14 Jun

Sustainable Development Goals und Postwachstum: Kritik der politischen Rhetorik

Von Christoph Henning (Erfurt)


Um der ökologischen Krise zu begegnen, ohne politisch unbeliebte Entscheidungen zu treffen, hat sich weltweit eine Zauber-Rhetorik verbreitet: Wir können alles ändern und zugleichweitermachen wie bisher. Diese global veröffentlichte Meinung manifestiert sich nicht nur in Parteiprogrammen, sondern auch in den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) der UNO von 2015. Bei näherem Hinsehen lassen sie sich allerdings nur dann umsetzen, wenn sie mit einer Strategie der Reduzierung wirtschaftlichen Verbrauchs einhergehen, also mit Postwachstum. Das will dieser Blog zeigen.

Der Zauber der politischen Rhetorik

Um Mehrheiten zu schaffen bedarf es natürlich einer hegemonialen Erzählung, nicht nur Ingenieurswissen und Politik (Klein: Green New Deal). Das birgt eine große Chance, aber auch eine Gefahr: Wer Menschen mit Versprechungen überzeugen möchte, läuft Gefahr, Fakten zu beschönigen. So die überzeugen die SDGs nur, solange man Ihr Kleingedrucktes nicht liest. Diese Entwicklungsziele sollten nicht als unrealistisch abgelehnt, sondern unterstützt werden, da sie – wenn sie ernst genommen werden – ein zentrales Argument für eine Postwachstumspolitik sind; denn nur mit ihr zusammen lassen sie sich umsetzen.

Betreten wir also das Feld politischer Rhetorik. Inmitten der ökologischen Krise glauben viele Politiker und Wirtschaftseliten noch immer, dass sie mit etwas Abmilderung (migitation) und Anpassung (adaption) den massiven Verbrauch und die sorglose Verschmutzung fortsetzen können. Leider haben sie in vielen Ländern dafür sogar ein Mandat: Viele Menschen haben keine Lust, weniger zu fliegen, Fleisch zu essen und Auto zu fahren, gilt dies doch als Ausdruck von Erfolg und Lebensqualität. Wegen dieser fossilen Mentalität ist der ökologische Umbau in der Defensive. Um die hier beabsichtigte Kritik der nachhaltigen Entwicklung von anderen Varianten abzusetzen, gilt es diese zunächst zu benennen.

Eine sich liberal gebende nationalistische Kritik behauptet, Ökologie verrate die lokale Bevölkerung. Wenn sie SUV fahren und Burger essen möchte, wer sollte ihr das ‚verbieten‘? Grün wird so in Gegensatz zur Freiheit gebracht (was überspringt, dass diese ‚Wünsche‘ Ergebnis jahrzehntelanger Indoktrinierung sind). Es ist leicht, solche Emotionen zu schüren, wenn die Instanzen, die den Raubbau beenden möchten, „überstaatlich“ sind wie UNO oder EU. Nationalismus scheint zu verlangen, dass man sich ‚fremder‘ Gesetzgebung widersetzt. Das klingt postkolonial und funktionierte beim Brexit genauso wie im Anti-EU-Populismus Polens und Ungarns. In den USA ist das Fahren großer Autos und der Verzehr von viel Fleisch zum Ausdruck von Protest-Patriotismus geworden: Restaurants verkaufen „Herzinfarkt-Burger“ mit 1000 Kalorien, wer über 150 Kilo wiegt, isst kostenlos.

Gegen diesen Unsinn steht eine Konzeption, die nicht gegen das Lokale ist, sondern es anders, weniger zerstörerisch besetzt. Viel Öl zu verbrauchen macht nicht frei, sondern abhängig und angreifbar, wie wir gerade spüren. Mit dem eigenen Land verbunden sein kann nur heißen, lokale Produzenten zu unterstützen, die mit dem Land sorgsam umgehen. Sicher sind nationalistische Untertöne in der Umweltbewegung bedenklich, doch sie lassen sich vom Kopf auf die Füße stellen. Das könnte Unterstützung auch durch Teile der Bevölkerung sichern, die nicht global agieren mögen. Dafür gibt es jeweils lokale Begründungen (Gandhi in Indien, „buen vivir“ in Lateinamerika, William Morris in England, Thoreau oder Aldo Leopold in den USA, bei uns z.B. die Romantik). Eine globale Ideengeschichte kann diese Erzählungen miteinander verweben, statt sie künstlich in Gegensatz zu bringen. Dass kann den anti-globalistischen Affekt abfangen, der heute den Rechtspopulismus befeuert. Globales grünes Denken kann den Planeten schützen und zugleich lokale Traditionen bewahren.

Die Sustainable Development Goals bergen politischen Sprengstoff

Das heißt nun aber gerade nicht, dass man hier unkritisch sein sollte. Im Gegenteil, eine immanente Kritik der nachhaltigen Entwicklungsziele zeigt Unstimmigkeiten des Programms auf, die seine Verwirklichung erschweren. Korrigiert man diese Selbstblockade, würden drastischere Änderungen möglich. Diese Kritikvariante ist für eine Degrowth-Perspektive hochrelevant. Schauen wir daher genauer auf diese Ziele:

Während sich Ziele 1-5 mit Fähigkeiten befassen (keine Armut, kein Hunger, gute Gesundheit, hochwertige Bildung und Gleichstellung), 6-10 mit Wirtschaftsfaktoren (Wasser, Energie, menschenwürdige Arbeit, Industrie und Verringerung der Ungleichheit) und 11-15 mit Natur (nachhaltige Städte, verantwortlicher Konsum, Klimaschutz, Leben im Wasser und Leben an Land), erstreben Ziele 16 und 17 Frieden und internationale Partnerschaft. Die Auswirkungen dieserZiele wurden bereits untersucht. In einem Nature-Artikel untersuchten Zeng et al. (2020), was die Indikatoren für die SDGs genau messen, indem sie sie mit Indikatoren aus anderen Studien verglichen. Das Ergebnis verblüfft. Während sich bei sozioökonomischen Indikatoren schon ein Erfolg abzeichnet und Übereinstimmung mit externen Indikatoren besteht, fehlt die Korrelation bei der biologischen Vielfalt nicht nur, sondern ist sogar negativ. Das Erreichen der SDGs ist also schlecht für die biologische Vielfalt! Die Studie spricht daher von einem „eher maskierenden als synergistischen Effekt der SDGs auf den Umweltschutz“. Das Fazit lautet: „Wenn diese Fehler nicht korrigiert werden, könnten die SDGs im Namen der nachhaltigen Entwicklung unwissentlich die Umweltzerstörung fördern“.

Zeng et al. führen das auch auf Darstellungsprobleme zurück: 169 Unterziele und 247 Indikatoren kann man nicht so einfach verarbeiten, daher halten sich viele an die einfachsten Indikatoren – eben die Wirtschaft. Aber das Problem sitzt tiefer: eine zweite Studie von Hickel zeigt eine Inkonsistenz zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen in den SDGs, indem er einfach nachrechnet. Er kommt zu dem Schluss, dass Degrowth die einzige Möglichkeit ist, die SDGs zu verwirklichen und die internen Widersprüche zu beheben.

Da die Ziele abstrakt bleiben, schätzt er auf der Grundlage früherer Zahlen. Die SDGs wollen das Pro-Kopf-Wachstum „erhalten“ oder sogar steigern, obwohl keine Begründung angegeben wird, warum quantitatives „Wirtschaftswachstum für die menschliche Entwicklung und die Beseitigung der Armut notwendig ist“. Bei seinen Rechnungen nimmt Hickel die BIP-Wachstumsrate von 2010-2015, die 1,85% betrug, und korrigiert sie um das Bevölkerungswachstum bis 2030; das ergibt 2.96%. Die SDGs verlangen also eine globale Wachstumsrate von ca 3% pro Jahr. Hickel prüft nun an zwei Beispielen, wie das mit den ökologischen Zielen zu vereinen ist: der angestrebten Verringerung des Ressourcenverbrauchs und des globalen CO2budgets.

Die Ressourcennutzung übersetzt er in den materiellen „Fußabdruck“, und gestützt auf einschlägige Studien veranschlagt er als Maß einer Verringerung die planetarische Obergrenze von 50 Mrd. Tonnen pro Jahr. Er zeigt, dass keines der bisherigen Modelle bei einer Wachstumsrate von 3% diese Zahl erreichen kann. Selbst bei ultra-optimistischen Annahmen zum technologischen Wandel und veränderten Verhaltensmustern der Leute kommen diese Studien auf einen materiellen Fußabdruck von 95 oder sogar 132 Milliarden Tonnen –mehr als das Doppelte davon, was der Planet aushält. Dabei ist die technische Utopie schon eingepreist; de facto würden die Zahlen wohl weit schlimmer ausfallen.

Hier haut also etwas nicht hin. Für Hickel liegt der Fehler darin, dass die SDGs einfach unterstellen, es werde in Zukunft eine technologische „Entkopplung“ geben, die schneller wächst als das BIP (technologischen Einsparungen müssen also schneller wachsen als die Wirtschaft). Um das Ziel der 50 Milliarden Tonnen zu erreichen, würde das auf eine Entkopplungsrate von mindestens 7% pro Jahr hinauslaufen. Historisch gesehen ist das drei- bis sechsmal schneller als es das je gab. Im 21. Jahrhundert hat es noch gar keine Entkopplung gegeben. Also ein magisches Denken! Auch wenn eine relative Entkopplung möglich ist, ist sie historisch zufällig und hält nicht lange an. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie das absolute Wachstum übertrifft. Zudem ignorieren die gängigen Studien den Rebound-Effekt (den Anstieg des Verbrauchs, wenn Produktionskosten sinken). Die Annahme, der Ressourcenverbrauch ginge zurück, wenn die Wirtschaft wächst wie geplant, ist also schlicht „unbegründet und unrealistisch“.

Auch beim zweiten Beispiel, der geplanten Verringerung des globalen Kohlenstoffbudgets, rechnet Hickel die offiziellen Quellen nach (Weltbank und internationalen Wissenschaftsräte). Um die 2-Grad-Grenze einzuhalten, müssten die CO2-Emissionen um 4% pro Jahr reduziert werden. (Zurzeit steigen sie noch.) Das wäre das zu schaffen, wenn wir komplett auf erneuerbare Energien umsteigen (das tut der europäische „Green Deal“ nur halbherzig). Doch rechnet man das ebenfalls erstrebte 3%-Wachstum hinzu, müsste die Dekarbonisierung schon 7,3% pro Jahr betragen. Diese Annahme ist erneut utopisch: Es ist sechsmal schneller als jemals in der Geschichte. Wie in einem Kasino wetten die SDGs also auf künftige Erfindungen, die es noch gar nicht gibt und die höchst unwahrscheinlich sind.

Es gibt einen weiteren Zaubertrick, der die Aussichten schönt: Negative Emissionstechnologien. Wenn man diese durchrechnet, sieht es auch hier düster aus: Um die steigende Verschmutzung auszugleichen, bräuchte man einen Wald zwei- bis dreimal so groß wie Indien. Beim derzeit massiven Landraub ist das erneut sehr unwahrscheinlich. Zudem gäbe es massive Nebenwirkungen, die die schönen Modelle nicht erfassen: Sie würde „die Nahrungsmittelproduktion untergraben und den Verlust biologischer Vielfalt, Wasserverarmung und chemische Belastung vorantreiben“. Und all das, obwohl der erwünschte Effekt einer Bindung von CO2 gar nicht sicher ist. Der rhetorische Trumpf, den die Weltpolitik zur Legitimierung des Wirtschaftswachstums einsetzt: beccs (bioenergy with carbon capture and storage), erweist sich erneut „spekulative Technologie“ mit Glücksspiel-Charakter. Das denkt sich Hickel nicht aus, er zitiert dafür Forschungen des European Academies Science Advisory Council, dem International Council for Science, dem International Social Science Council oder der International Renewable Energy Agency.

Die Einlösung der ökologischen und sozialen SDGs ist nach Hickel weiterhin möglich, aber nur, wenn wir die erstrebte Wachstumsrate von 3% fallenlassen. Die Ziele sind nur einzuhalten, wenn die globale Wirtschaftstätigkeit um 1,2 bis 2,7% zurückgeht. Diese Zahl lässt ein gewisses Wachstum in den ärmsten Ländern (LDCs) zu; vorausgesetzt der Norden leistet sein Beitrag. Das ist eine Frage der globalen Gerechtigkeit (Kothari). Politisch giltes, diese qualitativen Gewinne, nicht die befürchteten quantitativen Verluste in den Vordergrund zu stellen: Eine Verringerung würde mit einem Anstieg der Lebensqualität einhergehen, das bezeugen alternative Berechnungen wie der genuine progress indicator. In Gebrauchswerten ausgedrückt könnte sich die Lebensqualität stark verbessern: bessere und billigere Transportmittel, weniger Lärm und Schmutz, mehr Lebensraum in der Stadt, weniger laute und teure Straßen, die Wälder und Wiesen durchschneiden, und mehr Zeit zum Leben.

Das Fazit lautet: Die immanente Kritik der Hochglanzdarstellungen internationaler Institutionen teilt die vorgegebenen Ziele, zeigt aber, dass sie auf den geplanten Wegen unmöglich zu erreichen sind. Nachhaltige Entwicklungsziele und Förderung globalen Wirtschaftswachstums passen nicht zusammen. Wir stehen vor einer Wahl, die sich nicht durch Begriffsmagie aus der Welt schaffen lässt: Entweder wir erstreben Wirtschaftswachstum und lassen den Planeten in Flammen aufgehen, oder wir versuchen ihn zu retten, indem wir die Fixierung auf Wachstum um seiner selbst willen aufgeben und versuchen, wirtschaftliche Aktivitäten zu reduzieren, wo immer es möglich ist.


Christoph Henning ist Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt, und Privatdozent für Philosophie an der Universität St. Gallen.

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