27 Okt

Politik für das Postwachstum

Von Max Koch (Lund)


Ein halbes Jahrhundert ist seit der Publikation der bahnbrechenden Studie zu den „Grenzen des Wachstums“ von Meadows et al. vergangen. Seitdem hat die Literatur der ökologischen Ökonomie, des Postwachstums (Degrowth) und der nachhaltigen Wohlfahrt (sustainable welfare) immer wieder darauf hingewiesen, dass eine umfassende ökologisch-soziale Transformation möglichst bald eingeleitet werden müsste, um westliche Produktions- und Konsumtionsmuster mit planetarischen Grenzen in Einklang zu bringen. Da es dem vom politischen Mainstream seit Jahrzehnten zelebrierten „grünen Wachstum“ an empirischer Evidenz fehlt (Haberl et al. 2020), muss bei den erforderlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Umstellungen auf weiteres Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verzichtet werden – zumindest im globalen Norden.

Was wären die Implikationen für Wohlfahrt(sstaat) und Politikschwerpunktsetzung, würde Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich den Wachstumspfad verlassen und in einen Postwachstumsweg einbiegen? Theoretisch relevant sind hier Konzepte wie nachhaltige Wohlfahrt (z.B. Koch 2019) und das eines sicheren und gerechten Handlungsraums (safe and just operating space; Rockström et al. 2009; Raworth 2017). Empirisch arbeite ich mit qualitativen Daten von Bürger*innenforen und quantitativen Daten aus repräsentativen Erhebungen. Besonders letztere erlauben Aufschlüsse über die Popularität sogenannter ökologisch-sozialer Politiken, welche zum Ziel haben, die Veränderung von Produktions- und Konsumtionsnormen in Richtung eines sicheren und gerechten Handlungsraums anzustoßen. Eine solcher Politikwandel setzt auch einen ökologisch und sozial erneuerten Staat als Steuerungsinstanz breiterer Governancenetzwerke voraus, denen außerdem private und zivilgesellschaftliche Akteure angehören müssten (Koch 2020).

Das Konzept der nachhaltigen Wohlfahrt lässt sich mit dem eines sicheren und gerechten Handlungsraum so kombinieren, dass sowohl ökologische als auch soziale Grenzen menschlicher Aktivitäten sichtbar werden (Koch 2022a). Das gilt sowohl für ökonomische als auch nicht-ökonomische Aktivitäten: der Ressourcenverbrauch von Wirtschaft und Gesellschaft verbleibt hier unterhalb kritischer planetarer Grenzen (die äußere Grenze des safe and just operating space), aber oberhalb des Suffizienzniveaus, das unerlässlich ist zur Befriedigung von Grundbedürfnissen (die innere Grenze dieses Raums). Die Wirtschaft wird also verstanden als Subsystembiophysischer und sozialer Systeme, während Wohlfahrtssysteme in ihren ökologischen Kontexten rekonstruiert werden, innerhalb derer sie die nachhaltige Befriedigung von Grundbedürfnissen ermöglichen und erleichtern.

Würde die äußere Grenze des sicheren und gerechten Handlungsraums oder die planetaren Grenzen respektiert, könnte wohlfahrtstaatliches Handeln und Politik nicht länger der relativ problemlosen Umverteilungslogik expandierender Ökonomien folgen, wie sie im Nachkriegszeitalter in Westeuropa der Normalfall war. Um Wohlfahrt ohne Wachstum zu finanzieren, wären vielmehr kontroverse Entscheidungen notwendig, welche vor allem Vermögen und Machtressourcen der gegenwärtig reichsten und einflussreichsten Gruppen betreffen. Bezugnehmend auf relevante philosophische (Robeyns 2019) und politisch-ökonomische (Koch und Buch-Hansen 2021) Diskurse, fordern Degrowth und sustainable welfare Begrenzungen von Lebensstilen jenseits gewisser Schwellenwerte, beispielsweise durch eine höhere Besteuerung oder Deckelung von Erbschaften, hoher Einkommen und Vermögen (Buch-Hansen und Koch 2019). Solche Politik wäre nicht nur „ökologisch-sozial“, da sie zugleich ökologische Ziele verfolgte – reichere und vor allem die reichsten Einkommensgruppen zeichnen sich durch überproportional hohe Treibhausgasemissionen aus – und die soziale Ungleichheit verminderte, sondern könnte darüber hinaus einen wichtigen Hebel zur Entkopplung von Wohlfahrstaatlichkeit von ökonomischem Wachstum darstellen (Büchs 2021; Corlet Walker et al. 2021).

Allerdings unterstützt nur ein Viertel der schwedischen Bevölkerung die Einführung einer Obergrenze von Vermögen und Einkommen oberhalb derer eine hundertprozentige Besteuerung anfiele (in unserer repräsentativen Befragung bei 145 000 Euro pro Jahr). Dies mag damit zu tun haben, dass ein Maximaleinkommen ein für schwedische Verhältnisse völlig neuartiger Politikvorschlag ist und es gegenwärtig keine Partei gibt, die dafür einträte. Es ist also denkbar, dass die Zustimmungsraten für eine solche Politik mit dem aktiven Werben für sie zunähme. Kaum verwunderlich ist deshalb auch die Tatsache, dass die Akzeptanz der deutlich bekannteren Vermögenssteuer (welche 1997 abgeschafft wurde) wesentlich höher ausfällt und zwischen 40 und 50% liegt.

Hinsichtlich der inneren Grenze des sicheren und gerechten Handlungsraums oder der Befriedigung von Grundbedürfnissen plädiert die sustainable welfare Literatur für die Einführung eines allgemeinen und bedingungslosen Grundeinkommens (Unconditional Basic Income, UBI), die Ausweitung und/oder Einrichtung universeller Basisdienstleistungen (Universal Basic Services, UBS) oder eine Kombination aus beiden (Bohnenberger 2020). Auf nationaler Ebene sind institutionelle Pfadabhängigkeit und Wohlfahrtregimezugehörigkeit wichtige Einflussfaktoren bei der Bestimmung des konkreten Wohlfahrtmix aus UBS and UBI. So ist es weitaus leichter, UBS-Systeme in Ländern auszuweiten, welche, wie im Norden Europas, bereits eine universelle Tradition in der Sozialpolitik aufweisen. UBI würde hier eine entsprechend geringere Rolle spielen. Diese Hypothese wird bis zu einem gewissen Grad von unseren Daten gestützt: Weniger als 20% der Schwed*innen sind für ein bedingungsloses Grundeinkommen, während die Zustimmungsquoten für die Erweiterung von Basisdienstleistungen (z.B. für Wasser, Elektrizität, öffentlicher Nahverkehr oder Lebensmittelkörbe aus ökologischem Landbau) bei 50% oder darüber liegen. Umgekehrt erscheint für Länder mit liberaler Wohlfahrtstradition wie Großbritannien die Einführung von UBI die einfachere und schnellere Option, da der Aufbau von UBS-Institutionen viel mehr Zeit erfordern würde als angesichts der Klimakrise zur Verfügung steht.

Solche empirischen Befunde verweisen auf eine beträchtliche Kluft zwischen den aufgrund des Klimanotstands (Ripple et al. 2020) eigentlich notwendigen und auf eine fundamentale gesellschaftliche Transformation zielenden ökologisch-sozialen Maßnahmen, einerseits und denjenigen graduellen und etablierte Produktions- und Konsumtionsmuster nicht infrage stellende Veränderungen, welche eine Mehrheit der Bürgerinnen eines fortgeschrittenen Wohlfahrtslandes wie Schweden gegenwärtig zu unterstützen bereit sind, andererseits. Zwar stehen wir bei Erklärungsversuchen dieser Kluft noch an Anfang. In jedem Fall sollte dabei aber von der tiefen und breiten Verankerung des Wachstumsimperativs in Alltagsbewusstsein und täglichen Umgangsformen ausgegangen werden, aufgrund derer dieser Imperativ als natürliches erscheint. Bereits Marx hat auf die Verkehrung spezifisch gesellschaftlicher Phänomene in sachliche und natürliche Eigenschaften hingewiesen, die den Kapitalismus kennzeichnen. Die dem Wachstum zugrunde liegende Kapitalakkumulation, und die damit einhergehende Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen, erscheint deshalb nicht als historisch relativ junges soziales Verhältnis, sondern als Ding und natürliche Wirtschaftsform – eine Mystifikation, die sich nicht auf die Produktionssphäre beschränkt, sondern, wie vor allem Bourdieu hervorgehoben hat, die Konsumtionsseite einschließt (Koch 2017).

Es ist außerdem Teil des kollektiven Gedächtnisses, dass eine Vielzahl von Institutionen wie das Justiz-, Bildung- und Wohlfahrtswesen, die zu den relativ hohen subjektiven Zufriedenheitswerten beitragen, welche regelmäßig in westlichen Ländern gemessen werden, sich historisch parallel und in Abhängigkeit von wachsendem BIP entwickelt haben und bis heute vielfältig damit verzahnt sind. Wir stehen also vor einer Transformation einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Institutionen, die schnell (aufgrund des Klimanotstands), parallel und ungefähr im selben Tempo ablaufen müsste, um soziale Desintegration und Anomie zu vermeiden. Leider haben wir für gesellschaftliche Veränderungen dieses Kalibers unter demokratischen Vorzeichen wenig bis keine historischen Beispiele. Jeder Versuch, die kapitalistische Wachstumslogik dennoch demokratisch zu überwinden, muss daher Antworten auf verbreitete Ängste vor Wohlfahrtseinbußen und sozialer Exklusion finden und öffentlich vertreten (Büchs and Koch 2019), um die politische Deutungshoheit zu gewinnen beziehungsweise nicht zu verlieren.

Ein Versuch, solche Vorbehalte zu entkräften, besteht in der Einrichtung und Ausweitung alternative sozialer Räume, in denen nachhaltigere und gleichberechtigtere Formen des Zusammenlebens und Arbeitens erprobt werden können (Koch et al. 2021). Eine in unseren Forschungsprojekten angewendete Methode sind Bürger*innenforen zu Klimanotstand, nachhaltiger Bedürfnisbefriedigung und entsprechender ökologisch-sozialer Politik. Solche deliberativen Ansätze könnten von Regierungen aufgewertet werden, so dass sie eine beratende Funktion bei der Politikgestaltung erhalten. Dies reflektiert auch jüngere Diskussionen zu Governance und der Rolle des Staates in der sozio-ökologischen Transformation in Degrowth-Kreisen (Barlow et al. 2022; Koch 2022b). Nur wenn der notwendige Druck in der Zivilgesellschaft zustande kommt, können Regierungen gewählt werden, die Wirtschaft und Gesellschaft als in die Umwelt eingebettet ansehen und das Wachstumsprimat zugunsten eines Nachhaltigkeitsprimats überwinden. Staatliche Macht könnte dann – als primus inter pares in Netzwerken mit einer Reihe von privaten und non-profit Akteuren – eingesetzt werden, um den „Grenzen des Wachstums“ endlich Respekt zu verschaffen. 


Literatur

Barlow, N. et al. (eds) (2022) Degrowth & Strategy: How to bring about social-ecological transformation. London: Mayfly. Degrowth-n-Strategy-2022.pdf (mayflybooks.org)

Bohnenberger, K. (2020) ‘Money, vouchers, public infrastructures? A framework for sustainable welfare benefits, Sustainability, 12, 2, 596. Sustainability | Free Full-Text | Money, Vouchers, Public Infrastructures? A Framework for Sustainable Welfare Benefits (mdpi.com)

Buch-Hansen, H. and Koch, M. (2019) ‘Degrowth through income and wealth caps?’ Ecological Economics 160, 264–71. Degrowth through income and wealth caps? – ScienceDirect

Büchs, M. (2021) ‘Sustainable Welfare: Growth Independence Has to Go Both Ways’, Global Social Policy 21, 2, 323-327. Sustainable welfare: Independence between growth and welfare has to go both ways – Milena Büchs, 2021 (sagepub.com)

Büchs, M. and Koch, M. (2019) ‘Challenges to the degrowth transition: the debate about wellbeing’, Futures 105, 155–65. Challenges for the degrowth transition: The debate about wellbeing – ScienceDirect

Corlet Walker et al. (2021). ‘Welfare systems without growth: a review of the challenges and next steps in the field’, Ecological Economics 186: 107066. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0921800921001245.

Haberl, H. et al. (2020) ‘A systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights’, Environmental Research Letters, 15, 6, 065003. A systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights – IOPscience

Koch, M. (2017) ‘Die Naturalisierung des Wachstums in Produktion und Konsumtion: Von Marx über den Regulationsansatz zu Bourdieu. PROKLA-Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft’, 635-652. Die Naturalisierung des Wachstums in Produktion und Konsumtion | PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft

Koch, M.  (2019) ‘Nachhaltige Wohlfahrt: Ökologisch-soziale Politik für die Postwachstumsära’. Kursbuch 197, 177-190. Nachhaltige Wohlfahrt (eBook, ePUB) von Max Koch – Portofrei bei bücher.de (buecher.de)

Koch, M. (2020) ‘The state in the transformation to a sustainable postgrowth economy’, Environmental Politics, 29, 1, 115–33. Full article: The state in the transformation to a sustainable postgrowth economy (tandfonline.com)

Koch, M. (2022a) ‘Social Policy without Growth: Moving Towards Sustainable Welfare States’, Social Policy and Society 21, 3, 447-459. Social Policy Without Growth: Moving Towards Sustainable Welfare States | Social Policy and Society | Cambridge Core

Koch, M. (2022b) ‘State-civil Society Relations in Gramsci, Poulantzas and Bourdieu: Strategic Implications for the Degrowth Movement’, Ecological Economics 193,  107275. State-civil society relations in Gramsci, Poulantzas and Bourdieu: Strategic implications for the degrowth movement – ScienceDirect

Koch, M. und Buch-Hansen, H. (2021) In search of a political economy of the postgrowth era, Globalizations 18. 7, 1219-1229. Full article: In search of a political economy of the postgrowth era (tandfonline.com)

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Raworth, K. (2017) ‘A Doughnut for the Anthropocene: Humanity’s compass in the 21st century, The Lancet 1, 2, E48-E49. A Doughnut for the Anthropocene: humanity’s compass in the 21st century – The Lancet Planetary Health.

Ripple, W.  et al. (2020) World scientists’ warning of a climate emergency, BioScience 70, 1, 8–12. World Scientists’ Warning of a Climate Emergency | BioScience | Oxford Academic (oup.com)

Robeyns, I. (2019) ‘What, if anything, is wrong with extreme wealth?’ Journal of Human Development and Capabilities 20, 3, 251–66. Full article: What, if Anything, is Wrong with Extreme Wealth? (tandfonline.com)

Rockström et al. (2009) A safe operating space for humanity. Nature 461472–475. A safe operating space for humanity | Nature


Zum Autor

Max Koch ist Professor in Social Policy and Sustainability an der Universität Lund, Schweden.