24 Mai

Grenzen des Wachstums oder Wachstum der Grenzen?

Von Ingo Pies (Halle-Wittenberg)


Das 1972 als Bericht an den Club of Rome publizierte Buch über die Grenzen des Wachstums hat in den letzten fünf Jahrzehnten eine ganz außerordentliche Wirkung entfaltet: Es hat der öffentlichen Diskussion über die nachhaltige Entwicklung der Weltgesellschaft ein intuitiv eingängiges Paradigma vorgegeben, einen Denkrahmen, der vorbestimmt, wie die Problemstellung gedacht wird sowie welche Problemlösungsoptionen ins Blickfeld geraten – und welche nicht.

Besonders einflussreich war folgende Aussage:

„If the present growth trends in world population, industrialization, pollution, food production, and resource depletion continue unchanged, the limits to growth on this planet will be reached sometime within the next one hundred years. The most probable result will be a rather sudden and uncontrollable decline in both population and industrial capacity.“[1]

Als Wirtschaftsethiker arbeite ich an einem ordonomischen Forschungsprogramm, das gesellschaftliche Lernprozesse im Hinblick auf (möglicherweise blockierte) Wechselwirkungen zwischen Ideen und Institutionen, zwischen Semantik und Sozialstruktur untersucht.[2] Die Einstiegsfrage zur Semantikanalyse lautet: Wie denkt eine Person, wenn sie so denkt, wie hier gedacht wird? Mit dieser Frage wird die Aufmerksamkeit auf das „mental model“ bzw. auf die „Denkungsart“ gerichtet, um einen Begriff von Immanuel Kant zu bemühen. Es geht darum, die perspektivischen Eigenschaften des zugrunde liegenden Paradigmas zu erkunden: Worauf fokussiert der saliente Blickwinkel, und was verbirgt sein blinder Fleck? Was genau wird innerhalb dieses Denkrahmens beleuchtet, und was bleibt eher außen vor und liegt im Schatten? Mit solchen Erkundungen wird der Denkhorizont dafür geöffnet, alternative Paradigmen komparativ – im Hinblick auf ihre je unterschiedliche Leistungsfähigkeit – analysieren zu können.

Im Folgenden geht es mir darum, in aller Kürze eine ordonomische Analyse – und Kritik – vorzustellen, indem ich dem Paradigma von den „Grenzen des Wachstums“ das alternative Paradigma von einem „Wachstum der Grenzen“ vergleichend gegenüberstelle. So erklärt sich der programmatische Titel dieses Beitrags.

I. Das Paradigma von den Grenzen des Wachstums

Wie also denken die Autoren des 1972er Buches, wenn sie so denken, wie dort gedacht wurde? Bei der Beantwortung dieser Frage – bei der möglichst akkuraten Charakterisierung des zugrunde liegenden Paradigmas – kann ich darauf zurückgreifen, dass rund 30 Jahre später die Autoren selbst ihren Denkansatz wie folgt gekennzeichnet haben:

„Our most important statements about the likelihood of collapse … result simply from understanding the dynamic patterns of behavior that are produced by three obvious, persistent, and common features of the global system: erodable limits, incessant pursuit of growth, and delays in society’s responses to approaching limits. Any system dominated by these features is prone to overshoot and collapse.“[3]

Es sind also bestimmte Annahmen, die das Ergebnis und die Interpretation der Computersimulationen treiben: (a) die Annahme fester Grenzen, sei es im Hinblick auf die verfügbaren Ressourcen, sei es im Hinblick auf die ökologische Belastungskapazität des Planeten Erde; (b) die Annahme, dass Wachstumsprozesse die Menschheit in die Nähe solcher Grenzen und sogar darüber hinaus führen können, weil Wachstum Ressourcen verbraucht und ökologische Senken beansprucht. Aus diesen beiden Annahmen folgt logisch zwingend: (c) Wenn das Wachstum nicht abgeschwächt und irgendwann sogar bis auf null zurückgefahren wird, kommt es unweigerlich zu einem Überschreiten roter Linien („overshooting“) und schließlich zur Katastrophe („collapse“). (d) Das allerdings ist keine unkonditionierte Aussage – keine Prophezeiung –, sondern eine konditionierte Aussage, also eine Warnung. (e) Der Sinn dieser Warnung liegt darin, die Menschheit zum Handeln aufzurufen: zur Selbstbegrenzung der von ihr selbst ins Werk gesetzten Wachstumsprozesse. (f) Ob dies gelingen wird, lassen die Autoren offen. Aus ihrer Sicht hängt alles davon ab, ob sich die Menschheit im globalen Maßstab schnell genug und entschlossen genug entscheiden wird, die von den Autoren diagnostizierten Grenzen des Wachstums zu erkennen und – in der Form eines bewussten Wachstumsverzichts – zu beherzigen.

Die Autoren des 1972er Buches wollen den globalen Wachstumsprozess zu einem guten Ende führen, das sie als statisches Gleichgewicht bestimmen. Sie rufen dazu auf, Wirtschaft und Politik grundlegend zu transformieren. Hierzu schreiben sie:

„[W]e are quite frankly overwhelmed by the enormity of the job that must be done. We hope that this book will serve to interest other people, in many fields of study and in many countries of the world, to raise the space and time horizons of their concerns and to join us in understanding and preparing for a period of great transition – the transition from growth to global equilibrium.“[4]

Vor diesem Hintergrund gelange ich zu folgender Kennzeichnung des Paradigmas: Die Autoren arbeiten mit der Annahme, dass auf einem begrenzten Planeten kein unbegrenztes Wachstum möglich ist. Sie ziehen daraus den Schluss, dass die Menschheit einen zivilisatorischen Kollaps nur dann vermeiden kann, wenn es ihr gelingt, rechtzeitig und energisch genug umzusteuern und den ihr Wohlleben und sogar ihr Überleben unweigerlich gefährdenden Wachstumsprozess nachhaltig zum Stillstand zu bringen, anstatt sehenden Auges gegen die Wand (= gegen die invariablen Grenzen der Natur) zu fahren.

Aus Sicht der ordonomischen Wirtschaftsethik ist es von besonderem Interesse, dass dieses verzichtsethische Paradigma nicht das einzig mögliche ist. Vielmehr ist ein alternatives Paradigma verfügbar, und dieses lässt sowohl die Problemstellung als auch die verfügbaren Problemlösungsoptionen in einem ganz anderen Licht erscheinen.

II. Das Paradigma vom Wachstum der Grenzen

Die moderne Wachstumsökonomik arbeitet mit zwei unterschiedlichen Begriffen von Wachstum. Externes Wachstum liegt vor, wenn mit konstantem Wissen mehr Ressourcen als Input eingesetzt werden, um als Output mehr (materiellen und immateriellen) Wohlstand zu erzeugen. Internes Wachstum hingegen liegt vor, wenn die Wissensbasis der Produktion verbessert wird. Dann wird es beispielsweise möglich, mit gegebenem Input mehr Output zu erzeugen oder ein gegebenes Outputniveau mit weniger Input zu erreichen. Internes Wachstum ermöglicht es, Wohlstandsproduktion und Ressourceneinsatz zu entkoppeln.

Legt man den Begriff externen Wachstums zugrunde, stößt man unweigerlich auf die planetarischen Grenzen marktwirtschaftlicher Wohlstandsproduktion. Hier erscheint Wachstum dann denknotwendig als ein Problem. Und innerhalb dieses Denkrahmens bleibt paradigmatisch nur eine einzige Lösungsoption, und die besteht im Verzicht auf Wachstum.

Legt man hingegen den Begriff internen Wachstums zugrunde, dann werden die vermeintlich fest vorgegebenen Grenzen des Wachstums ihrerseits variabel. Sie können verändert werden durch technologische und organisatorische Neuerungen, also durch dynamische Verbesserungen der Wissensbasis. Hier erscheint Wachstum nun plötzlich in einem ganz anderen Licht und kann als mögliche Problemlösung wahrgenommen werden. Innerhalb dieses Denkrahmens kann man den traditionellen Limitierungen menschlicher Wohlfahrt – sei es in Form von Armut und Krankheit oder in Form von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung – am besten durch ein Wachstum der Grenzen entkommen.

III. Klimapolitische Implikationen: Die beiden Paradigmen im Vergleich

Denkt man im ersten Paradigma („Grenzen des Wachstums“), dann wird man unweigerlich vor die Alternative „Klimaschutz oder Kapitalismus“ geführt. Innerhalb dieses Denkrahmens gerät nur eine einzige Lösungsoption ins Blickfeld: Wachstumsverzicht („Degrowth“). Perspektivisch landet man hier bei einer Position contra Marktwirtschaft.

Denkt man hingegen im zweiten Paradigma („Wachstum der Grenzen“), lenkt dies den Blick unweigerlich darauf die Option, „Klimaschutz durch Kapitalismus“ voranzutreiben, also die unternehmerische Innovationsdynamik als Instrument für einen global wirksamen Klimaschutz bestmöglich in Dienst zu nehmen. Perspektivisch landet man hier bei einer Position pro Marktwirtschaft.

Ich will nun zeigen, dass es extrem folgenreich ist, welches Paradigma für die klimapolitische Diskussion zugrunde gelegt wird. Dabei hilft die folgende Abbildung.

Internes versus externes Wachstum – eigene Darstellung

Abgebildet sind zwei Produktionsfunktionen, in denen der Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) als Produktionsfaktor für die weltweite Wohlstandsproduktion interpretiert wird. Ausgangspunkt ist der Status quo (S).

  • Im Paradigma externen Wachstums führt eine voranschreitende Wohlstandsproduktion unweigerlich dazu, sich der roten Linie anzunähern und sie sogar zu überschreiten. Die einzig denkbare Lösung besteht in „Degrowth“: im Verzicht auf Wohlstand, um den Klimaschutz durch Emissionsreduktion voranzutreiben. Graphisch interpretiert geht es darum, die Produktionsfunktion entlangzuwandern.
  • Im Paradigma internen Wachstums eröffnet sich die Option, durch eine forcierte Innovationsdynamik die Produktionsfunktion zu wechseln und damit den Möglichkeitenraum zu erweitern. Graphisch interpretiert geht es darum, die Produktionsfunktion nach links oben zu verschieben.

Auf der neuen Produktionsfunktion lassen sich nun vier Punkte unterscheiden. W1 markiert die Option, mit konstantem Input mehr Output zu erzeugen. W2 markiert die Option, einen gegebenen Output mit weniger Input herzustellen. W3 markiert die Option, Treibhausgasausstoß und Wohlstandsproduktion so radikal zu entkoppeln, dass ein steigender Lebensstandard sogar mit Negativemissionen vereinbar wird. Demgegenüber markiert W4 den berühmt-berüchtigten „Rebound-Effekt“, der freilich nur dann zu befürchten wäre, wenn die Politik es versäumen würde, den durch intensives Wachstum erweiterten Möglichkeitenraum für einen wirksamen Klimaschutz zu nutzen.

Aus ordonomischer Sicht sind drei Aspekte von überragender Bedeutung, um zu entscheiden, welches Paradigma vorzugswürdig ist.

  • Erstens kann man, selbst wenn man einen Wachstumsverzicht exzessiv vorantreiben würde, durch eine bloße Einsparungsstrategie von CO2-Emissionen niemals in den Bereich von Negativemissionen vordringen. Dies gelingt nur durch forcierte Innovation, also durch intensives Wachstum.
  • Zweitens provoziert die Strategie eines Wachstumsverzichts politischen Widerstand und lässt bei den Anhängern dieser Denkungsart systematisch Zweifel daran aufkommen, ob Klimaschutz überhaupt auf demokratischem Wege erreicht werden kann. Wer Klimaschutz durch Demokratie bewirken will, ist folglich auf das Paradigma intensiven Wachstums angewiesen.
  • Drittens ist es gerade auch aus moralischer Sicht von erheblicher Bedeutung, ob die geforderte Verzichtsleistung für das angestrebte Überleben der Menschheit wirklich unabdingbar ist – oder ob sich dieses Ziel mit alternativen Mitteln sogar besser erreichen ließe.

Fazit

Der gesellschaftspolitische Diskurs hat durch das 1972 veröffentlichte Buch über die „Grenzen des Wachstums“ eine im weltweiten Maßstab wichtige, extrem folgenreiche – aber leider paradigmatisch in die Irre führende – Weichenstellung erfahren. Für die Zukunft einer nachhaltigen Entwicklung der Weltgesellschaft wird viel davon abhängen, ob es gelingt, einen Paradigmawechsel hin zum „Wachstum der Grenzen“ zu vollziehen. Denn nur die Kultivierung eines wissensgetriebenen, intensiven Wachstums kann die Menschheit in die Lage versetzen, die vor uns liegenden – z.T. gewaltigen – Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen.


Literatur

Meadows, Donella H., Dennis L. Meadows, Jørgen Randers und William W. Behrens III (1972): The Limits to Growth. A Report for THE CLUB OF ROME’S Project on the Predicament of Mankind, New York: Universe Books.

Meadows, Donella H., Jørgen Randers und Dennis L. Meadows (2004): Limits to Growth. The 30-Year Update, London und Sterling, VA: Earthscan.

Pies, Ingo (2022a): Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne, Berlin: wvb.

Pies, Ingo (2022b): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik: Ordonomik im Dialog, Berlin: wvb.


Prof. Dr. Ingo Pies, Jahrgang 1964, seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er arbeitet dort an einem „ordonomischen“ Forschungsprogramm zur Untersuchung (gelingender oder misslingender) gesellschaftlicher Lernprozesse. Das Kunstwort „Ordonomik“ soll zum Ausdruck bringen, dass es um eine zugleich verfassungsphilosophische und verfassungsökonomische Gesellschafts(ordnungs)theorie geht: um eine Interdependenz-Analyse der Verfassung des Denkens (Semantik) und der Verfassung des Handelns (Sozialstruktur).


[1] Meadows et al. (1972; S. 23 f.).

[2] Vgl. Pies (2022a) und (2022b).

[3] Meadows et al. (2004; S. xviii).

[4] Meadows et al. (1972; S. 24).


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