Von Schönheit und Glück in der Natur

Von Stephanie Schuster (Basel)


«Those who contemplate the beauty of the earth, find reserves of strength that will endure as long as life lasts.» Diese Worte schreibt Rachel Carson, Pionierin der Umweltbewegung des 20. Jahrhunderts, im 1965 erschienenen Essay The Sense of Wonder. Die Aussage lässt sich einreihen in ein mannigfaltiges Mosaik an Zeugnissen menschlichen Erlebens, die eines gemein haben: In der Natur kann der Mensch Schönheit finden und damit Glück. Worin liegt dieses Glück? Welchen Stellenwert sollte es im Naturschutz und Nachhaltigkeitsdenken haben? Und lässt es sich heutzutage überhaupt noch finden?

Das Reflektieren über Glück in der Natur legt nahe, dass Natur einen Wert hat. Das klingt offensichtlich – zumindest in den Ohren vieler. Die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher und politischer Debatten suggeriert jedoch, dass Natur nicht nur einen, sondern verschiedene Werte hat. Eine systematische naturethische Betrachtung zeigt an, dass es sinnvoll ist, grob drei Naturwerte zu unterscheiden (vgl. Krebs 1999):

Erstens hat Natur einen instrumentellen Wert als Ressource für uns Menschen, zum Beispiel in Form von sauberer Luft und Trinkwasser. Allerdings kann Technik diese Naturleistungen zumindest teilweise ersetzen. Zweitens lässt sich überzeugend dafür argumentieren, dass die Natur bzw. empfindungsfähige Lebewesen in der Natur einen moralischen Eigenwert haben. Entsprechend sollten wir in unserem Umgang mit der Natur auch die Bedürfnisse von Tieren berücksichtigen. Drittens hat Natur einen sogenannten eudaimonistischen Wert. «Eudaimonia» kommt aus dem Griechischen und kann übersetzt werden als Glück im Sinne von erfülltes, gutes Leben. Der eudaimonistische Wert der Natur bezieht sich also auf ihre Bedeutung für das erfüllte, gute menschliche Leben. Dabei geht es nicht um den menschlichen Verbrauch von Natur als Ressource, sondern um bedeutungsvolle Begegnung mit Natur. In diesem Wertaspekt ist Natur nicht durch Technik bzw. Artefakte zu ersetzen, denn die bedeutungsvolle Begegnung lebt gerade davon, dass Menschen etwas nicht von ihnen Gemachtes, etwas sich – zumindest weitgehend – selbst Entwickelndes erleben. Im Folgenden  soll es um Glückserfahrungen in der Natur gehen, das heisst auf Aspekte ihres eudaimonistischen Werts fokussiert werden.

Die Naturethik differenziert verschiedene Glücksaspekte, wobei zwei besonders prominent sind: zum einen die Natur, zum Beispiel eine bestimmte Landschaft, als Heimat, die aufgrund von Erinnerungen zu uns spricht und sozusagen biographisch mit uns resoniert; zum anderen die Natur in ihrer Schönheit (vgl. Krebs et al 2021).

Bei eingehender Betrachtung diverser Ausdrücke natürlicher Wertschätzung – von chinesischer Landschaftsmalerei bis zu romantischer Lyrik, von akademischen Texten und Reiseberichten bis hin zu modernen Popsongs, von indigenen Philosophien bis zu kulturellen Traditionen wie das japanische Kirschblütenfest Hanami – fällt auf, dass Glück in der Natur insbesondere mit der Schönheit verknüpft ist, die in ihr gefunden wird. Weiterhin fällt auf, dass bestimmte, besonders tiefgreifende Glücksaspekte zeit- und kulturübergreifend auftauchen:

Natur kann zum Beispiel als befreiendes und inspirierendes Refugium, als Zufluchtsort vor der menschlichen Welt und ihren Regeln, Grenzen und Dynamiken erfahren werden. Einen Zufluchtsort kennzeichnet jedoch typischerweise nicht nur die Abwesenheit von Übeln, sondern die Begegnung von etwas Bestärkendem, die Seele Nährendem, Schönem. Natur lädt aufgrund bestimmter Eigenschaften und vorgefundener Ausdrücke offenbar unter anderem ein zu Entschleunigung, Hinwendung zu sich selbst, und zu Geduld, den Dingen ihren eigenen Lauf zu lassen. Zu Tugenden also, die allzu oft vermisst werden in der geschäftigen menschlichen Gesellschaft (vgl. Cooper 2013 und 2024). Man denke an Rainer Maria Rilkes Zeilen über die Geduld, in denen ein Baum als Sinnbild fungiert:

Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann; alles ist austragen – und dann gebären… Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! (Rilke, 1903)

Trotz ihrer Verschiedenheit von der menschlichen Welt wird Natur aber auch als beheimatend erlebt. Insbesondere Landschaften machen die Vernetzung aller Dinge und Wesen greifbar und können bei Betrachtenden das Gefühl evozieren, auf der Erde daheim zu sein, zur Natur, etwas Lebendigem und Grösserem mit dazuzugehören – ohne dass in dieser Erfahrung die zerstörerischen Kräfte der Natur verkannt werden müssten (vgl. Hepburn 1966 und 1996; Berleant 1992; Krebs 2018 und Krebs et al 2021; Schuster 2023). Wissen über Ökologie, Evolution oder Erdgeschichte können dieses Gefühl verstärken, aber kein Schulbuch der Welt kann Landschaftserfahrung ersetzen. Manchmal, insbesondere an erhabenen und zuweilen rauen Orten wie im Gebirge, wird dieses Glücksgefühl von Ehrfurcht begleitet und von inspirierenden Reflexionen über den menschlichen Platz in unserer geteilten Welt (vgl. Brady 2013).

Aber nicht nur die Zugehörigkeit zur äusseren Natur kann Inhalt einer Glückserfahrung in der Natur sein. Auch Einsichten bezüglich der menschlichen Naturhaftigkeit, dem sich selbst Entwickelnden an uns kann Natur evozieren. So kann sie unter anderem eindringlich und unsentimental das Zusammenspiel von Wachsen und Vergehen und damit die Notwendigkeit von Vergänglichkeit präsentieren. In der Naturbetrachtung, begleitet vom Gefühl der Einbettung in etwas lebendiges Grösseres finden viele Menschen daher Trost und zu mehr Gelassenheit angesichts der Endlichkeit des Lebens (vgl. Saito 1985).

Und noch ein weiterer Aspekt von Glück wird immer wieder greifbar in diversen Zeugnissen menschlichen Erlebens von Natur, ein Aspekt, der auch in Carsons eingangs zitiertem Wonder-Essay zentral ist. Er betrifft das Staunen über das Wunder der Existenz, das durch die Mannigfaltigkeit der Natur evoziert werden kann – ob beim Anblick einer grossartigen Landschaft, eines schillernden kleinen Insekts, oder sogar einer einzelnen Farbe, wie Maggie Nelson in ihren Bluets, einer Meditation auf die Farbe Blau, schreibt:

Suppose I would begin by saying that I have fallen in love with a color. […] The half-circle of blinding turquoise ocean is this love’s primal scene. That this blue exists makes my life a remarkable one, just to have seen it. To have seen such beautiful things. To find oneself placed in their midst. (Nelson 2009, 1-3)

Wie in Nelsons Versen exemplifiziert, wird dieses Staunen als freudiges, existenzielles Staunen erlebt, das nicht bloss auf die Natur gerichtet ist, sondern die Betrachterin als Teil davon einschliesst. Auch die eigene Existenz wird in diesen Momenten als Wunder erlebt, unabhängig von Projekten, Plänen, oder Ansichten über den Sinn oder die Sinnlosigkeit des Lebens. Dieses freudige, existenzielle Staunen weckt Lebensfreude und kann die Haltung evozieren, das Leben als Geschenk zu betrachten (vgl. Hepburn 1993; Rolston 1998; Cooper 2017; Krebs et al 2021).

Glück, das im Betrachten der Schönheit der Natur gefunden wird, kann inhaltlich also unsere Beziehung zur äusseren Natur betreffen, unsere eigene Naturhaftigkeit, aber auch unsere Haltung zum Leben als Ganzes. Ausserdem kann Natur einen heilenden Zufluchtsort darstellen. Sie kann freilich auf weitere Arten bedeutsam sein, beispielsweise finden viele Menschen einen nährenden Ausdruck eigener Gefühle und Stimmungen in ihren diversen Erscheinungen (vgl. Hepburn 1993).

Welchen Stellenwert, nun, sollten diese und weitere Glückserfahrungen im Naturschutz und Nachhaltigkeitsdenken haben? Einen Grösseren als es bisher der Fall ist; sie sollten die primär ressourcenorientierten Debatten ergänzen. Denn eine Welt, in der solche Glückserfahrungen mangels der Begegnung mit Natürlichem nicht mehr gemacht werden könnten – selbst wenn für saubere Luft, Wasser und Obdach gesorgt wäre und die Menschheit ihr schlechtes Gewissen über das Verdrängen anderer Lebewesen überwunden hätte – wäre eine verarmte Welt. Das menschliche Verhältnis zu sich selbst, zur eigenen Naturhaftigkeit, den Ursprüngen des Lebens und seines Wunders würde sich vermutlich ändern. Anders gesagt: Betrachtet man Naturschutz und Nachhaltigkeit ganzheitlich, muss der eudaimonistische Naturwert vermehrt diskutiert und berücksichtigt werden.

Aber lässt sich heutzutage überhaupt noch Glück in der Natur finden, kann man die beschriebenen Erfahrungen noch machen? Als Carson in der 1960er Jahren über das Wunder der Natur schrieb und ihre inspirierende, festigende Schönheit betonte, gab es freilich bereits massive Umweltprobleme. Allerdings hat sich das Ausmass trotz wachsenden ökologischen Wissens erheblich gesteigert. Unzählige Arten sind seitdem ausgestorben, bebaute Flächen und Emissionen haben deutlich zugenommen, der Klimawandel wird immer spürbarer. Es gibt also weniger Möglichkeiten, Natur zu begegnen und zudem wächst die Unsicherheit darüber, was überhaupt noch natürlich ist. Man könnte auch fragen, ob es Natur im Zeitalter des Anthropozäns überhaupt noch gibt. Obwohl es Vorschläge gibt, den Naturbegriff angesichts des massiven menschlichen Einflusses zu verwerfen (vgl. Vogel), gibt es, basierend auf lebensweltlichen Erfahrungen, gute Gründe dafür, ihn zu behalten.

Mit Natur bezeichnen wir das, was in der Regel nicht vom Menschen gemacht ist und sich selbst entwickelt. Der Gegenbegriff zur Natur ist das Artefakt, welches mit Absicht vom Menschen, Stück für Stück, konstruiert ist. Dabei bilden die Begriffe Natur und Artefakt Pole eines Spektrums, auf welchem sich sämtliche Dinge und Wesen verorten lassen (vgl. Krebs 2018). Entsprechend erleben wir manche Entitäten als natürlicher und andere als künstlicher. Ein Krankenhaus erlebt man als künstliche Umgebung, während man im Gebirge von so viel nicht-Gemachtem, sich selbst-Entwickelndem umgeben ist, dass man sich inmitten von Natur fühlt. Doch auch in einem Garten, der zwar angelegt, aber auch selbst-entwickelnd ist, lässt sich Natur erleben und ebenso beim Anblick einer Pflanze in einer Betonritze oder einem singenden Vogel auf einem Verkehrsschild. Dies ist auch dann der Fall, wenn wir uns nicht ganz sicher sein können, ob der anthropogen bedingte Klimawandel den Singvogel bereits früher in unsere Gefilde ziehen lassen hat, oder Teil der Gebirgserfahrung der Anblick eines schmelzenden Gletschers ist. Im Gebirge befindet man sich nach wie vor in einer natürlicheren Umgebung als in einer Betonwüste. Dass die begriffliche Unterscheidung zwischen Natur und Artefakt noch immer lebensweltlich relevant ist, zeigt auch folgendes Beispiel: Eine Pflanze, die aus der Entfernung natürlich scheint, sich aber aus der Nähe als Plastikpflanze herausstellt, löst nach wie vor einen Moment der Irritation aus. Der Erfahrungs- und Deutungsunterschied, der sich im Erleben zeigt, besteht weiterhin.

Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass Gefühle der Unsicherheit und Solastalgie – eine Form der Trauer, die Menschen empfinden, wenn sich ihre vertraute Heimatlandschaft durch Umweltveränderungen wie den Klimawandel oder Bergbau verändert oder zerstört wird (vgl. Albrecht 2005) – zunehmen. Aber Menschen erleben nach wie vor existenzielles Staunen angesichts der Mannigfaltigkeit der Lebensformen und -welten. Und auch wenn ein schmelzender Gletscher negative Gefühle auslösen kann, erzählt uns das Gebirge nach wie vor vom Wunder der Erdgeschichte, von der wir Teil sind. Vielleicht ist es angemessen zu sagen, dass Glückserfahrungen in der Natur heute nach wie vor gemacht werden können, dass diese jedoch vermehrt einen irritierenden, bitteren, oder aufrüttelnden Beigeschmack aufweisen. Diesen sollten wir genauso wie das Glück stärker thematisieren – im Naturschutz und Nachhaltigkeitsdenken, aber auch in der ästhetischen Bildung. Letztendlich verweist der negative Beigeschmack einmal mehr auf die fundamentale Bedeutung von Naturerfahrung für das gute Leben.


Stephanie Schuster ist Doktorandin am Philosophischen Seminar der Universität Basel und interessiert sich für die Bedeutung der Schönheit der Natur für das gute Leben. https://philosophie.philhist.unibas.ch/de/personen/stephanie-schuster/


Literaturverzeichnis

Albrecht, Glenn A. (2005), Solastalgia: A New Concept in Human Health and Identity’, Philosophy, Activism, Nature (3), 41‑55.

Berleant, Arnold (1992), The Aesthetics of Environment, Philadelphia: Temple University Press.

Brady, Emily (2013), The Sublime in Modern Philosophy: Aesthetics, Ethics, and Nature, Cambridge: Cambridge University Press.

Carson, Rachel (1998), The Sense of Wonder: A Celebration of Nature for Parents and Children, HarperCollins.

Cooper, David E. (2013), Sunlight on the Sea: Reflections on Reflections, David E. Cooper.

Cooper, David E. (2017), Senses of Mystery. Engaging with Nature and the Meanings of Life, London: Routledge.

Cooper, David E. (2024), Pessimism, Quietism and Nature as Refuge, Newcastle: Agenda Publishing.

Hepburn, Ronald W. (1966), ‘Contemporary Aesthetics and the Neglect of Natural Beauty’ [in] B. Williams and A. Montefiore (eds.), British Analytical Philosophy, London: Routledge and Kegan Paul, 285-310.

Hepburn, Ronald W. (1993), ‘Trivial and Serious in Aesthetic Appreciation of Nature’ [in] S. Kemal and I. Gaskell (eds.), Landscape, Natural Beauty, and the Arts, Cambridge: Cambridge University Press, 65-80.

Hepburn, Ronald W. (1996), ‘Landscape and the Metaphysical Imagination’, Environmental Values 5 (3), 191-204.

Krebs, Angelika (1999), Ethics of Nature. A Map, Berlin and New York: De Gruyter.

Krebs, Angelika, (2018), ‘As if the Earth Has Long Stopped Speaking to Us: Resonance with Nature and Its Loss’ [in] A. Ben-Ze’ev and A. Krebs (eds.), Philosophy of Emotion III, London: Routledge, 231-266.

Krebs, Angelika, in Zusammenarbeit mit Stephanie Schuster, Alexander Fischer und Jan Müller (2021), Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders, Basel: Schwabe.

Nelson, Maggie (2009), Bluets, Wave Books.

Rilke, Rainer Maria (1903), Briefe – An Franz Xaver Kappus in Viareggio im April 1903: https://www.rilke.de/briefe/230403.htm.

Rolston, Holmes (1998), ‘Aesthetic Experience in Forests’, The Journal of Aesthetics and Art Criticism 56 (2), 157–166.

Saito, Yuriko (1985), ‘The Japanese Appreciation of Nature’, British Journal of Aesthetics 25 (3), 239-251.

Schuster, Stephanie (2023), ‘Aesthetic Deep Time Experiences of Temporal Sublime Nature’, The Polish Journal of Aesthetics 69-70 (2-3), 1-15.

Vogel, Steven (2015), Thinking Like a Mall: Environmental Philosophy After the End of Nature, Cambridge, MA: MIT Press.