Die Fakten allein werden es nicht richten. Über politisch motivierte Ablenkungsmanöver und was aus ihnen folgt.

von Johann Maria Himmelstoß (Bürger, München)


In den Diskussionen über das Postfaktische wird oft ignoriert, dass die Lösung vieler Probleme bzw. Fragen von den Fakten unterbestimmt bleiben. Die Fakten allein werden es in solchen Situation nicht richten, d.h. die zur Diskussion stehende Frage nicht lösen können.

Diese Unterbestimmtheit kann durch Ablenkungsmanöver, durch rhetorische Nebelkerzen, von denen ausgenutzt werden, die nur so tun, als wären sie an einer offenen Debatte interessiert. Darum geht es in diesem Beitrag.

Als Beispiel dient eine Diskussion über Rechtsextremismus. Es wird gezeigt, dass durch ein Ablenkungsmanöver zeitgleich vom zur Debatte stehenden Problem wie auch von den relevanten Wertentscheidungen im Hintergrund abgelenkt wird. Der Beitrag schließt mit Überlegungen darüber, wie man solchen Ablenkungsmanövern begegnen kann und warum es sich trotzdem lohnen kann z.B. „mit Rechten zu reden.“

Wann sind Ablenkungsmanöver zu erwarten?

Immer wieder hört man von fremdenfeindlichen Personen oder Gruppierungen auf die Frage, wie groß das Problem rechtsextremer Gewalt derzeit sei und was man gegen rechtsextreme Gewalt tun kann bzw. soll, eine Antwort, die ein schlichtes, aber im Eifer des Gefechts dennoch häufig erfolgreiches Ablenkungsmanöver darstellt.

Die Antwort ist in so einem Fall keine Antwort auf die eigentlich gestellte Frage bzw. das tatsächlich aufgeworfene Problem, sondern der Verweis auf ein anderes Problem: „Es gibt auch linksextreme Gewalt.“ Stimmt, das war aber nicht die Frage.

Solche Ablenkungsmanöver gehören zum Standardrepertoire politischer Rhetorik. Sie werden immer dann eingesetzt, wenn die Fakten eigentlich nicht mehr zu leugnen sind, z.B. wenn es nicht mehr zu leugnen ist, dass es derzeit (leider wieder) ein zunehmendes Problem mit rechtsextremen Gedanken und die darauf aufbauenden (Gewalt-)Taten gibt.

Als konkretes Beispiel möchte ich hier auf eine Live-Diskussion im Deutschlandfunk am 3. September 2018 verweisen. Das Thema des Gesprächs war: „Chemnitz und die Konsequenzen – Wie groß ist die Gefahr des Rechtsextremismus?“.

Anlass der Diskussion: „Ein 35-Jähriger wird getötet, es kommt zu Ausschreitungen von Rechtsextremen”, wie Samuel Misteli, in der Neuen Züricher Zeitung (vom 30. August) seine chronologische Übersicht der Ereignisse in Chemnitz seit dem 25. August zusammenfasst. Was im Einzelnen passiert ist, d.h. welche Ausschreitungen es genau gab, wird noch geprüft.

Carsten Hütter, Mitglied der Partei Alternative für Deutschland (AfD), nahm an der Radiodiskussion im Deutschlandfunk teil und verwies mehrfach darauf, dass auch Linksextremismus ein Problem sei – schlicht um vom Thema abzulenken. Dieses Ablenkungsmanöver möchte ich im Folgenden zusammenfassen.

Und drei Mal krähte der Hahn

  1. Akt: Zuerst hat Hütter das Problemfeld Rechtsextremismus zwar nicht geleugnet, aber dennoch als geringfügig eingestuft. Das Thema Rechtsextremismus bzw. rechte Gewalt sei „medial hochgeputscht“; Rechtsextreme seien nicht repräsentativ für die Mehrheit der Bevölkerung (wie auch Marian Wendt anmerkte, Mitglied der CDU und ebenfalls an der Diskussion teilnehmend); das Problem seien nur „eine Handvoll Chaoten“ gewesen, wie Hütter einwarf; es gebe ein „Ausschlachten einzelner Szenen“ durch die Presse, etc.; nur eines gibt es für Carsten Hütter anscheinend nicht: ein Problem mit Rechtsextremismus. Bei der nächsten Redegelegenheit – und nach dem Vorwurf von Irene Mihalic, Vertreterin der Grünen, dass dies eine „grandiose Verharmlosung“ sei – fügte Hütter hinzu, dass da ja auch „zweihundertfünfzig linksradikale Störer“ vor Ort gewesen seien, durch die ca. 8000 Teilnehmer des sog. Trauermarsches gehindert worden seien weiterzumarschieren, um festzustellen: „Die Frage, die sich mir stellt ist: Wie blind ist der Staat in Sachsen auf dem linken Auge? Und wieso heißt das Thema heute eigentlich nicht: Wie groß ist die Gefahr des Linksextremismus in Sachsen? Wir sollten vielleicht mal beide Seiten beleuchten und dann mal schauen wie es denn zu solchen Szenen und solchen Vorkommnissen eigentlich hier in Sachsen kommt.“
  2. Akt: Als dann kurz darauf die Moderatorin Christiane Kaess auf dieses Ablenkungsmanöver zurück kam und fragte: „Herr Hütter, warum verdrehen Sie das jetzt und sprechen von linksextremen Demonstranten?“ wird das Ablenkungsmanöver schlicht wiederholt (nach dem geklärt wurde, um welche Demonstration es jetzt denn eigentlich ginge). „Wir haben hier in Sachsen, ob das Connewitz ist, Dresden-Neustadt, oder auch Chemnitz, ein massives Linksextremismus-Problem, was einfach ausgeblendet wird. Man muss hier alle Seiten beleuchten.“
  3. Akt: Im weiteren Verlauf wurde auf entsprechende (über die konkreten Ereignisse in Chemnitz hinausgehende) Fakten verwiesen, d.h. auf statistische Evidenzen hinsichtlich politisch motivierter Gewalt, z.B. dass „in Sachsen im Jahr 2017 bei den politisch motivierten Straftaten über 2000 im Phänomenbereich Rechts“ zu verzeichnen seien, dem lediglich „667 im Phänomenbereich Links“ gegenüber stünden, wie Irene Mihalic ausführte. Aber das Anführen dieser Fakten führte nur zu dem Einsatz noch stärkerer Nebelkerzen: Cannabis, die Sachbeschädigungen um den G20-Gipfel, wie auch die RAF wurden bemüht, um vom Thema abzulenken.

Wiederholt war für Herrn Hütter die Antwort auf das Thema des Gesprächs: „Ich sehe da ganz andere Probleme in Chemnitz.“

Zu diesen anderen Problemen gehörten in der Diskussion natürlich auch die Kriminalität unter Flüchtlingen, Probleme in Bezug auf die Lebensläufe in Sachsen nach der Wende, bis hin zum Fehlen von Bargeldautomaten auf dem sächsischen Land, wie Marian Wendt bereitwillig beipflichtete. Diese Probleme wurden meist als Erklärung bzw. Rechtfertigung für rechte Tendenzen verwendet; Linksextremismus war das Mittel der Wahl zur Ablenkung.

Wie soll man mit solchen Ablenkungsmanöver umgehen?

Gegeben, dass es diese anderen Probleme tatsächlich gibt, was hier nicht in Frage gestellt werden soll, ist die entscheidende Frage trotzdem: Kann man Probleme direkt miteinander vergleichen und aufgrund von Fakten als wichtiger und unwichtiger einstufen? Manchmal geht das.

Manchmal haben wir Fakten (z.B. statistische Sachverhalte), die ein Problem als quantitativ gewichtiger als ein anderes ausweisen, z.B. wenn es aktenkundig ist, dass in einem gewissen Zeitraum von Rechts mehr Gewalt einer bestimmten Art ausgeht als von Links. Es ist dabei natürlich zu beachten, dass „Äpfel mit Birnen zu vergleichen,“ z.B. Gewalt gegen Personen mit Sachbeschädigung zu vergleichen, ein Teil von entsprechenden Ablenkungsmanövern ist, die einen entsprechenden quantitativen Vergleich durchaus verzerren können. Manchmal kann man, wenn man die verschiedenen Probleme in Zusammenhang bringt, sogar klar Ursache und Wirkung voneinander scheiden; meist ist das aber schwierig.

Auch bei einer präzisen quantitativen oder ursächlichen Hierarchisierung der Probleme ist unzweifelhaft der einzige richtige Schluss, angewendet auf unser Beispiel: Es muss gegen jegliche ungerechtfertigte Gewalt (von links wie von rechts, von Flüchtlingen, etc.) vorgegangen werden. Meist gibt es sogar Wege (Stichwort Rechtsstaatlichkeit) die sprichwörtlichen „zwei Fliegen mit einer Klappe“ zu schlagen. Diese Balance ist wichtig und wurde auch von allen Diskussionsteilnehmern an und für sich zugestanden; von Carsten Hütter aber lediglich, um sogleich auf Probleme umzulenken, die nicht das Thema waren.

Es gilt ebenso unzweifelhaft, dass es nicht angemessen ist, von einem quantitativ gewichtigeren Problem oder auch nur vom zur Debatte stehenden Problem abzulenken. Wenn ein Kind etwas angestellt hat und auf die Rüge der Eltern antwortet, dass die anderen Kinder es auch gemacht hätten, dann tun Eltern gut daran, ihr Kind trotzdem zu rügen und auf das Ablenkungsmanöver nicht einzugehen. Wenn Schüler eine andere Frage als die gestellte Frage beantworten, bekommen sie zu Recht eine schlechte Note. In der Politik gehen solche Ablenkungsmanöver dann aber leider zu oft durch.

Worum es eigentlich geht

Probleme sind aber nicht nur quantitativ gewichtet, sondern auch qualitativ, über die Wertungen, die meist im Hintergrund der angeblich offenen Debatte stehen. Welches Problem ist an und für sich, d.h. qualitativ, wichtiger? Solche Fragen werden durch Fakten allein nicht beantwortet. Konkret auf unser Beispiel bezogen bedeutet das: Wenn über die qualitative Gewichtung der jeweiligen Probleme geredet würde, dann würde klar, dass nicht das jeweilige andere Problem (dass es z.B. auch linke Gewalt gibt) der Grund ist, wieso man das zur Debatte stehende Problem (rechte Gewalt) herunterspielt bzw. von ihm ablenkt, sondern weil man eine Wertentscheidung getroffen hat, die aber (noch nicht) öffentlich bezeugt werden kann: z.B. die normative Wertentscheidung, dass eben nicht alle Menschen ein Recht auf ein faires und ergebnisoffenes Asyl- bzw. Strafverfahren zuzugestehen sei; kurzum: dass eben nicht mit gleichem Maß gemessen werden solle, obwohl das Ablenkungsmanöver ja gerade diesen Eindruck erwecken möchte.

Ein „Reden mit Rechten“, wie derzeit so oft gefordert, wird im besten Fall (d.h. wenn die Fakten an sich nicht mehr zu leugnen sind) zu einem Ablenkungsmanöver führen; im schlechtesten Fall werden die Fakten heruntergespielt, verschwiegen, oder sogar geleugnet. Selten wird die Ebene erreicht werden, in der die Gewichtung der Werte zur Sprache kommt, um die es aber meist geht und auch gehen sollte, wenn es um politische Probleme geht, die letztendlich immer über die Fakten hinaus gehen, sonst wären sie ja keine politischen Probleme.

Was folgt

Eine Diskussion mit Personen, die (offen bekundet oder nicht) Werte vertreten, die das Grundprinzip der Gleichheit von Menschen verletzen, kann zu einer Kultur des Respekts, der Meinungsfreiheit und der Vernunft durchaus beitragen. Denn eine vernunftgeleitete Diskussion dieser Art kann davon profitieren, die Trumpfkarte der Fakten solange auszuspielen, bis sich das Gegenüber in die Ecke getrieben fühlt und als einzig noch verbleibende Lösung (dann, wenn die Fakten nicht mehr zu leugnen, zu verstecken oder herunterzuspielen sind) die deutlich sichtbare Nebelkerze der Ablenkung zündet. Meist erlauben dann die (bereits etablierten oder weitere) Fakten eine Neutralisierung der Ablenkung oder eine rein quantitative Gewichtung der Probleme.

Die Trumpfkarte der Fakten kann durchaus ausgespielt werden, um Ablenkungsmanöver zu entlarven. Daher lohnt es sich, trotz zu erwartender Ablenkungsmanöver, zu diskutieren. Nur sollte man von solchen Diskussionen keinen offenen Austausch von Argumenten erwarten, solange man sich nicht direkt über die Werte streitet, durch die erst Probleme qualitativ gewichtet werden könnten.