19 Mrz

Epistemische Handlungsfähigkeit in Unterdrückungskontexten: Kann Schweigen (epistemischer) Widerstand sein?

Von Hilkje C. Hänel (Potsdam)

In diesem Beitrag soll ein Fokus auf der epistemischen Handlungsfähigkeit oder Agency marginalisierter Wissender liegen; also jenen Personen, die oftmals systematisch von ungerechten epistemischen Praktiken betroffen sind. Tatsächlich betrachtet der hier gewählte Fokus, ein philosophisches Feld, dass Philosoph*innen of Colorebenso wie indigene Philosoph*innen schon seit langem bespielen. Im Folgenden wird zunächst betrachtet, wie Theorien der Handlungsfähigkeit mit Unterdrückungskontexten umgehen – und leider teilweise an deren Komplexität scheitern –, um dann zu zeigen, dass epistemische Handlungsfähigkeit als widerständige Handlungsfähigkeit auch ganz anders gedacht werden kann. Dabei kann aber selbstverständlich nur ein kleiner Einblick gegeben werden, der den Theorien, die sich mit epistemischem Widerstand auseinandersetzen sicher nicht gerecht werden kann. Hier soll vielmehr angedeutet werden, dass die Debatte um epistemische Ungerechtigkeit viel komplexer und größer ist als oftmals angenommen.

Interessanterweise haben viele Theorien zu Handlungsfähigkeit eine Gemeinsamkeit, indem sie die handelnde Person als überwiegend unabhängig von sozialen Relationen betrachten. Eine einflussreiche Theorie, die sich herausgebildet hat, charakterisiert selbstbestimmtes Handeln beispielsweise indem sich die handelnde Person mit ihrer Handlung identifiziert. Harry Frankfurt (1971) erklärt dies mit Rückgriff auf sogenannte Willensäußerungen zweiter Ordnung; also Wünsche zweiter Ordnung, bei denen Wünsche erster Ordnung wirksam sind. Wenn wir im Einklang mit unseren Willensäußerungen zweiter Ordnung handeln, dann identifizieren wir uns mit unseren Handlungen auf eine Art und Weise, die wichtig ist für selbstbestimmtes Handeln. Wenn ich beispielsweise ein zweites Stück Kuchen möchte, aber auch schlank bleiben will, da ich in einer Gesellschaft sozialisiert bin, in der Schlankheit als Schönheitsnorm für Frauen gilt, und somit einen Wunsch zweiter Ordnung ausbilde, kein weiteres Stück Kuchen zu essen, dann handele ich nach Frankfurt selbstbestimmt, weil meine Entscheidung, kein zweites Stück Kuchen zu essen, mit meinem Wunsch zweiter Ordnung übereinstimmt. Schon hier lässt sich ahnen, dass diese Theorie Unterdrückungsverhältnisse, die durch bestimmte – in diesem Fall patriarchale und sexistische – Normen aufrechterhalten werden, nicht ausreichend berücksichtigt; schließlich handele ich hiernach selbstbestimmt, wenn ich mich den Normen sexistischer Ideologie füge. Unterdrückung zeigt sich nicht nur in manchen Wünschen, sondern kann sich qua Internalisierung in alle unsere Einstellungen einschleichen, also auch in unsere Wünsche zweiter Ordnung. Zudem ist es ja gerade der Trick von ideologischen Unterdrückungsverhältnissen zu beeinflussen, was wir schätzen und welche Wünsche wir ausprägen. Das Kriterium für Handlungsfähigkeit in unseren Willensäußerungen zu suchen, sollte angesichts von Unterdrückungsverhältnissen zumindest mit Vorsicht betrachtet werden.

Andere Theorien knüpfen stattdessen an Kohärenz an; hiernach handelt eine Person dann selbstbestimmt oder autonom, wenn die Handlung Kohärenz in Bezug auf die Identität der handelnden Person oder ihre Wünsche und Projekte zeigt. Nach John Christman (1991) handelt eine Person selbstbestimmt, wenn sie auf Grundlage eines authentischen Wunsches handelt – und ein Wunsch ist authentisch, wenn die Person dem Wunsch auch dann nicht widerstanden hätte, hätte sie über den Entstehungsprozess des Wunsches reflektiert. Was hier also eine tragende Rolle spielt, ist die kritische Reflexion der Entstehung des Wunsches. Ähnlich argumentieren auch Marilyn Friedman (2003) und Meyers (1987 sowie 2004). Theorien, die Handlungsfähigkeit über Kohärenz zum authentischen Selbst oder zu authentischen Wünschen erklären, fallen aber in Bezug auf Khaders „Handlungsfähigkeitsdilemma“ (2011) häufig zu stark aus. Khaders Handlungsfähigkeitsdilemma bezeichnet die komplizierte theoretische Position, dass Handlungsfähigkeitstheorien zwar adäquat widerspiegeln sollen, inwieweit Unterdrückung die Handlungsfähigkeit einschränken kann, unterdrückten Personen aber trotz alledem noch Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden soll. Kohärenz-Theorien können zwar erklären, warum Unterdrückung die Handlungsfähigkeit einschränkt – schließlich lässt sich ein authentisches Selbst oder ein authentischer Wunsch schwer(er) in Kontexten von Unterdrückung verwirklichen –, nicht aber, wie Personen in Unterdrückungskontexten trotzdem selbstbestimmt handeln können.

Wieder andere Theorien vertreten die Überzeugung, dass selbstbestimmte Handlungen atomistisch sind. Handlungsfähigkeit ist zwar insofern atomistisch, als sie einer bestimmten und individuellen Person zuzuordnen ist, dies beinhaltet aber nicht notwendigerweise auch die Annahme, dass diese Person kausal von anderen Personen isoliert ist. Atomistische Theorien beinhalten jedoch meistens beide Auffassungen; hier wird Handlungsfähigkeit verstanden ohne Berufung auf andere (handelnde) Personen. Krista Thomason (2018) argumentiert beispielsweise, dass es eine klare Unterscheidung zwischen dem Selbstverständnis einer Person und der Art und Weise gibt, wie diese Person von anderen gesehen wird. Dies ist gerade in Hinblick auf die Arbeiten Schwarzer Philosophinnen fragwürdig. So zeigt Patricia Hill Collins (2000) die Macht, die sogenannte „kontrollierende Bilder“ über Schwarze Frauen haben: Matriarch, Mammy und Welfare Mother sind Kategorien, in die Schwarze Frauen eingeordnet werden und die eine bestimmte Funktion innerhalb der rassistisch-kapitalistischen Sozialstruktur einnehmen. Wie bei allen Kategorien sind diese sowohl deskriptiv als auch normativ. Sie spiegeln einerseits die Welt, in der Machtasymmetrien und historisch gewachsene soziale Ungleichheiten dafür verantwortlich sind, dass einige Personen die Reproduktionsarbeit anderer machen. Aber durch die Benennung der Kategorien werden diese gleichermaßen immer auch neu konstruiert, so dass die deskriptive Benennung eine normative Kraft hat, indem Personen aufgrund ihrer Beschreibung bewertet und in die ungerechte Sozialstruktur eingefriedet werden.

Wichtig hierbei ist einerseits, dass kontrollierende Bilder zu sogenannten Identitätsfallen werden; der Widerstand gegenüber einer dieser Kategorien lässt die Schwarze Frau automatisch in eine andere Kategorie abgleiten. Sich des Bildes der Mammy zu widersetzen und keine Reproduktionsarbeit in den Häusern weißer Frauen (und Männern) auszuführen, bedeutet gleichzeitig die Einordnung in das Bild der Welfare Mother – also der Mutter, die als faule und ungebildete Frau dem Sozialstaat auf der Tasche liegt. Andererseits sind diese Bilder Teil eines dominanten Narrativ, welches die Handlungsfähigkeit der beschriebenen Frauen signifikant beschränkt – zumindest, wenn Handlungsfähigkeit als unabhängiges, individuelles oder intentionales Handeln verstanden wird. So sieht Alisa Bierria (2014) einen Unterschied zwischen sozialem Lesen (im Original: social reading) und sozialer Autor*innenschaft (im Original: social authoring). Eine Person, die sozial gelesen wird, wird in ihren Handlungen so verstanden, wie sie diese intendiert hat. Aber: Eine Person, die sozialer Autorenschaft unterliegt, hat zwar eine spezifische Intention, aufgrund derer sie handelt, wird jedoch – aufgrund dominanter Narrative – vollkommen anders verstanden.  Mit anderen Worten, die von ihr intendierte Handlung wird von dominant-situierten Personen neu geschrieben. So werden die Handlungen Schwarzer Personen, die die Intention haben, Hilfe zu rufen, aufgrund des rassistischen Narrativ, dass alle Schwarzen Personen kriminell sind, neu geschrieben – nicht als die Bemühung, Hilfe zu bekommen, sondern selbst als kriminelle Handlung. Dies lässt sich mit Theorien, nach denen Intentionen eine wichtige Rolle für die Bewertung unserer Handlungen spielen, nicht darstellen, denn in diesen Beispielen sind die Handlungen eben gerade nicht von den handelnden Personen geschrieben, sondern von anderen.

Dies zeigt, dass Theorien, die zu viel Wert auf Intentionen legen und zu wenig Wert auf die (ungerechten) Sozialstrukturen (innerhalb derer, wir Intentionen überhaupt erst formen), verzerrte Ergebnisse darüber liefern, was unsere Handlungsfähigkeit ausmacht. Das zeigt sich auch daran, dass sich unter den meisten individualistischen Handlungstheorien Handlungen auf irgendeine Weise körperlich widerspiegeln müssen: widerständige Handlungen sind demnach zum Beispiel Dinge wie Hungerstreik, Teilnahme an Demonstrationen oder auch das körperliche Abwehren der Handlungen anderer. Das Leben von unterdrückten oder marginalisierten Personen ist aber oftmals viel komplexer, als es diese eindeutigen widerständigen Handlungen ausdrücken können, was unter anderem deutlich wird, wenn bell hooks von Zuhause und Audre Lorde vom Schweigen oder sogar vom Überleben als Widerstand sprechen. hooks erinnert uns daran, dass Unterdrückung auch ein täglicher (widerständiger) Kampf ums Überleben und Navigieren in einer feindlichen Welt ist, so dass ein sicherer Ort – das Zuhause – zu einem Ort des Widerstands werden kann. hooks schreibt:

Ich erinnere mich an die Angst, an die Angst, zu Baba (dem Haus unserer Großmutter) zu gehen, weil wir an diesem erschreckenden Weißsein vorbeigehen mussten – an den weißen Gesichtern auf den Veranden, die uns voller Hass anstarrten. Selbst wenn sie leer oder unbewohnt waren, schienen diese Veranden zu sagen: „Gefahr,“ „ihr gehört nicht hierher,“ „ihr seid nicht sicher.“

Und weiter:

Oh! Dieses Gefühl der Sicherheit, der Ankunft, der Heimkehr, als wir endlich den Rand ihres Gartens erreichten, als wir das rußgeschwärzte Gesicht unseres Großvaters, Daddy Gus, in seinem Stuhl auf der Veranda sitzen sahen, an seiner Zigarre riechen und uns auf seinem Schoß ausruhen konnten. Welch ein Kontrast, dieses Gefühl der Ankunft, der Heimkehr, diese Süße und die Bitterkeit dieser Reise, diese ständige Erinnerung an die weiße Macht und Kontrolle.

hooks 1990, 41; eigene Übersetzung

Dies ist besonders dann wichtig, wenn (a) dieser Ort der einzige Kontext ist, an dem man nicht den kontrollierenden Bildern oder der sozialen Autorenschaft privilegierter Personen unterliegt, und (b) die Schwarzen Frauen, die den Ort des Zuhauses zu einem sicheren und liebevollen Ort – und somit widerständigen Ort – machen, tagtäglich die Reproduktions- und Pflegearbeit in den Häusern weißer Frauen, Männer und Familien leisten. Das Zuhause ist nicht nur das Zuhause der (eigenen) Kernfamilie, sondern wird im Kontext rassistischer Unterdrückung zum Zuhause der Gemeinschaft Schwarzer Personen; zum Ort des gemeinschaftlichen Widerstands, in dem die eigenen Kräfte aufgeladen werden können und Liebe und Respekt gelernt wird – im starken Widerspruch zu der feindlichen Welt außerhalb des Zuhauses. Widerstand ist hier sowohl explizit zu finden als auch implizit: Explizit insofern als das Zuhause der Ort ist, an dem die eigenen Kräfteressourcen aufgeladen werden, widerständige Netzwerke geknüpft werden und Respekt gegeben werden kann; alles wichtige körperliche, materialistische und emotionale Voraussetzungen dafür, Widerstand überhaupt leisten zu können. Denn wie Bertolt Brecht schon schrieb: „Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr!“ Aber bei hooks findet sich auch noch eine doppelte implizite Form des Widerstands, indem einerseits das Zuhause zu dem Ort wird, an dem standpunktspezifische epistemische Ressourcen entwickelt und weitergegeben werden können und, andererseits ein historisch gewachsener Rassismus den Tod von rassifizierten Personen zumindest in Kauf nimmt und somit das reine Überleben zum Widerstand wird. Ein Gedanke, der sich auch bei Lorde zeigt:

For those of us

who were imprinted with fear

like a faint line in the center of our foreheads

learning to be afraid with our mother’s milk

for by this weapon

this illusion of some safety to be found

the heavy-footed hoped to silence us

For all of us

this instant and this triumph

We were never meant to survive.

Lorde 1978

Es wird deutlich, dass individualistische Handlungstheorie schlecht geeignet ist, Handlungsfähigkeit von unterdrückten Subjekten widerzuspiegeln. Aber gerade in Texten und Textformen, die nicht als paradigmatisch gelten, finden sich zum einen epistemische Kontexte, in denen Wissen generiert und über Generationen weitergegeben wird, und zum anderen kristallisieren sich hier standpunktspezifische Erkenntnisse heraus, die aus der sozialen Position derer, die in privilegierten Positionen stehen und daher weniger Widersprüchlichkeiten navigieren müssen, nur schwer zu sehen sind.

Ähnlich verhält es sich mit dem Phänomen des Schweigens. Einerseits schreibt Lorde von einer notwendigen Transformation des Schweigens (1977), andererseits lassen sich Unterdrückungskontexte ausmachen, in denen Schweigen zur aktiven widerständigen Handlung wird. Das steht in starkem Kontrast zu den Intuitionen vieler philosophischer Texte. Intuitionen, die sich auch in Theorien epistemischer Ungerechtigkeit finden lassen: Wenn Personen schweigen, wird dies oftmals als Indiz dafür gewertet, dass wir es mit einer ungerechten epistemischen Ökonomie zu tun haben. Die grundlegende Idee scheint dabei zu sein: Wissende Subjekte schweigen in signifikanten Situationen nur dann, wenn sie von anderen zum Schweigen gebracht werden. Dies zeugt aber von einer sehr vereinfachten Betrachtung eigentlich komplexer sozialer Zusammenhänge. So argumentiert Dotson (2011, 241) für einen Unterschied zwischen „Fällen von Schweigen“ (im Original: instances of silencing) und „Praktiken des Schweigens“ (im Original: practices of silencing). Fälle von Schweigen sind vereinzelte und sich nicht wiederholende Fälle, in denen ein zuhörendes Publikum die Abhängigkeiten einer sprechenden Person nicht erfüllt, so dass das Gesagte nicht oder nur verzerrt aufgenommen wird. Praktiken des Schweigens sind die ritualisierte und verlässlich auftretende Verweigerung eines Publikums, den Abhängigkeiten einer sprechenden Person nachzukommen aufgrund einer weit verbreiteten Ignoranz. Fälle von Schweigen können schädlich sein, sind es aber nicht notwendigerweise – abhängig vom Kontext und den involvierten Personen. Praktiken des Schweigens sind dagegen immer notwendigerweise schädlich, weil sie in verlässlicher Ignoranz begründet sind (vgl. Dotson 2011, 241). Und verlässliche Ignoranz wird ausbuchstabiert als eine spezifische Inkompetenz, bei der nicht nur eine Unfähigkeit vorliegt, die Wahrheit einer bestimmten Aussage zu erkennen, sondern eine Unsensibilität, Wahrheit in Bezug auf einen bestimmten Kontext zu erkennen/erkennen zu wollen. Mit anderen Worten: „Der Zustand zuverlässiger Ignoranz stellt sicher, dass ein*e epistemische*r Akteur*in bestimmte Wahrheiten immer wieder nicht erkennen wird“ (Dotson 2011, 241; eigene Übersetzung). Hier haben wir es also tatsächlich mit einem problematischen Zum-Schweigen-bringen zu tun; zum Beispiel, wenn Schwarze Frauen aufgrund „kontrollierender Bilder“ (Collins 2000) kontinuierlich nicht als wissende Personen aufgefasst werden.

Eine andere Form, in der zuverlässige Ignoranz in kommunikativen Situationen zum Tragen kommen kann, ist, wenn die sprechenden Personen ihr Gegenüber berechtigterweise als unwillig oder nicht in der Lage sehen, die potenzielle Aussage in angemessener Weise aufzunehmen; ein Phänomen, das Dotson „testimoniales Ersticken“ (im Original: testimonial smothering) nennt. Diese Situationen treten vor allem dann auf, wenn der Inhalt einer Aussage für die Sprecherin unsicher oder gefährlich ist und schädliche Ignoranz vorliegt; wenn die zuhörenden Personen also bereits bewiesen haben, dass sie kein Interesse daran haben, die Position der Sprecherin tatsächlich zu verstehen. Testimoniales Ersticken ist, wie auch testimoniales Ruhigstellen, ein erzwungenes Schweigen (vgl. Dotson 2011, 244). Allerdings lässt sich hier eine interessante Veränderung ausmachen: Während die sprechende Person in Situationen testimonialen Ruhigstellens eine passive Rolle einzunehmen scheint, trifft sie in Situationen des testimonialen Erstickens die explizite Entscheidung aufgrund ihres Gegenübers und der problematischen verzerrten epistemischen Ressourcen keine Aussage zu treffen. Als Beispiel nimmt Dotson hier Bezug auf Crenshaw, die folgendes Problem benennt:

[R]ace fügt den Quellen der Unterdrückung des Problems der häuslichen Gewalt innerhalb nicht-weißer Gemeinschaften eine weitere Dimension hinzu. People of Color müssen oft abwägen zwischen ihrem Interesse, Themen zu vermeiden, die eine verzerrte öffentliche Wahrnehmung verstärken könnten, und der Notwendigkeit, Probleme innerhalb der Gemeinschaft anzuerkennen und anzugehen. Die Kosten der Unterdrückung werden jedoch selten erkannt, zum Teil, weil das Versäumnis, das Thema zu diskutieren, die Wahrnehmung prägt, wie ernst das Problem überhaupt ist.

Crenshaw 1991, 1256; eigene Übersetzung

Mit anderen Worten, gerade Schwarze Frauen befinden sich im Kontext von häuslicher (und sexueller) Gewalt in einem schwerwiegenden Dilemma, sie haben die Wahl, durch das Aussprechen der Gewalt rassistische Stereotype des gefährlichen Schwarzen Mannes zu reproduzieren – oder aber die Gewalt zu verschweigen, mit allen Konsequenzen für ihr eigenes Wohlbefinden. Hier lässt sich nun sowohl ein erzwungener Aspekt ausmachen – die Gründe für das Schweigen liegen außerhalb der Kontrolle der schweigenden Person – als auch ein reflektiertes Verständnis der eigenen Situation und der Einbettung dieser Situation innerhalb ungerechter (in diesem Fall, rassistischer) Strukturen, der Abwägung der Gefahr, eine solche Aussage zu tätigen, und der bewussten Entscheidung dagegen (vgl. Harvin 1996). Die Komplexität der Situation kann also nur akkurat beschrieben werden, wenn der Fokus sowohl auf der Handlungsfähigkeit und der (Reflexion der) ungerechten sozialen Strukturen und den damit einhergehenden Praktiken der Ignoranz auf Seiten weißer Personen liegt – und, so viel sollte nun feststehen, Handlungsfähigkeit ist eben oftmals viel komplexer als zunächst angenommen.


Dieser Text ist ein leicht veränderter Auszug aus Epistemische Ungerechtigkeiten, geschrieben von Hilkje Hänel, voraussichtlicher Erscheinungstermin 22.04.2024 in der Reihe Grundthemen Philosophie bei de Gruyter. Was hier nur am Rande angeschnitten wird, findet im Buch einen zentralen Platz: Es zeigt sich, dass epistemische Ungerechtigkeit möglichst weit gefasst verstanden werden muss, um die unterschiedlichen Facetten dieser sozialen Probleme zu erkennen. Gleichfalls zeigt sich, dass die Debatte um epistemische Ungerechtigkeiten nicht erst mit Miranda Frickers wichtigem Buch (mit selbigem Titel) begonnen hat, sondern schon auf unterschiedlichste Weise Teil marginalisierter philosophischer Forschung war.


Bierria, Alisa. 2014. „Missing in Action: Violence, Power, and Discerning Agency,“ Journal of Social Philosophy 29(1): 129–45.


Collins, Patricia Hill. 2000. Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment (zweite Ausgabe), New York: Routledge.

Crenshaw, Kimberlé. 1991. „Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color,“ Stanford Law Review 43: 1241–99.


Dotson, Kristie. 2011. „Tracking Epistemic Violence, Tracking Practices of Silencing,“ Hypatia 26(2): 236–57.


Frankfurt, Harry. 1971. „Freedom of the Will and the Concept of a Person“ The Journal of Philosophy 68(1): 5.


Friedman, Marilyn. 2003. Autonomy, Gender, Politics. New York: Oxford University Press.

Harvin, Cassandra Byers. 1996. „Conversations I Can’t Have,“ On the Issues: The Progressive Woman’s Quarterly 5(2): 15–16.


hooks, bell. 1990. Yearning: Race, Gender and Cultural Politics. Boston: South End Press.

Khader, Serene. 2011. Adaptive Preferences and Women’s Empowerment. Oxford/New York: Oxford University Press.


Lorde, Audre. 1978. „A Litany for Survival,“ in: The Collected Poems of Audre Lorde. W.W. Norton & Company Inc.


Lorde, Audre. 1977. „The Transformation of Silence into Language and Action,“ Vortrag am 28. Dez: Modern Language Association’s Lesbian and Literature Panel, Chicago.


Meyers, Diana Tietjens. 1987. „Personal Autonomy and the Paradox of Feminine Socialization,“ Journal of Philosophy 84(11): 619–28.

Meyers, Diana Tietjens. 2004. „Decentralizing Autonomy: Five Faces of Selfhood,“ in: Being Yourself: Essays on Identity, Action, and Social Life, herausgegeben von Diana T. Meyers. Lanham, MD: Rowman & Littlefield Publishers.

Thomason, Krista. 2018. Naked: The Dark Side of Shame and Moral Life. New York: Oxford University Press.


Hilkje C. Hänel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Politischen Theorie und Philosophie an der Universität Potsdam. Sie ist Principal Investigator des von der DFG geförderten internationalen Forschungsnetzwerks The Relation of Theories of Epistemic Injustice and Recognition Theory und Autorin von vier Büchern und mehr als fünfzehn Artikeln, unter anderem zum Thema Epistemische Ungerechtigkeiten. Sie hat außerdem eine Sonderausgabe über epistemische Ungerechtigkeiten in der Zeitschrift für Praktische Philosophie herausgegeben und ist Mitherausgeberin einer Sonderausgabe über die Dekolonialisierung epistemischer Ungerechtigkeit bei Inquiry. Hänel ist Mitherausgeberin einer Buchreihe zur politischen Philosophie Transforming Political Philosophy (de Gruyter) sowie einer neuen Buchreihe zur feministischen Philosophie fem.phil (Metzler).

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