Ernst Jünger: „Über Nationalismus und Judenfrage“ (1930)
Von Irmela von der Lühe (Berlin) –
Im September 1930 widmeten die konservativen, seit 1904 erscheinenden Süddeutschen Monatshefte ihr gesamtes Heft der „Judenfrage“. Von 14 Beiträgen stammten sechs aus der Feder von Repräsentanten des Judentums, zwei von Vertretern der Kirchen; an 10. Stelle eröffnete Ernst Jünger die Reihe völkisch-nationalistischer, radikal antisemitischer Artikel. Vermutlich war Ernst Jünger vom Herausgeber der Zeitschrift, Paul Nikolaus Cossmann (1869–1942), um seinen Beitrag gebeten worden.1 Seit Beginn der 20er Jahre hatte Ernst Jünger publizistisch und literarisch für einen „neuen Nationalismus“, einen in seinen Augen wahren Nationalismus plädiert. Unter dem Titel „Nationalismus“ und Nationalismus hatte er im September 1929 in der liberalen Zeitschrift Das Tagebuch Konzeption und Zielsetzung dieses radikalen Nationalismus erläutert und scharf abgegrenzt: vom Monarchismus, vom Konservatismus, von der bürgerlichen Reaktion und vom Patriotismus der Wilhelminischen Ära.2 Zugleich erklärte Jünger: „Auch ist es nicht etwa ein Hauptkennzeichen des Nationalisten, daß er schon zum Frühstück drei Juden verspeist – der Antisemitismus ist für ihn keine Fragestellung wesentlicher Art“.3Trotz solcher frivolen Zuspitzungen wurde Jünger vorgeworfen, ein „Judenfreund“ zu sein, so dass er sich zu einigen Klarstellungen veranlasst sah; unter dem Titel Schlusswort zu einem Aufsatze erschienen sie im Januar und Februar 1930 in den nationalrevolutionären Zeitschriften Widerstand und Die Kommenden. Jünger betonte darin, die „deutsche“ Frage sei ihm stets wichtiger gewesen als die „jüdische“, für letztere habe er im Grunde keine Zeit:
„Ich erkenne die zerstörerischen Qualitäten dieser Rasse an – aber was wären das für Zerstörer, die schon vor den Juden Angst haben wollten. (…) Der Jude ist den bürgerlichen Werten ebenso gefährlich, wie er denen einer heroischen Jugend ungefährlich ist“.4
Jünger fährt fort:
„Die Antisemiten gleichen einer Art von Bakterienjägern, die, wenn sie einen Keim ausgerottet zu haben glauben, sich tausend neuen gegenübersehen. Dies ist eine Methode, die mit der Manie enden muß, und die dazu führt, daß man auf Schritt und Tritt die Juden wimmeln sieht wie die weißen Mäuse im Delirium. Nein, hier gibt es eine bessere Medizin, die darin besteht, daß man sich Schritt für Schritt der großen feurigen Sonne nähert, die das heroische Leben bestrahlt – Temperaturen entgegen, die auch der feinste, verborgenste Keim nicht mehr zu ertragen vermag. Der Deutsche gewinne sein eigentliches Element – in ihm ist das Fremde zur tiefsten Ohnmacht verdammt wie ein Fisch, der auf eine vulkanische Insel geschleudert wird.“ (S. 544)
Bakteriologisch-medizinische und elementar-kathartische Bildwelten verknüpfen sich in solchen Sätzen zu Visionen von grundstürzender Reinigung und befreiender Rückkehr zum Eigentlichen. Sofern „der Deutsche“ endlich der „großen feurigen Sonne“, dem „heroischen Leben“ zustrebe, werde „das Fremde“ ultimativ „zur tiefsten Ohnmacht verdammt“ sein. Die forciert-expressionistische Bildsprache macht die eliminatorischen Implikationen solcher Phantasien vom naturgegebenen Untergang der Juden in der „feurigen Sonne“ eines deutschen Aufbruchs zum „heroischen Leben“ zu erwartbaren, naturgesetzlichen Vorgängen. Die diskurspolitische Realität solcher Visionen entfaltet hingegen der einige Monate später erscheinende eingangs erwähnte Essay. Im Mittelpunkt steht die Behauptung, der moderne Antisemitismus beruhe auf einer „Überschätzung des Juden“, er sei Bestandteil und Merkmal des Liberalismus und letzterer müsse bekämpft werden, wenn ersterer sich erübrigen solle. Dies setze eine klare Erkenntnis von Rolle und Funktion der Juden voraus: Sie bekleiden „repräsentative Stellungen“, der „unvermeidliche Typ des jüdischen Aristokraten“, kurzum, der „Zivilisationsjude“ – Jünger spricht an anderer Stelle auch vom „Assimilationsjuden“ – ist für die „Reparatur“ einer dem Untergang geweihten Welt zuständig, er profitiert davon; und vor allem nutzt ihm der Antisemitismus konservativer und liberaler Kreise: „(er) kann sich über die Beachtung, die ihm von den Mächten, die heute konservative Gedanken zu vertreten glauben, geschenkt wird, nicht beklagen, und es ist die Frage, inwiefern ihm die antisemitische Politur dieser Mächte nicht sogar zugute kommt.“(S. 589)
An immer neuen Beispielen markiert Jünger den Antisemitismus als „stumpfe Waffe“, die im Grunde nur den Juden selbst nutze, vom Kampf für das große Ganze einer zur Gestalt sich emporschwingenden deutschen Nation hingegen ablenke. Es müsse aus revolutionärer Sicht endlich erkannt werden, dass Juden „auf Verfolgung und Antisemitismus angewiesen“ seien; auch das Ghetto sei eine „jüdische Erfindung“ (S. 589). Die Begründung für solche abenteuerlichen Behauptungen liefert Jünger mit der nicht minder abenteuerlichen Feststellung, Juden besäßen lediglich eine „ethische“, aber keine „heroische Struktur“: „Eine Grundstimmung, die als das umgekehrte Pathos der Distanz bezeichnet werden kann.“ (S. 589)
Im Mangel an heroischem Bewusstsein, in – so wird man es wohl verstehen müssen – ihrer Bindung ans Gebot liberaler Humanität und humaner Vorurteilslosigkeit sind die Juden sowohl Repräsentanten des Liberalismus als auch eines Konservatismus geworden, dessen „Ursprünglichkeit“ verloren gegangen ist.
Vom „Pathos der Distanz“ spricht bekanntlich Friedrich Nietzsche in der Genealogie der Moral und meint damit jene vornehme Überlegenheit hochgesinnter, meist aristokratischer Mächte bzw. Männer, die sich mit einer nivellierenden Moderne nicht abfinden wollen und die sich im Gefühl und Wissen für natürliche Rangunterschiede diesen Niederungen verweigern.5 Wenn Jünger in Bezug auf Juden von einem „umgekehrte(n) Pathos der Distanz“ spricht, vom wesenhaften Mangel an „heroischer Struktur“, so bewegt er sich nicht nur in den Gleisen des klassischen Rassen-Antisemitismus, er plädiert wortmächtig dafür, die für Juden typische Struktur des „Als-Ob“, der Täuschung, Verstellung, der Maske und des reinen Spiels zu durchschauen und zu entlarven. Der „Stoß gegen die Juden“sei stets „viel zu flach angesetzt“; „volksheilkundliche“ Vorstellungen, nach denen die Juden „als Schwärme atomistisch angreifender Bakterien und Spaltpilze“ (S. 590) unschädlich zu machen seien, um das „deutsche Leben“ zu reinigen und zu immunisieren, seien „demagogisch“ durchaus geschickt – zumal die Demagogie „unter den Künsten keine geringe“ sei; aber all das reiche nicht, so lange kein wirklicher Wille zur Gestalt sich Bahn breche:
„Denn am Ende dieses Willens steht die Gestalt des Deutschen Reiches als einer auf ihren eigentümlichen Wurzeln ruhenden Macht. Wo in Wahrheit die deutschen Grenzen liegen, was deutsche Literatur, deutsche Geschichte, deutsche Wissenschaft, deutsche Psychologie eigentlich ist, was der Krieg, die Arbeit, der Traum, die Kunst für uns bedeuten: das(s) dies und noch viel mehr gesehen und erkannt und also wirksam wird, das ist die einzige Gefahr, die dem Zivilisationsjuden droht.“ (S. 591)
Im September 1930, dem Monat des Erdrutschsieges der NSDAP bei den Reichstagswahlen, erklärt Ernst Jünger Liberalismus, aber auch Bolschewismus und Faschismus als für Deutschland unbefriedigend: „man darf von diesem Lande wohl schon hoffen, daß es einer eigenen und strengeren Lösung fähig ist“.(S. 591) Gleichzeitig unterstreicht er, dass Juden nicht Deutsche sind und sein können, dass ihre gestaltlose und geistbetonte Neigung zur Assimilation, ihre Bereitschaft und Begabung zu Verstellung und Maskerade ihre Fremdheit nur unterstreicht; ein Umstand, den patriotische Konservative endlich begreifen sollten. Als Medium und Ausdrucksform solchen Verstehens empfiehlt Jünger Ressentiment und Demagogie. Wenig überraschend bekundet Jünger hingegen jüdischer Orthodoxie und jüdisch-zionistischer Selbstbesinnung entschieden Respekt. Ein Bewusstsein für „die Eigenart eines jeden Volkes“ sieht er auch im Judentum und prognostiziert:
„Ohne Zweifel wird sie in demselben Maße an Boden zurückgewinnen, in dem der Nationalismus der europäischen Völker an Wucht gewinnt“ (S. 544).6
Die abschließenden Sätze aus dem Essay über Nationalismus und Judenfrage weisen hingegen in eine andere Richtung. Sie scheinen dem Schluss aus Richard Wagners Essay über Das Judentum in der Musik (1850/1869) abgelauscht und bilanzieren so die visionär-eliminatorischen Drohungen des gesamten Essays: „Im gleichen Maße jedoch, im dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden; und er wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.“ (S. 592)
Am 17. Oktober 1930 – wenige Tage nach Eröffnung des am 13. September 1930 neugewählten Reichstags, zu der die von 12 auf 107 Mandate gewachsene Fraktion der NSDAP in SA-Uniform erschienen war – hielt Thomas Mann im Beethovensaal der Berliner Philharmonie seine berühmte Deutsche Ansprache. Appell an die Vernunft. Nachdrücklich plädierte er für die Rettung der Republik durch ein Bündnis zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie. Es kam zu lautstarken Protesten aus einer Gruppe von circa 20 Männern im Smoking, unter ihnen die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Freilich blieb der national-heroische Aktivismus Jüngers eine Episode.
Anders als Martin Heidegger und Carl Schmidt hat Jünger sich zum nationalsozialistischen Regime weder positiv geäußert noch sich ihm angedient; die Tagebücher aus seiner Zeit als Besatzungsoffizier in Paris enthalten aufschlussreiche Feststellungen zum sog. „jüdischen Schicksal“. Nach der Lektüre des Buches Jesus Sirach zeigt sich Jünger am 15. Mai 1943 von Sprachkraft und Tiefsinn der Bibel „als Same und Urstoff aller Schriften“ beeindruckt und konstatiert abschließend:
„Zu dieser seiner großen Literatur muß das jüdische Volk zurückkehren; und sicher wird es die entsetzliche Verfolgung, die es jetzt erleidet, darauf hinweisen. Der Jude, meist unsympathisch in seiner Klugheit, wird Freund und Lehrer, wo er als Weiser spricht.“7
Im Massenmord an den deutschen und europäischen Juden erkennt Jünger zwar eine „entsetzliche Verfolgung“, aber zugleich ein Leiden mit nationalpädagogischem Potential; das „jüdische Volk“ – so Jüngers ‚Empfehlung‘ – müsse und werde sich auf seine „große Literatur“ zurückbesinnen, wenn es durch sein gegenwärtiges „Leiden“ hindurchgegangen sei. Dann werde der „in seiner Klugheit“ so „unsympathische“ Jude zum wahrhaft „Weisen“ und insofern dann auch zum „Freund und Lehrer“ der Deutschen (?) werden. Ob eine solche Prophezeiung, durch die die tatsächliche Verantwortung für das Mordgeschehen einer ebenso blinden wie anmaßenden geschichtsphilosophischen Deutung überantwortet wird, noch mit dem Begriff des „intellektuellen Antisemitismus“ zu fassen ist, sei dahingestellt.
Irmela von der Lühe, Professorin (a.D.) für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und (seit Oktober 2013) Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im im Bereich der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, der Literatur des Exils und der Shoah, der Literaturgeschichte weiblicher Autorschaft sowie der Thomas Mann-Familie.
1 Zu den Einzelheiten vgl.: Helmut Kiesel: Ernst Jüngers Verhältnis zu Juden und Judentum. Ein historischer Überblick. In: Jünger-Debatte 1 (Ernst Jünger und das Judentum), hrsg. von Thomas Bantle, Alexander Pschera und Detlev Schöttker. Frankfurt/M. 2017, S. 9–22, besonders S. 18–21.
2 Ernst Jünger: „Nationalismus“ und Nationalismus. In: Politische Publizistik 1919–1933, hrsg. von Sven Olav Berggötz. Stuttgart 2001. S. 501–509. Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
3 Ebd., S. 504.
4 Ernst Jünger: Schlusswort zu einem Aufsatze. In: Politische Publizistik, S. 538-546, hier S. 544.
5 Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel „Pathos der Distanz“ in: J. Ritter/K.Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd.7. Basel 1989, Sp.199–201.
6 Seine Sympathie für ein nationalbewusstes Judentum und damit für den Zionismus äußerte Jünger u. a. in dem Essay Der Wille zur Gestalt (Politische Publizistik, S. 489–493) vom August 1929. Vgl. außerdem Detlev Schöttker: Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershom Scholem. In: Sinn und Form 61, Heft 3, 2009. S. 293–303.
7 Zit. nach Kiesel (Anm.1), S. 22.