohen Aggregation des Modells und der relativ wenigen unterstellten Wechselwirkungen zwischen den betrachteten Systemen ist es zweifelhaft, dass das Modell die repräsentierten Systeme adäquat abbildet.

Ich teile diese Kritik (die ich hier, das gebe ich zu, nur grob umrissen habe). Damit stimme ich dem Teil der Öffentlichkeit zu, die gegen den Bericht „Grenzen des Wachstums“ einwandte, seine Modellrechnungen begründeten nicht, dass hohe Gewissheit darüber bestehe, dass die Planetare Tragfähigkeit durch technische Manipulationen natürlicher Systeme nicht hinreichend stark ausgeweitet werden könne, um die erwartete Konsumzunahme im 21. Jahrhundert zu ermöglichen.

Allerdings folgt aus dieser Kritik alleine noch gar nichts bezüglich der Handlungsstrategie, die die Menschheit wählen sollte angesichts dessen, dass die Planetare Tragfähigkeit zu einem unbestimmten Zeitpunkt überschritten werden kann. Kritiker*innen begingen ebenfalls einen Irrtum, wenn sie aus den vorgebrachten Einwänden schlussfolgerten, die Ergebnisse der Modellrechnungen seien für die Begründung von Handlungsempfehlungen irrelevant. Denn die Einwände zeigen, dass eine unterstellte Prämisse falsch ist und dass eine Zwischenkonklusion nicht schlüssig ist. Das ist zunächst ein bloß negatives Ergebnis: Die Kernthese bleibt nicht begründet. Die vorgebrachten Einwände zeigen aber nicht, dass die Kernthese falsch ist, und sie zeigen nicht, was die im Bericht durchgeführten Berechnungen tatsächlich belegen.

Ich glaube sehr wohl, dass die politisch unbequeme Handlungsempfehlung des Berichts – Einschränkung des Konsums – sich auf der Basis der Modellrechnungen vernünftig begründen lässt. Das will ich im nächsten Schritt rekonstruieren.

Konstruktiver Vorschlag einer Interpretation der Modellergebnisse

Betrachten wir, wie sich das Modell-Argument verändert, wenn wir die vorgebrachten Kritikpunkte berücksichtigen. Gemäß dem ersten Einwand sind die von Meadows et al. unterstellten Annahmen über den technologischen Fortschritt nicht optimistisch und es besteht eine höhere als lediglich geringe Gewissheit, dass sie eintreten werden. Doch wie ist ihr epistemischer Status stattdessen zu beurteilen? Hierauf weiß ich keine überzeugende Antwort. Da mit den Modellrechnungen die Strategie, die auf technologischen Fortschritt setzt, überprüft werden soll, schlage ich vor, den Befürworter*innen dieser Strategie, so weit es geht, entgegenzukommen und – for the sake of the argument – ihre epistemische Einschätzung zu übernehmen. Nehmen wir an, sie schätzen die in den Modellrechnungen unterstellten Werte für technologischen Fortschritt – Verdoppelung der landwirtschaftlichen Erträge und der Abfallbeseitigung, Vervierfachung der verfügbaren Ressourcen – als plausibel ein, d. h. sie betrachten die zukünftige Entwicklung, in der die beschriebenen Fortschritte eintreten, als verlässlich. Dann lautet die Prämisse (AM-3), die die Modellergebnisse beschreibt:

(AM-3*): Wenn im Modell Werte für technologischen Fortschritt unterstellt werden, bei denen es plausibel/verlässlich ist, dass sie eintreten werden, kalkuliert das Modell, dass die Menschheit vor dem Jahr 2100 die Planetare Tragfähigkeit überschreitet (unter Annahme weiteren Wirtschaftswachstums).

Der zweite Einwand besagte, dass dieses Modellergebnis nicht unmittelbar auf die Realität übertragen werden kann. Was folgt aber aus diesem Modellergebnis über die Realität? Das Modell ist in sich konsistent, es bildet einige – wenn nicht alle – kausal relevante Faktoren auf einem hohen Aggregationsniveau ab, mit den unterstellten Werten gibt das Modell die Entwicklung in den repräsentierten Systemen für die vergangenen 70 Jahre adäquat wieder.

Wenn nun unter Annahme von plausiblen Werten für politisch steuerbare Parameter Modellszenarien berechnet werden, kommt den Ergebnissen dieser Modellläufe zwar keine hohe Gewissheit zu, aber sie stellen ernst zu nehmende mögliche Zukunftsentwicklungen dar.

Was das bedeutet, will ich an einem Alltagsbeispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen am Montag wissen, ob es am Wochenende in Ihrer Stadt regnet. Sie wenden sich hierzu an eine Metereolog*in. Die Metereolog*in sagt Ihnen folgendes: Sie kann das Wetter am Wochenende für Ihre Stadt nicht präzise vorhersagen. Das verfügbare Wissen über atmosphärische Dynamiken in Ihrem geografischen Gebiet ist unvollständig: Es gibt sehr viele unbekannte Faktoren, die kurzfristigen Einfluss auf Wolkenbildung und -bewegung ausüben können. Aber sie sieht mächtige Regenwolken, die sich in Richtung Ihrer Stadt bewegen und unter Berücksichtigung bekannter kausaler Faktoren, Geschwindigkeit und Richtung, dürften sie am Wochenende über der Stadt abregnen. Wie würden wir eine solche Prognose epistemisch einschätzen? Die Prognose verleiht uns keine hohe Sicherheit über das Wetter am Wochenende. Aber wir wissen aus der Aussage der Meteorolog*in mehr als das, was wir zuvor wussten, nämlich dass es möglicherweise regnet. Im Lichte des nun bekannten Zukunftswissens würden wir die Möglichkeit, dass es am Wochenende regnet, ernst nehmen, d. h. sie in unseren Planungen fürs Wochenende berücksichtigen. Zumindest würden wir Bedingungen dafür schaffen, dass wir nicht darauf angewiesen sind, das Wochenende im Park beim Picknicken zu verbringen.

Wenn wir die Ergebnisse der Modellrechnungen im Bericht „Grenzen des Wachstums“ als eine ernst zu nehmende Möglichkeit interpretieren, dann lautet die Prämisse (Nicht-A):

(Nicht-A*): Es ist ernsthaft möglich, dass der technologische Fortschritt allein nicht ausreicht, um bei weiterhin wachsendem Konsum innerhalb des 21. Jahrhunderts zu vermeiden, dass die Grenzen Planetarer Tragfähigkeit überschritten werden.

Und die im Lichte dieser Interpretation der Modellergebnisse Kernthese lautet:

(Kernthese*) Es ist ernsthaft möglich, dass die planetare Tragfähigkeit vor dem Jahr 2100 überschritten wird, falls keine Reduktion des Wachstums des Konsumverbrauchs erfolgt.

Begründung der Handlungsempfehlung angesichts der alternativen Interpretation der Modellergebnisse

Die aus der neuen Interpretation resultierende Kernthese* bringt eine schwächere Gewissheit zum Ausdruck als die ursprüngliche Kernthese. Letztere behauptete hohe Gewissheit bezüglich der Prognose, dass ohne Wachstumsrücknahme die Planetare Tragfähigkeit überschritten wird, wohingegen gemäß der von mir vorgeschlagenen Interpretation die Gewissheit der einer ernst zu nehmenden Möglichkeit entspricht.

Im Lichte der schwächeren Gewissheit dürfte die Begründung der politisch unbequemen Handlungsempfehlung kontroverser sein. Denn nun muss begründet werden, warum angesichts der ernst zu nehmenden Möglichkeit, innerhalb des 21. Jahrhunderts verheerende Konsequenzen auszulösen, die Menschheit ihr Konsumniveau heute reduzieren soll. Ein Grund hierfür ist im Bericht „Grenzen des Wachstums“ benannt: Es ist moralisch geboten, das Konsumniveau vorsorglich zu reduzieren, um das Eintreten der Möglichkeit des Überschreitens Planetarer Leitplanken auszuschließen.

Hiergegen können jedoch die Gegner*innen der unbequemen Handlungsempfehlung einwenden: Angesichts dessen, dass die Überschreitung der Planetaren Tragfähigkeit innerhalb des 21. Jahrhunderts nicht gewiss ist, sondern bloß ernsthaft möglich, ist es vielmehr moralisch geboten, Maßnahmen, die Wachstum globalen Wohlergehens einschränken, so lange hinauszuschieben, bis es sicher ist, dass die Wachstumseinschränkung die einzige Option ist, mit der die Planetare Tragfähigkeit erhalten werden kann.

Vielleicht sind einige spätestens jetzt wieder geneigt, den Modellergebnissen eine so hohe Gewissheit zuzuschreiben, dass auf den Einwand geantwortet werden kann: Es ist aber hinreichend sicher, dass die Wachstumseinschränkung die einzige Option ist.

Mein dialektischer Vorschlag ist jedoch, in den sauren Apfel einer normativen Auseinandersetzung zu beißen, anstatt über den Grad epistemischer Gewissheit von langfristigen Zukunftsvorhersagen zu streiten. Die normative Behauptung im obigen Einwand der Gegner*innen lässt sich vernünftig kritisieren und einige Argumente gegen sie finden sich auch im Bericht: Je früher mit der Einschränkung des Wachstums der Wirtschaft oder der Bevölkerungszahl begonnen wird, umso geringer ist das Ausmaß der Einschränkung und umso besser kontrollierbar können die entsprechenden politischen Maßnahmen gestaltet werden.

Vielleicht hätte diese normative Auseinandersetzung darüber, welche Risiken im Lichte der modellierten Szenarien in Kauf genommen werden sollten, auch eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit erreicht, hätte der Bericht nicht dazu eingeladen, die Vorbedingung der normativen Auseinandersetzung, nämlich die Interpretation des epistemischen Status seiner Vorhersagen, berechtigterweise zu kritisieren.

Lehren aus dem Bericht „Grenzen des Wachstums“

Inzwischen – 50 Jahre nach Erscheinen des Berichts – haben modellgestützte Vorhersagen von sozio-ökologischen Dynamiken hohe Verbreitung in der wissenschaftlichen Forschung und Politikberatung gefunden: Mithilfe von Klimamodellen, gekoppelten Klima-Ökonomie-Modellen, Energiesystemmodellen, Landnutzungsmodellen, Pandemiemodellen – das ist keine vollständige Aufzählung – werden Prognosen erstellt, um Handlungsorientierung in den jeweiligen Bereichen zu unterstützen. Die heutigen Modelle sind deutlich komplexer und sie bilden ihr jeweiliges Zielsystem viel detaillierter ab als das Weltmodell von Meadows et al..

Mein Eindruck ist allerdings, dass wir auch 50 Jahre nach Erscheinen von „Grenzen des Wachstums“ die beiden anfangs erwähnten philosophisch herausfordernden Aufgaben nicht befriedigend erledigen. Nach wie vor lösen modellgestützte Vorhersagen von sozio-ökologischen Dynamiken analoge gesellschaftspolitische Kontroversen aus: Ein Teil der Öffentlichkeit sieht in den Modellergebnissen Nachweise für hinreichende Gewissheit über zukünftige Entwicklungen, aus denen Handlungsimplikationen folgen, die vernünftigerweise nicht bezweifelt werden können. Ein anderer Teil zieht in Zweifel die Glaubwürdigkeit der aus den Modellergebnissen abgeleiteten Vorhersagen mit der Begründung, dass die verwendeten Modelle zu einfach seien, um verlässliche Vorhersagen zu treffen.

Dadurch geht viel intellektueller Aufwand in die Diskussion der Frage, wie sicher die vorhergesagten Konsequenzen wirklich sind, ohne über die eigentliche Frage nach Handlungsempfehlungen zu reflektieren. Mein Vorschlag ist daher, eine möglichst wenig kontroverse epistemische Interpretation der Vorhersagen zu suchen und zu prüfen, welche Handlungsempfehlungen sich daraus ableiten lassen. In vielen Fällen werden die resultierenden Handlungsempfehlungen unbequem sein und uns vor Dilemmata stellen, die aus guten Gründen kontrovers sind:

  • Unter welchen Umständen sollen wir das Risiko eingehen, dass weitreichende Veränderungen fundamentaler sozial-ökonomischer Institutionen gesellschaftlich verheerende Konsequenzen mit sich bringen?
  • Und unter welchen Umständen sollen wir Risiken aus weitreichenden neuartigen Technologien in Kauf nehmen, um verheerende Konsequenzen aus veränderten natürlichen Systemen zu vermeiden?

Anmerkung: Mein Dank gilt Milena Bornkamm für ihr Beharren, den Text möglichst einfach zu schreiben.


Eugen Pissarskoi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Entscheidungen
unter Unsicherheit; Methoden angewandter Ethik, Klimaethik sowie Philosophie der Ökonomik.


[1] Die Flächenerträge von Reis haben sich zwischen 1970 und 2020 nahezu verdoppelt, jene von Weizen, Roggen und Linsen mehr als verdoppelt. Datenquelle: https://www.fao.org/faostat/en/#data/QCL, abgerufen am 30.04.22.

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