Bücher schreiben ist nicht wie Smoothie trinken. Und trotzdem braucht es sie in der Philosophie.
Von Ursula Renz (Graz)
Die beste aller möglichen Welten wäre wahrscheinlich eine, in der es philosophische Bücher gäbe; und die Bibliothek, in die ich mich gerne zum Lesen zurückzöge, hätte nicht nur bequeme Ohrensessel, eine rasche Internet-Verbindung und elektronischen Zugang zu allen möglichen Zeitschriften, sondern sie enthielte auch Bücher, und zwar nicht nur von Aristoteles, Spinoza und Kant, sondern auch von Philippa Foot, Peter F. Strawson, Frederik Beiser oder Susan James. Ja, es gäbe in ihr auch Bücher, von deren Existenz ich nicht weiß oder deren Lektüre ich keinen Moment lang in Erwägung zöge. Und weil eben die beste aller möglichen Welten eine solche ist, stünde auch nicht zur Debatte, dass philosophische Bücher weiter existieren und für wertvoll gehalten werden.
Allerdings leben wir nicht in der besten aller möglichen Welten. Wann können wir uns schon in einen Ohrensessel sinken lassen und in jene Bücher vertiefen, die zu lesen wir uns vorgenommen haben? Ebenso fehlen die Zeit und die Muße, um Bücher zu schreiben, und das, obwohl akademische Einrichtungen und Rituale das von uns verlangen. Wozu es in der Philosophie noch Monographien braucht, ist eine Frage der Ökonomie. Bevor ich diese Frage angehe, möchte ich indes daran erinnern, dass auch die Vorstellung der besten aller möglichen Welten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgt – nur wendet sie diese Gesetzmäßigkeiten nicht an, um zu entscheiden, was jetzt zu tun ist, sondern um zu klären, was überhaupt existieren soll. Existieren sollen möglichst viele Dinge, genauer: all jene, die ohne Widerspruch koexistieren können. Und da Monografien und Zeitschriften-Artikel grundsätzlich koexistieren können, haben beide ihren Ort in der besten aller möglichen Welten.
Nur das möchte ich daher für die akademische Philosophie der Zukunft fordern: dass in ihr verschiedene Publikationsformate einen Ort haben und gewürdigt werden, und dass die Bedingungen so sind, dass sowohl Monografien als auch Zeitschriften-Artikel entstehen und rezipiert werden können. Die Philosophie von heute und morgen braucht schlicht beides.
Warum braucht es Monografien?
Zunächst: Es gibt verschiedene Typen von Monografien, deren Funktionen und Vertriebslogiken variieren. Ein Lehrbuch ist etwas anderes als eine philosophiehistorische Studie oder eine analytische Abhandlung zu einem komplexen Problem. Von all dem zu unterscheiden sind wiederum jene Bücher, die sich an eine größere Öffentlichkeit wenden. Könnte man den Sinn von Monografien an Auflagenzahlen ablesen, so hätten die Lehrbücher und populärwissenschaftlichen Texte klar die Nase vorn. Deren Wert scheint weniger umstritten – ob zu Recht oder Unrecht, möchte ich hier offenlassen.
Noch eine Vorbemerkung: Auch bei wissenschaftlichen Monografien können wir gute von weniger guten unterscheiden. Während wir bei manchen Büchern denken, dass sie in unserer Bibliothek in der besten aller möglichen Welten unbedingt ihren Platz haben sollten, finden wir andere so nervig oder überflüssig, dass wir sie gerne im Feuer unseres Ärgers verbrennen oder im Ozean unserer Langeweile untergehen sähen. Auch von diesen Büchern möchte ich absehen und mich auf die guten wissenschaftlichen Monografien beschränken, die ihren Weg in unsere Bibliotheken nur dank vieler Jahre harter Arbeit finden. Warum, so die Frage, sollten wir für das Schreiben solcher Bücher Zeit aufwenden, wenn Zeit doch zu den knappen Ressourcen gehört, und die wissenschaftlichen Diskurse immer kurzatmiger werden? Und warum sollten wir uns dafür ausgerechnet in der sogenannten rush hour des Lebens zwischen Anfang dreißig und Ende vierzig Zeit nehmen?
Die Antwort auf die erste Frage lautet klar und bündig: Gerade weil Zeit zu den knappen Ressourcen gehört und die Diskurse kurzatmiger werden, sollten wir der philosophischen Auseinandersetzung mit jenen Fragen, die wir – für uns persönlich oder im Allgemeinen – für wichtig halten, soviel Zeit einräumen, dass wir in die Tiefe gehen können. Das kann auch in einer Serie von Aufsätzen geschehen, aber wenn wir schon ein größeres Projekt verfolgen, warum sollten wir dafür nicht die entsprechende Form wählen – und zwar von Anfang an, statt sich von Aufsatz zu Aufsatz (und von einem peer-review-Verfahren zum nächsten) zu quälen und dabei Gefahr zu laufen, das übergeordnete Ziel aus den Augen zu verlieren und vom Diskurs getrieben zu werden, statt sich an den eigenen Überlegungen zu orientieren?
Nun sind mittlerweile in fast allen Subdisziplinen der Philosophie die Diskussionen so schnelllebig, dass man mit einer Monografie stets zu spät kommt oder zu kommen scheint. Das bestreite ich nicht. Es ist m.E. durchaus sinnvoll, sich an Debatten mit Beiträgen in den entsprechenden Formaten zu beteiligen, vorausgesetzt, man hat dazu etwas zu sagen. Ebenso sinnvoll ist es, sich von ihnen belehren zu lassen, und sei es durch die schmerzhafte Erfahrung, dass eigene Artikel abgelehnt werden, weil sie abseits von laufenden Debatten operieren. Das trägt zur Entwicklung der fachlichen Diskussion bei und schärft die eigenen Argumente. Gleichwohl ist für die Philosophie die Perspektive auf große Fragen und übergreifende Probleme wesentlich. Die Perspektive kommt einem leicht abhanden, wenn man sich stets über die Argumente anderer beugt und fragt, wie man diese widerlegen könnte.
Auf lange Sicht kann das überdies zu einem veritablen Handicap werden, und zwar nicht zuletzt für einen selbst. Das Schreiben von Büchern unterstützt Philosoph*innen in einer Weise in der Entwicklung der eigenen wissenschaftlichen „persona“, wie das bei Aufsätzen weniger der Fall sein dürfte. Das schlägt sich auch in der Selbstwahrnehmung nieder. Ich habe öfters gesehen, dass Kolleg*innen, die an den besten Departments unterrichten und alles erreicht zu haben scheinen, unter ihren nicht geschriebenen Büchern leiden, trotz beachtlicher Erfolge mit ihren Artikeln. Ich werde es nicht mehr vergessen, wie ein deutlich älterer Kollege reagierte, als ich ihm auf die Frage „Is your book already out?“, entgegnete: „My second book is already out!“
Habe ich dieses Leiden als junge Post-Doktorandin v.a. an gut bestallten Professoren beobachtet, so scheint es heute früher um sich zu greifen. Bei manchen stellt es sich beim zweiten Buch ein, das sie über Jahre oder Jahrzehnte schreiben woll(t)en und nicht zu Ende bringen; andere machen diese Erfahrung schon beim ersten Buch, das zu schreiben ihnen viele Jahre nach ihrem Doktorat nicht gelingt. Einige schaffen es zwar irgendwann doch noch, das Buch zu schreiben, anderen gelingt der Befreiungsschlag, indem sie ihre Buchprojekte aufgeben. Wieder andere scheitern an beidem. Das wünsche ich keinem Kollegen und keiner Kollegin – selber bin ich Vittorio Klostermann bleibend dankbar dafür, dass er mich vor dem Antritt meiner Professur in Klagenfurt vor die Alternative stellte: Jetzt oder nie mehr!
Bücher schreiben – in der rush hour des Lebens?
Nun entstehen in unserer maximal zweitbesten akademischen Welt Bücher nicht unter den günstigsten Voraussetzungen. Wir schreiben sie unter Zeitdruck und neben anderen Verpflichtungen aller Art. Und wir tun es zu einem guten Teil, weil Qualifikations- oder Evaluationsverfahren dies verlangen, was weiteren Druck bedeutet. Das wird oft beklagt, und manches ließe sich hier verbessern. Aber Hand aufs Herz: ist ein gewisser Druck nicht nötig, um die keineswegs angenehmen Prozesse voranzubringen, die mit dem Erarbeiten und Abfassen von Büchern einhergehen? Bücher schreiben ist nicht wie Smoothie trinken; da ist nichts vorgekaut, sondern die Ingredienzen müssen erst zusammengetragen und auf ihre wechselseitige Passung und ihre Verdaulichkeit geprüft werden, und zwar vorzugsweise durch den Autor oder die Autorin.
Und je größer der Brocken, den man sich vorgenommen hat, umso größer und komplexer die Aufgabe. Um ein größeres Thema gut verdaulich zu servieren, ist es erst auf den Nenner einer Forschungsfrage zu bringen. Dann sind einzelne Lösungsschritte zu identifizieren und in eine logische Reihenfolge zu bringen. Dann ist der relevante Stoff heranzukarren, zu überprüfen und von unnötigem Ballast zu befreien, bevor man das Ganze zusammenführt und verfeinert, indem man noch all jene Lieblinge umbringt, die in einem Artikel kokett wirken mögen, in einem Buch jedoch nur nerven … bis dann vielleicht die Leser*innen finden: „So habe ich das noch nie betrachtet!“
Die Komplexität dieser Aufgabe ist ein Grund, warum das Schreiben von Büchern eine dem Abfassen von Artikeln nicht vergleichbare Erfahrung ist. Man befasst sich nicht nur mit einzelnen Argumenten und ihrer Widerlegung, sondern mit ihrer Funktion in einem größeren Zusammenhang. Das bringt Schwierigkeiten ganz anderer Art mit sich. Doch ist es nicht gerade für Vertreter*innen einer Disziplin, die sich die Systematizität von Erkenntnissen auf ihre Fahne schreibt, eine sehr wertvolle Erfahrung, dass diese Schwierigkeiten mit etwas Ausdauer und Beharrlichkeit zu bewältigen sind?
Und selbst diese Erfahrung ein zweites Mal – im durchs erste Mal entstandenen Wissen um Krisen und Schwierigkeiten – zu machen, hat seinen Sinn, mindestens für angehende Philosophie-Professor*innen, die in ihrem späteren Job nicht nur größere Fachgebiete vertreten, sondern auch Doktorand*innen bei der Ausarbeitung ihrer Projekte begleiten sollen. Doch wenn es nicht nur um die Existenz der Bücher geht, sondern auch um unsere bei ihrem Abfassen erworbenen Fähigkeiten und persönlichen Ressourcen, dann ist es fast nicht vermeidbar, dass wir diesen Prozess angehenden Profis abverlangen, während auch die professionelle Profilierung stattfindet. Denn das macht sie zu Profis: dass sie noch eine Weile in der Lage sind, Ressourcen, die sie im Zuge dieser Phase gewonnen haben, gewinnbringend einzusetzen. Ich halte daher das Erfordernis eines zweiten Buchs für besser als derzeit gemeinhin angenommen wird. Damit möchte ich nichts zur Frage der Verknüpfung von zweitem Buch und dem Erlangen entfristeter Positionen sagen, noch gewisse real existierende Praktiken bei Habilitationsverfahren rechtfertigen.
Das Schreiben von Büchern ist eine Herausforderung, an der man wachsen oder scheitern kann. Das ist genau besehen nicht erstaunlich. Denn selbst wenn die beste aller möglichen Welten wahrscheinlich eine Bibliothek mit guten philosophischen Büchern beherbergt, wird sie uns nicht vor den Härten schützen können, die in allen zweitbesten Welten dadurch entstehen, dass Bücher nicht einfach von Gott, sondern durch Menschen in die Existenz gerufen werden müssen.
Ursula Renz ist Professorin am Institut für Philosophie der Universität Graz und Leiterin des Arbeitsbereichs für Geschichte der Philosophie. Neben zahlreichen Artikeln hat sie auch drei Monografien verfasst und hofft, noch weitere verfassen zu können. Das aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangene Buch Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes (Frankfurt: Klostermann, 2. Aufl. 2020) hat 2011 den Journal of the History of Philosophy Book Prize gewonnen; ihre Intervention Was denn bitte ist kulturelle Identität? Eine Orientierung in Zeiten des Populismus (Basel: Schwabe 2019) wurde 2019 auf die short list des Tractatus-Preises gesetzt.