Interview mit Dieter Birnbacher

Dieter Birnbacher war bis zu seinem Ruhestand 2012 Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

prae|faktisch: Wieso wollten Sie Philosoph werden?

Dieter Birnbacher: Ich bin Philosoph geworden, weil ich die Chance eines Stipendiums in Cambridge hatte und diese nicht ungenutzt lassen wollte. Jeder einzelne Karriereschritt war dann erneut mit Unsicherheiten behaftet. Meine Alternative wäre die gewesen, Musiker zu werden bzw. Musiklehrer – das erstere eine noch brotlosere Kunst und das letztere sehr viel unselbständiger. Das Philosophiestudium in England war vor allem anstrengend, aber auch immens fruchtbar, das in Deutschland vor allem frustrierend und sehr viel weniger ergiebig.

Inwiefern hat Ihre Herkunft (lokal, sozial) sie zur Philosophie oder zu bestimmten Fragen gebracht?

Weniger die lokale und soziale Herkunft (meine Eltern hatten beide kein Abitur) als die gymnasialen Lehrer waren von Bedeutung, vor allem die Philosophielehrer in der Oberstufe, daneben auch die Begeisterung für die in den 60er Jahren ideologisch führende Frankfurter Schule. Wichtig war auch die Freundschaft mit einem langjährigen Mitschüler, der einen ähnlichen Lebensweg wie ich durchlaufen hat und weitgehend dieselben Enthusiasmen teilte. Er ist ebenfalls Philosoph geworden.

Welche PhilosophInnen zu Beginn Ihrer Laufbahn waren für Sie besonders wichtig?

Einige waren besonders wichtig – in meinem Fall besonders Günther Patzig, der mein Vorbild war und der mich in meinen ersten und weiteren Schritten verlässlich unterstützte. Es war mir eine große Freude, bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an ihn durch die Universität Saarbrücken die Laudatio zu halten und im Herbst letzten Jahres den öffentlichen Vortrag bei einer Göttinger Gedenkveranstaltung.

Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Unterschiede zwischen der heutigen und ihrer Generation von PhilosophiestudentInnen?

Die heutigen Philosophiestudierenden sind sehr viel weniger neurotisch, weniger exaltiert und viel weniger interessant. Die Angleichung der Philosophie an andere Wissenschaften hat auch die erfasst, die sie betreiben. Sie sind fast so stromlinienförmig effizienz-und wettbewerbsorientiert wie die heutigen Automodelle. Es fehlen die Ecken und Kanten, vor allem auch das dezidierte politische Engagement.

Welchen Ratschlag würden Sie Studierenden und KollegInnen am Anfang ihrer Karriere geben?

Geduld zu haben und keine nicht zu Ende gedachten Gedanken zu veröffentlichen. Ich gestehe allerdings, dass ich als junger Philosoph diese Geduld ebenfalls nicht in dem wünschenswerten Ausmaß aufbrachte.

Welche Trends innerhalb der Philosophie begrüßen Sie, welche sehen Sie kritisch?

Die Verwissenschaftlichung der Philosophie ist legitim, birgt aber auch die große Gefahr, den Kontakt zu den Fragen, die zur Philosophie motivieren, zu verlieren und die gesellschaftliche Aufgabe der Philosophie, nämlich Aufklärung zu betreiben und zu fördern, zu vernachlässigen. Die Philosophie spielt zwar heute eine größere Rolle in der Öffentlichkeit als vor 50 Jahren, aber sie könnte viel häufiger, intensiver und fundierter zu Realproblemen Stellung nehmen. Ich versuche das vor allem in Gestalt der Mitarbeit in Kommissionen und anderen Beratungsgremien. In dem Vortrag „Philosophie als öffentlicher Vernunftgebrauch“ zum Gedenken an Günther Patzig habe ich dieses Desiderat  folgendermaßen formuliert:

„Für die Philosophie gehört der öffentliche Vernunftgebrauch zu ihren angestammten und unbestritten zentralen Aufgaben. Das going public, das für die Physik, die Biochemie oder die Geschichtswissenschaft ein Nice to have ist, ist für sie ein Must have. Auch wenn sie nicht für allen, die einen Beitrag zur Fortentwicklung der Philosophie leisten, gleichermaßen angesonnen werden kann, ist ihr diese Rolle doch wesentlich. Dafür steht die archetypische Figur des Sokrates, der die Philosophie auf den Marktplatz brachte und das Risiko auf sich nahm, belächelt, verspottet, beschimpft und ­– in seinem Fall am Ende sogar zum Tode verurteilt zu werden. Ähnlich erging es Sokrates’ Bewunderer John Stuart Mill, der von vielen geachtet, von vielen aber auch – u. a. wegen seines Eintretens für den Utilitarismus, seines Kampfes für die Frauenemanzipation und nicht zuletzt wegen seines unkonventionellen Lebenswandels – belächelt, verspottet und beschimpft wurde und dem – wie Sokrates – die öffentliche Propagierung seiner Ansichten sogar einen Aufenthalt im Gefängnis einbrachte.“

Gibt es Bücher/Aufsätze die Ihrer Meinung nach jede/r PhilosophIn gelesen haben sollte und warum?

Ein Cambridger Dozent diktierte zu Beginn seiner Vorlesung eine Liste mit Büchern, die jeder seiner Hörer gelesen haben sollte. Darunter war kein einziger üblicherweise als kanonisch geltende philosophische Text. Eine solide Bildung, vor allem in literatur- und kulturhistorischer Hinsicht, wäre auch für heutige Philosophiestudierende empfehlenswert.

Wie würden Sie das Verhältnis von Privatleben und Philosophie beschreiben?

Was man philosophisch denkt und wie man lebt, nähern sich zunehmend an. Das ist allerdings ein lebenslanger Prozess, bei dem es vielleicht erst kurz vor dem Sterben zu einer Konvergenz kommt. Im Prinzip lassen sich alle Lebensbereiche und -tätigkeiten philosophisch durchdringen, so dass mehr oder weniger alles philosophisch wird. So versuche ich z. B. meinen ethischen Prinzipien in meiner gelebten Moral nach und nach näherzukommen (ein weiter Weg) oder etwa auch meine musikalischen Aktivitäten musikästhetisch zu fundieren.