Corona vs. Rationalität – zum Umgang mit Unvernünftigen
Von Timo Greger (München)
„Charakter zeigt sich in der Krise“ – dieses von Altkanzler Helmut Schmidt stammende Zitat reift in Zeiten der Corona-Krise zum Bonmot. Treffend fasst es zusammen, was man deutschlandweit in den vergangenen Wochen reichlich beobachten konnte: Corona-Partys trotz Versammlungsverbot, Massenansammlungen in den Biergärten, Flussufern und Parks dieses Landes, geflutete Baumärkte, die in Zeiten des social distancing zu wahren Freizeitparks mutieren, unsolidarische und irrationale Hamsterkäufe von Nudeln und Toilettenpapier oder Jugendliche, die wohl scherzhaft gemeint mit „Corona“-Rufen ältere Menschen anhusten. Würde man nicht gleichzeitig so viele zahlreiche von Solidarität und Empathie getragenen Handlungen wahrnehmen, wie bspw., dass gerade jüngere Menschen für ihre älteren Nachbarn die Einkäufe übernehmen, den Hund ausführen oder tatkräftig ihre Unterstützung im Gesundheits- und Sicherheitsbereich anbieten, so müsste man wohl mit Helmut Schmidt weiterdenken: Deutschland, ein Volk von Charakterlosen.
Auch wenn sich die Einsicht der Uneinsichtigen durch die weiteren Verschärfungen der vergangenen Tage doch merklich erhöht hat und die Maßnahmen mittlerweile zu einem großen Teil eingehalten werden, so bleibt dennoch die Frage offen: Warum verhalten sich denn so viele unserer Mitmenschen, ja sogar unsere Nachbarn, unsere Freunde oder unsere engsten Familienangehörigen so unvernünftig, so egoistisch und uneinsichtig – und gefährden damit nicht nur ihr Leben, sondern die Wirksamkeit der Maßnahmen und damit das Leben anderer? Sind wir offenkundig in Krisenzeiten nicht fähig unserem eigenen moralischen Ideal eines solidarischen, verantwortungsbewussten, kooperativen und vor allem vernünftigen Bürgers gerecht zu werden? Taugt unser Selbstverständnis nur für Schönwetter-Zeiten? Oder bedarf es erst den starken Staat mit harten Maßnahmen, damit wir das ohnehin Vernünftige einsehen? Ein Erklärungsversuch.
Die Corona-Krise setzt unser Selbstverständnis unter Druck
Zunächst einmal: Deutschland und Europa sind nicht China. Staatsautoritäre Maßnahmen, die zwar effizient sein mögen, aber auf die Einsicht und Kooperationsbereitschaft der Bürger (teilweise) verzichten können, verbieten sich. Die normativen Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung, unserer Art wie wir zusammenleben, wie wir uns regieren, aber auch, wie jeder Einzelne seinen Mitmenschen begegnet oder was wir uns gegenseitig zumuten, was wir ablehnen, entspringen – anders als in China – einem liberal-aufgeklärten Menschenbild, dessen zentrale ethische Kategorie der normative Individualismus ist. Dieser besagt, verkürzt dargestellt, dass ein jeder Einzelne mit unveräußerlichen Qualitäten ausgestattet ist, aufgrund deren er Grundrechte und -freiheiten besitzt, die nicht für einen höheren Zweck geopfert werden dürfen. Wir begegnen allen Mitmenschen mit dem Selbst- und Fremdverständnis des freien, gleichen und vernünftigen bzw. rationalen Menschen. Diese drei Qualitäten – Freiheit, Gleichheit und Rationalität – sind es, die die unveräußerlichen Grundrechte sowie -freiheiten begründen und auf denen unser Selbstverständnis beruht – auch, oder gerade in Zeiten der Krise. Wären wir bereit, auch nur von einer dieser drei Qualitäten abzurücken, so ergäbe sich zwangsläufig Unfreiheit für einen gewissen Teil unserer Mitmenschen, entweder für die „Unfreien“, die „Ungleichen“ oder eben die „Irrationalen“.
Doch ist es nicht gerade diese dritte Qualität unseres freiheitlichen Selbstverständnisses, die Rationalität, die in Zeiten der Corona-Krise unter Druck gerät? Können wir bei den bewusst egoistischen und unsolidarischen, oftmals uneinsichtigen oder schlicht dummen Aussagen und Verhaltensweisen eines Teils unserer Mitmenschen noch jedem die Vernunftfähigkeit zuschreiben? Oder rechtfertigt dieses unvernünftige Verhalten nicht gerade weitreichende, harte und einschneidende Maßnahmen des Staates – zum Schutze Dritter und der Unvernünftigen selbst? Anders gefragt: Ist uns ein Teil der vernünftigen Bürger als Kooperationspartner abhandengekommen? Und wenn ja, was tun?
Rationalität und Corona-Pandemie: Ein unordentliches Paar.
Um die Frage beantworten zu können, ob uns ein Teil der vernünftigen Bürger abhandengekommen ist und ob dieser Umstand einschneidende, harte und autoritäre Maßnahmen rechtfertige, so wie sie durchaus von Virologen, Epidemiologen und anderen Experten gefordert werden, müssen wir zwei Besonderheiten der Corona-Krisenbewältigung in den Blick nehmen, die die menschliche Rationalität in ungewohnter Weise herausfordern: Erstens die diachrone Struktur der Pandemie-Bekämpfung und, zweitens, die Externalisierung des Schadens an Dritte und damit die teilweise Vernachlässigung des Prinzips der Eigenverantwortung.
Zunächst zur diachronen Struktur: Vergleicht man das Krisenmanagement einer Pandemie, und der Corona-Pandemie im Speziellen, mit gewöhnlichen (Natur-)Katastrophen, so unterscheidet sich diese von jenen grundlegend durch ihre diachrone Struktur, welche die menschliche Rationalität vor die Herausforderung stellt, die zu treffenden Maßnahmen mit zwei Zeitpunkten der Krise gleichzeitig in Bezug zu setzen, dem Zeitpunkt an dem sie getroffen werden und dem Zeitpunkt an dem sie wirken sollen. Maßnahme und Schaden fallen zeitlich auseinander. Diese diachrone Struktur bewirkt auf den ersten Blick bei vielen eine Fehlperzeption – die Maßnahmen erscheinen als überzogen und zu einschneidend oder die Gefahr als nicht ernst zu nehmend. Vergleicht man diesen Umstand der diachronen Struktur mit anderen, gängigen Krisen, wie Flut-, Sturm- oder Schneekatastrophen, so fallen diese beiden Zeitpunkte, der der zu treffenden Maßnahmen (T1) und der der auftretenden Schäden (T2), in der Regel zusammen bzw. liegen sehr nahe beieinander. Im Rahmen einer Gefahrenabwehr, bspw. bei einer Flutkatastrophe, stellen sich in einem solchen Fall zunächst der Schaden oder zumindest eine akut drohende Schadenslage ein, zu deren Bewältigung von Politik und Katastrophenschutz jeweils verhältnismäßige Maßnahmen getroffen werden. In diesem Fall erscheinen die Maßnahmen für die eingetretenen oder akut drohenden Schadenslagen relativ schnell nachvollziehbar als angemessen. Werden etwa im Zuge der Bewältigung von Flutkatastrophen einschneidende Grundrechtsbeschränkungen mit, für die betroffenen Bürger und die Allgemeinheit, dramatischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kosten beschlossen, so erscheinen diese viel nachvollziehbarer und gerechtfertigter, wenn einem, nicht nur sprichwörtlich, das Wasser bis zum Hals steht.
Im Falle der Corona-Pandemie ist dies allerdings grundlegend anders, denn hier klaffen Zeitpunkt der Maßnahme (T1) und Zeitpunkt des Schadens (T2) teilweise drastisch um mehrere Wochen auseinander – und dies ist auch bewusst so gewollt. Man versucht sich den Umstand zunutze zu machen, dass bei einer sich exponentiell ausbreitenden Infektion zu einem Zeitpunkt T1 mit vergleichsweise sehr geringen Kosten ein extrem großer Schaden für einen später eintretenden Zeitpunkt T2 vermieden werden kann. Dies bedeutet, dass die Maßnahmen, die zu einem Zeitpunkt T1 getroffen werden, einen schlimmen Schaden verhindern sollen, der aber erst zum Zeitpunkt T2, teilweise Wochen später, eintreten würde. Dies führt zu dem Umstand, dass die ökonomischen, sozialen wie kulturellen Kosten dieser Maßnahme zum Zeitpunkt T1 als exorbitant hoch erscheinen, während sie in Relation zum erwarteten Schaden des Zeitpunkts T2, den sie verhindern sollen, aber äußerst gering wirken. Die subjektive Wahrnehmung der Kosten für diese Schadensabwehr kann aber durch diese diachrone Struktur getrübt sein, was zu den jüngst bemerkbaren Verhaltensweisen führen kann: Man nimmt die Warnungen nicht ernst, man erachtet sie für überzogen, hält sie für „Panikmache“ oder es wird eine, in normalen Zeiten höchst gesunde und notwendige, kritische Sensibilität gegenüber einem übermächtigen, dort potentiell ungerechtfertigten, freiheitseinschränkenden Staat geweckt. Da zum Zeitpunkt T1 die Katastrophe noch nicht im Bewusstsein bzw. im Lebensalltag der Menschen angekommen ist, betrachtet man die gewaltigen ökonomischen, aber vor allem sozialen und kulturellen Einschränkungen als überzogen und übertrieben – und man widersetzt sich.
Vergleicht man vor diesem Hintergrund die teilweise drastischen und den Lebensalltag der Menschen dramatisch einschränkenden Maßnahmen die die bayerische Staatsregierung, in bundesweit avantgardistischer Manier, in der Woche ab dem 9.3. getroffen hat, mit den gemeldeten Infektionszahlen, so wird diese „Trübung der Rationalität“ nachvollziehbar. Bei am 9.3. bayernweit rund 250 gemeldeten Infektionen dürfte in weiten Teilen des Freistaats die Corona-Pandemie und insbesondere die dramatische Ansteckungsrate noch nicht im persönlichen Umfeld angekommen sein. Vor diesem Hintergrund wirken die in der Woche ab dem 9.3. von der bayerischen Staatsregierung getroffenen Maßnahmen, wie das Verbot von (Groß-)Veranstaltungen, Kindergarten- und Schulschließungen, das Gebot zur Reduzierung des sozialen Kontakts etc., als massiv überzogen. Blickt man auf die rund 25.000 diagnostizierten Infektionen am 06.04., also rund einen Monat später, so stellt sich das Bild durchaus anders dar und die Maßnahmen wirken deutlich weniger überzogen und viel eher gerechtfertigt. Doch um diese Zusammenhänge vernünftig zu durchdringen – und die „Trübung“ zu lösen, erfordert es Aufklärung, tiefgehende Beschäftigung und Information, etwas was in der Breite der Bevölkerung nicht in der gleichen Geschwindigkeit und Intensität erwartet werden kann, wie in Politik, Wissenschaft oder in interessierten Kreisen.
Die Irrationalität der „Unvernünftigen“ ist also vielmehr eine „Trübung der Rationalität“ und lässt sich durch sachliche Information, klare und beherzte Kommunikation sowie eine der Krise angemessene stufenweise Eskalation der staatlichen Maßnahmen auflösen – für eine gelingende Krisenbewältigung ohnehin unverzichtbare Elemente.
Individuelle Entscheidung führt zu kollektivem Risiko
Neben dieser diachronen Struktur des Krisenmanagements wird die menschliche Rationalität aber noch durch eine zweite Besonderheit der Corona-Pandemie herausgefordert, nämlich, dass individuelle Entscheidungen bzw. das Prinzip der Eigenverantwortung zu zwar vernachlässigbaren bzw. vertretbaren individuellen Risiken, aber zu exorbitant hohen kollektiven Risiken führen können. Ökonomisch gesprochen stellen sich massive negative externe Effekte ein, d. h. durch die individuelle Entscheidung sich dem Risiko einer Ansteckung auszusetzen oder auch nur die Verbreitung weiter zu fördern, haben die Betroffenen einen hohen Nutzen – sie haben weiterhin ein erfülltes soziales und kulturelles Leben – aber so gut wie keine Kosten. Diese Kosten tragen andere (Risikogruppen) bzw. die Gesellschaft als Ganze. Das bedeutet, durch die individuelle Entscheidung die staatlichen Maßnahmen nicht zu ernst zu nehmen bzw. das alles für überzogen zu erachten, haben diejenigen, die das tun, so gut wie keine Risiken, denn diese – oft Jungen und Gesunden – dürften die Corona-Grippe asymptomatisch oder mit milden Symptomen überstehen. Diejenigen hingegen, die zu einer solchen Risikogruppe zählen, tragen die Kosten, in Form, dass sie Gefahr laufen, bei einer Überlastung des Gesundheitssystems an Covid-19 zu sterben. Auf den Punkt gebracht bedeutet das, dass das Prinzip der Eigenverantwortung und persönlichen Risikobeurteilung zu individuell vertretbaren Folgen führt, gesamtgesellschaftlich aber die Ausbreitung der Pandemie massiv fördert, das Gesundheitssystem zu überlasten droht und massive negative Kosten, in Form von Tod, für die Risikogruppen bedeutet.
Durch die Verlagerung der Kosten an die Risikogruppen wird das für liberale Gesellschaften fundamentale Prinzip der Eigenverantwortung ein Stück weit zum Problem, sodass das ebenso wichtige Prinzip der Solidarität unsere kollektive Handlungspraxis deutlich mehr leiten muss. Wir alle verzichten auf individuelle Freiheiten, um die Risiken für einen kleinen, aber nicht unerheblichen, Teil unserer Gesellschaft so niedrig wie möglich zu halten und massenhaft Tote zu verhindern. Dies bedeutet nicht, dass wir Solidarität erst noch neu lernen müssen oder gar, dass wir eine Gesellschaft von Egoisten sind. Die Entwicklung der letzten Tage beweist das Gegenteil. Vielmehr ist es so, dass sich individuelle Entscheidungsfreiheit und kollektives Risiko nur sehr selten so zentral gegenüberstehen wie in dieser Pandemie. Vielmehr sind sie im Normalfall sehr gut miteinander vereinbar – ein jeder übernimmt für sich selbst Verantwortung und darüber hinaus noch für seine Mitmenschen. Doch diese gewohnte und feste Struktur der Solidarität greift bei der Corona-Pandemie nicht. Hier sind wir alle individuell gefordert massiv auf Freiheiten zu verzichten, sehr hohe ökonomische, kulturelle und soziale Kosten zu tragen, um uns überhaupt mit den besonders Gefährdeten solidarisch zeigen zu können.
Es liegt nun an uns, diese beiden Herausforderungen an die Rationalität nicht als „Versagen der Unvernünftigen“ zu begreifen, sondern die Einsicht in diese Phänomene als eine neue und starke Quelle der Solidarität fruchtbar zu machen. Dies ist Bewährungsprobe und Chance unseres demokratischen Systems zugleich, denn nun gilt es zu beweisen, dass es keinen übermächtigen, totalitären Staat, welcher klüger und solidarischer ist als all seine Unterworfenen, braucht um diese Krise zu meistern. Vielmehr können wir alle nun zeigen, dass die individuelle Vernunft auch mit einer kollektiven Solidarität, gerade in Krisenzeiten, vereinbar ist. Dies bedeutet auch die zahlreichen aufgetretenen und noch auftretenden Konflikte innerhalb der Nachbarschaft, des Bekannten- und Freundeskreises sowie innerhalb der Familie empathisch zu lösen bzw. sich nicht gegenseitig die Vernunft abzusprechen. Wir werden in den kommenden Monaten noch auf die Solidarität vieler vernunftfähiger Mitmenschen angewiesen sein.
Timo Greger ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie und politische Theorie an der philosophischen Fakultät der LMU München. Zuvor studierte er Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft mit VWL und Verwaltungswissenschaften in München. Er forscht und lehrt derzeit in den Bereichen politische Philosophie, Ethik, Bildungsphilosophie und Rechtsphilosophie.