#MeToo und die akademische Philosophie

Von Norbert Paulo (Graz & Salzburg)


Was #MeToo mit der akademischen Philosophie zu tun hat? Leider eine Menge. Die #MeToo-Debatte betrifft zwar vor allem sexuelle Gewalt, darüber hinaus aber auch andere systematische Benachteiligungen wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe innerhalb bestehender Machtverhältnisse. Ich glaube, dass die Art und Weise, wie wir an den Universitäten Philosophie betreiben, solchen Benachteiligungen förderlich ist. Die Lösung ist simpel: Wir sollten anders Philosophie betreiben.

Wie schon Andrea Klonschinski auf praefaktisch geschrieben hat, sind bisher vor allem Vorwürfe der sexuellen Belästigung aus den USA bekannt geworden, am prominentesten wohl die gegen Thomas Pogge und John Searle. Wer aber auch abseits dieser prominenten Fälle einen Eindruck davon gewinnen will, was Frauen in der akademischen Philosophie so alles widerfährt, lese nur die Beiträge auf What Is It Like to Be a Woman in Philosophy?, auf die auch Hilkje Charlotte Hänel in ihrem Beitrag bereits hingewiesen hat. Hilkje hat aus diesem Post vom 28. April 2018 zitiert:

45 minutes ago I got a phone call from a man who identified himself as [name] from [University]. He asked me a few questions about my research and teaching interests, including “Do you use ancient Greek sources in your ethics class?” I said sure, a bit of Aristotle. “The Nicomachean ethics?” Yep. He then asked “When was the last time you stood naked on your desk with cum dripping from your cunt?” He followed up with several more comments, including an assurance that he was about to cum and that I liked it (why else would I be listening). […]

Ich will hoffen, dass Vergleichbares an europäischen Universitäten nicht vorkommt. Davon auszugehen habe ich allerdings keine guten Gründe mehr. Bei einer Diskussion unter dem Titel „#Metoo@Philosophie“ im Rahmen der Tagung für Praktische Philosophie 2018, bei der ich die hier verschriftlichten Ideen präsentiert habe, hat Anne Siegetsleitner eindringlich etliche Beispiele systematischer Benachteiligung von Frauen in Machtverhältnissen in der akademischen Philosophie beschrieben. Und zum Ausklang des Jahres 2018 las ich auf einem sozialen Medium einen Beitrag einer befreundeten Philosophieprofessorin, in dem sie schreibt, dass sie im vergangenen Jahr die schlimmsten Formen der Diskriminierung in ihrer bisherigen akademischen Karriere erlebt habe.

Es scheint etwas im Argen zu sein, das viele Männer im Betrieb – mich eingeschlossen – im akademischen Alltag kaum (oder gar nicht) wahrnehmen. Die Probleme sind natürlich vielfältig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier einige genannt:

Philosophie ist (zu) männlich

Bis vor ganz kurzer Zeit hatten fast ausschließlich Männer (volle) Philosophieprofessuren inne. Und das merkt man bis heute an allen Ecken und Enden:

Stichwort Konferenzen: Auf der Tagung der Gesellschaft für analytische Philosophie (GAP), die unter dem schönen „Vielfalt in der Philosophie und darüber hinaus“ 2018 in Köln stattfand, wurden bis auf eine Ausnahme alle Hauptvorträge von Männern gehalten. Auch die vergebenen akademischen Preise – Nachwuchspreise ausgenommen – gingen alle an Männer. (Der Frege-Preis ging sogar bisher immer an Männer, dieses Mal an Dieter Birnbacher). Auch Podiumsdiskussionen waren ganz überwiegend mit Männern besetzt, ausgerechnet die zum Thema „Die öffentliche Wahrnehmung der akademischen Philosophie“ sogar ausschließlich.

Nicht viel besser war es auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil) 2017 in Berlin. Dort gab es ein neues Veranstaltungsformat, die sogenannten Foren, die, so die Beschreibung der Veranstalter „eine Brücke von den Universitäten in die breitere Öffentlichkeit“ schlagen sollen. Von 15 Foren mit ihren 54 Teilnehmer_innen waren ganze 13 Frauen, also ein knappes Viertel. Welchen Eindruck das wohl in der breiteren Öffentlichkeit hinterlässt? Immerhin aber gab es auf dieser Tagung zwei Hauptvorträge von Frauen (und zwei von Männern).

Stichwort Lehre: Das Problem ist bekannt. Die Geschichte der Philosophie wird üblicherweise fast ausschließlich anhand männlicher Philosophen erzählt. Ein Blick in das Namensregister in Birnbachers ansonsten wunderbarem Buch Analytische Einführung in die Ethik illustriert den Punkt: Es werden durchaus Frauen genannt, etwa Elizabeth Anscombe (2 Mal), Simone de Beauvoir (1), Judith Butler (3), Philippa Foot (1) und Martha Nussbaum (1). Aber fast genauso oft kommen sogar Männer vor, die nicht im engeren Sinne Philosophen sind, bspw. Goethe (1), Hugo (1), Jesus (2), Kleist (1), Mohammed (1), Picasso (1), Schiller (2). Über die wirklich großen Namen unter den männlichen Philosophen muss ich wohl nicht viel sagen. Kant rangiert bei ca. 30 Nennungen

Stichwort Blog: Gottfried Schweiger und ich werden als Betreiber dieses Blogs regelmäßig dafür kritisiert, dass deutlich mehr Männer als Frauen für praefaktisch schreiben. Gottfried hat sich dazu auch schon in einem Beitrag geäußert. Unser Problem: Wir fragen deutlich mehr Frauen als Männer an. Aber Frauen sagen viel, viel, viel öfter ab als Männer. (Gleiches gilt auch für Tagungen, Publikationsvorhaben etc. Ich möchte den Veranstalter_innen der GAP- und DGPhil-Tagungen also keine bösen Absichten unterstellen.) Natürlich will ich damit auch nicht die Frauen in der akademischen Philosophie kritisieren. Vielmehr will ich darauf hinweisen, dass wir offenbar ein systemisches Problem haben.

Frauen werden zu wenig ernst genommen

Wie die Disziplinen innerhalb der akademischen Philosophie überwiegend zwischen Männern und Frauen aufgeteilt sind, ist bemerkenswert. Frauen beherrschen natürlich alle philosophischen Disziplinen und sind auch in allen mehr oder weniger präsent. Bestimmte Bereiche sind aber überwiegend in weiblicher Hand und werden von Männern oft nicht ernst (genug) genommen. Denken wir bspw. an Feminismus, Critical XYZ-Studies, Gender-XYZ, Philosophiedidaktik und Ästhetik. Auf der GAP-Tagung in Köln hat Louise Antony einen Hauptvortrag zum Thema „The nature of Gender“ gehalten. Bei der DGPhil-Tagung in Berlin gab es ein „Forum“, an dem zwei Frauen und zwei Männern teilgenommen haben, Thema: „Politik der Bedürfnisse“. Ein weiteres Forum hatte sogar zwei Frauen und nur einen Mann zu bieten, Thema: „Moralisches Lernen im Ethik- und Philosophieunterricht“. Alle anderen 13 Foren hatten mehrheitlich männliche Teilnehmer. Wenn Fakultäten erkennen, dass sie zu wenige Frauen haben, schneiden sie mitunter sogar, so wird gemunkelt, die auszuschreibenden Professuren so zu, dass Bewerbungen von Frauen wahrscheinlicher werden.

Gender, Kultur, Ethnie, Sprache…

Bisher war ausschließlich von Frauen und Männern die Rede. Es gibt natürlich eine Vielzahl weiterer Formen der systematischen Benachteiligung in Machtverhältnissen in der akademischen Philosophie, für die wir sensibel sein sollten. Ich denke hier insbesondere an weiter gehende Genderfragen sowie an kulturelle, ethnische und sprachliche Vielfalt, die in der deutschsprachigen akademischen Philosophie nahezu inexistent zu sein scheint.

Was tun?

Die Probleme sind also vielfältig. Entsprechend gibt es viele Ansatzpunkte für Verbesserungen.

An deutschsprachigen Universitäten ist die Macht faktisch noch immer weitgehend unter den Lehrstuhlinhaber_innen aufgeteilt, wo sie relativ intransparent ausgeübt wird. Das akademische Fortkommen hängt nicht unerheblich vom Wohlwollen des meist männlichen Professors ab. Die Bewegung hin zur Departmentstruktur von Philosophieinstituten könnte ein Weg in die richtige Richtung sein.

Ein zweiter Ansatzpunkt sind die Qualifizierungsleistungen (Dissertation, Habilitation), die auch an den meisten Philosophieinstituten inzwischen sowohl als Monografie als auch kumulativ erbracht werden können. Nur wird beides so verstanden, dass es nicht zu kollaborativer Arbeit passt, und damit auch nicht zur immer stärkeren Drittmittelfinanzierung der Qualifizierungsstellen, weil in beiden Formaten fast ausschließlich Alleinautorenschaft verlangt wird. Tatsächlich sind insbesondere die Ergebnisse von Projektarbeiten aber oft Teamwork und werden auch als solche veröffentlicht. Promotions- und Habilitationsordnungen verlangen mitunter die Angabe (in Prozent) des Beitrags, den man zu den Veröffentlichungen in Koautorenschaft geleistet hat. Ganz davon abgesehen, dass eine solche Angabe nach monate- oder oft jahrelanger Kollaboration oft unmöglich sein dürfte: Ich möchte so nicht arbeiten. Ich möchte gemeinsame Arbeit als solche geschätzt wissen. Ich kann oft gar nicht mehr sagen, wer welche Idee hatte und wer welchen Teil formuliert hat.

Damit verbunden ist eine Art Geniekult, der in der Philosophie noch immer verbreitet ist: Der ideale Philosoph (ja, männlich) ist der, der einsam am Schreibtisch sitzt und allein aus seiner Verstandeskraft geniale Ideen gebiert. Dass andere diese Ideen nicht verstehen oder ablehnen, wird – anders als in den meisten anderen Disziplinen – mitunter als irrelevant angesehen. Wolfram Eilenberger hat kürzlich mit seinem Buch Zeit der Zauberer genau diesen Geniekult als Ideal dargestellt, an dem sich die zeitgenössische Philosophie messen solle. Dieser Geniekult, so meine Befürchtung, ist der Geist, der hinter so mancher Promotions- und Habilitationsordnung steckt. Es sollte nicht allzu schwierig sein, diese Ordnungen zu ändern und den gegenwärtigen Realitäten der Stellenfinanzierung anzupassen. Ganz nebenbei kann man damit Teamarbeit wertschätzen. Aber natürlich prägt dieser Geniekult die akademische Philosophie auch darüber hinaus.

In einem wunderbaren Büchlein haben Maggie Berg und Barbara K. Seeber (The Slow Professor) dafür plädiert, wissenschaftliche Arbeit als „normale“ Tätigkeiten zu verstehen. Nur weil man an einer Universität arbeitet, muss man nicht immer arbeiten oder ein schlechtes Gewissen haben, weil man gerade nicht arbeitet. (Es ist schlimm genug, dass man inzwischen, wie es bspw. der Philosoph Eric Schwitzgebel tut, argumentieren muss, dass Freizeit auch für akademische Philosophen möglich und sinnvoll ist.) Auch muss man nicht andauernd geniale Ideen haben, atemberaubende Lehrveranstaltungen anbieten und Unmengen an Drittmitteln einwerben. Das gilt natürlich in der Philosophie ebenso wie in anderen Disziplinen. Die allermeisten akademischen Philosoph_innen sind sehr klug, kenntnisreich und kreativ. Aber auch sie kommen wahrscheinlich zu besseren und kreativeren Ergebnissen, wenn sie öfter in Gruppen arbeiten, wenn sie sich also oft über philosophische Themen austauschen, und zwar über die eigenen Fortschritte wie über die Rückschritte. Jede_r verrennt sich ab und an mit einer Idee. Und (fast) jede_r hängt auch mal zu lange an einem Thema fest, das eigentlich niemanden (auch ihn oder sie selbst nicht) interessiert.

Normaler menschlicher Austausch mit Kolleg_innen kann sowas verhindern helfen. Er könnte auch verhindern, dass bei der Beurteilung von Aufsätzen, Vorträgen und Anträgen die Latte zu hoch gehängt wird. Die normale Erwartung scheint zu sein, dass die Philosophin, die ihre Ideen präsentiert, alle einschlägigen, verfügbaren Arbeiten berücksichtigt hat, dass ihre Idee von denen der Vorgänger_innen verschieden ist und dass sie – nach welchen Kriterien auch immer – besser ist als die der Vorgänger_innen. Klarerweise wird diese Erwartung selten erfüllt, auch nicht von den großen Namen im Fach. Man muss schon aus einem merkwürdigen Holz geschnitzt sein, um an solchen Erwartungen nicht zu verzweifeln. Kurz: Wir sollten uns eingestehen, dass nicht alles bahnbrechend sein muss, was veröffentlicht, vorgetragen oder beantragt wird.

Mein Plädoyer in Hinblick auf die #MeToo-Problematik in der akademischen Philosophie ist einfach: Wir sollten nicht primär Frauen oder „Minderheiten“ fördern, sondern unsere akademische Tätigkeit menschlich umgestalten. Löst das alle Probleme, von denen oben die Rede war? Natürlich nicht. Aber die langfristigen Auswirkungen eines grundlegenden Wandels der Art und Weise, wie wir an Universitäten Philosophie betreiben, sollte man nicht unterschätzen.