04 Feb

Post-Privacy oder Datenschutz als neuer Megatrend? Sinn und Wert der Privatheit

von Anne Siegetsleitner (Innsbruck)


1. Post-Privacy oder Privatheit als neuer Trend?

Vielen gelten heute Begriffe wie „privat“, „Privatsphäre“ oder „Privatheit“ als abgenutzt. Manche bedauern dies, andere halten die damit verbundenen Ideen ohnehin für altmodisch und „sowas von Eighties“, wie Julia Schramm, eine Vertreterin der Post-Privacy-Fraktion, in einem Spiegel Online-Interview (https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/internet-exhibitionisten-spackeria-privatsphaere-ist-sowas-von-eighties-a-749831.html) meinte. Tatsächlich haben diese Ausdrücke und die damit verbundenen Vorstellungen schon bessere Zeiten gesehen. Fest steht: In den medialen Fokus gerieten Fragen nach dem Umgang mit Privatheit in den vergangenen Jahren vor allem im Zusammenhang mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Vor einigen Jahren sorgten die Enthüllungen Edward Snowdens über die Überwachungspraktiken der US-amerikanischen NSA (National Security Agency) und verbündeter Geheimdienste für Aufmerksamkeit, in jüngster Zeit tritt Chinas Sozialkreditsystem in den Fokus. Zu ähnlichen grundlegenden Verwerfungen führt der Umgang mit Privatheit in Sozialen Medien.

Facebook, zu dessen Konzern auch Instagram und WhatsApp gehören, gilt vor allem neben Google/Alphabet und Amazon als eine der großen Datenkraken im Internet. Microsoft, Apple, Netflix & Co sind ebenso wenig zu vernachlässigen. Aber selbst unabhängig vom Internet wird fleißig gesammelt: Elektronische Gesundheitsakte, SmartMeter bei Stromzählern, Überwachungskameras usw. usf. Da kann einer bzw. einem schon mulmig werden und das Ende der Privatsphäre als Gefahr vor Augen schweben.

Andererseits gibt es durchaus ein Willkommenheißen der neuen Möglichkeiten und kein Bedauern über die damit verbundenen Verluste von Privatheit. Ein entsprechender Buchtitel lautet: „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“. Auf der Rückseite des Umschlags ist zu lesen: „Datenschutz ist bestenfalls Hinauszögern des Unausweichlichen, […]. Wichtiger ist die Frage, wie wir unser Leben ohne die Sicherheiten einer Privatsphäre lebenswert machen können.“ (Umschlag Heller 2011)

Oder wird Datenschutz gerade der neue Megatrend im Silicon Valley, wie neueste Berichte (https://www.nzz.ch/meinung/datenschutz-der-naechste-megatrend-im-silicon-valley-ld.1480484) vermuten?

Auf alle Fälle ist es sinnvoll, sich mit dem Sinn und dem Wert von Privatheit auseinanderzusetzen.

2. Der Sinn der Privatheit

Zur Bewältigung unserer Probleme in der Praxis – und dort stellen sie sich letztlich – ist es hilfreich, verschiedene Arten von Privatheit und Privatsphäre zu unterscheiden. So viel Zeit sollten Philosophierende aufbringen.

In meinem Titel spreche ich von „Privatheit“ und ich bin bisher davon ausgegangen, dass Sie ein ausreichendes Vorverständnis dieses Ausdrucks haben, um meinen Ausführungen folgen zu können. Nun werde ich mich eingehender der Bedeutung bzw. dem sprachlichen Sinn dieses Wortes zuwenden.

Das Wort „Privatheit“ ist im Deutschen noch nicht sehr lange gebräuchlich. Bis vor wenigen Jahren hätte ich wohl eher von „Privatsphäre“ gesprochen. Beide Ausdrücke, sowohl „Privatheit“ als auch „Privatsphäre“, verweisen auf allerlei. Im anglo-amerikanischen Raum wird die Problematik unter dem mehrdeutigen Ausdruck „privacy“ behandelt. In Europa werden die Diskussionen auch unter dem etwas sperrigen, kühlen Ausdruck „Datenschutz“ geführt. Ich finde es zweckmäßiger, beim Ausdruck „Privatheit“ anzusetzen, um das Gemeinsame der verschiedenen Anwendungskontexte offenzulegen. Wie können wir es angehen?

Schon in meiner Monographie über E-Mail und Privatheit (Siegetsleitner 2001) habe ich eine Terminologie vorgeschlagen, die ich seitdem in meinen Arbeiten zu Fragen der Privatheit verwende. Ohne auf die technischen Details der logischen Konstruktion einzugehen, gilt es, ein vorteilhaftes Merkmal dieser Terminologie hervorzuheben. Dieses besteht darin, dass in dieser Terminologie zwischen Zuständen von Privatheit und Kontrolle über solche Zustände schon sprachlich unterschieden wird. Wenden wir uns zuerst den Privatheitszuständen zu.

Privatheitszustände: Ich gehe davon aus, dass Ihnen der Inhalt einer E-Mail, die ich vor genau zwei Stunden verschickt habe – ja, ich verschicke noch E-Mails –, nicht bekannt ist. Sie befinden sich diesbezüglich in einem Zustand des Nichtwissens. Dies werde ich nun umformulieren und sage: Sie haben keinen Zugang zu dieser Mail. Wenn Sie zu etwas, das zu mir gehört, keinen Zugang haben, so befinde ich mich Ihnen gegenüber in dieser Hinsicht in einem Zustand der Privatheit. Unter Berücksichtigung der Zeit sage ich: Ich befinde mich jetzt Ihnen gegenüber hinsichtlich der Mail, die ich vor genau zwei Stunden verschickt habe, in Privatheit. Wenn ich mich Ihnen gegenüber in Privatheit befinde, sind Sie des Zugangs beraubt. Hier kann an die Wortherkunft angeschlossen werden. Der Ausdruck „privat“ kommt vom lateinischen „privatus“, das „beraubt“ bedeutet.

Ich habe nun auch davon gesprochen, dass etwas zu mir gehört. Das kann nicht nur eine Mail sein, sondern z. B. auch meine äußere Erscheinung, mentale Zustände wie Überzeugungen oder Wünsche, mein Gesundheitszustand, Aktivitäten oder das, was ich in Sozialen Medien geschrieben habe.

Wie weit wir den Begriff letztlich fassen wollen, ist eng mit weiteren philosophischen Fragen verbunden: Wo liegen die Grenzen meiner Person? Sprechen wir von unserer Privatheit oder unserer Privatsphäre, so muss es um etwas gehen, das in einem relevanten Sinne zu uns gehört. Was zu einer Person gehört, nenne ich auch einen Aspekt dieser Person. Was wir als zu uns gehörend verstehen, ist zweifellos in mancher Hinsicht vom kulturellen Kontext abhängig.

Als Kern dessen, was zu uns gehört, betrachten wir unseren Körper, phänomenologisch gesprochen: unseren Leib. Der Körper ist deshalb das Paradigma dessen, was zu uns gehört, und der Begriff des Körpers scheint sich deshalb als Metapher für Privatheit und ihre Bedrohung selbst in digitalen Zusammenhängen zu eignen. Diese Metapher ist jedoch insofern problematisch, als verschiedene Beziehungen des Zugehörens nicht hinreichend unterschieden werden. Mein Körper ist für mich als Subjekt konstitutiv. Ob wir das von Sacheigentum und jeglichen Informationen über uns im selben Sinne sagen sollen, bezweifle ich entschieden.

Ich kann mich jedenfalls hinsichtlich eines Aspektes, der zu mir gehört, in Privatheit befinden, während dies hinsichtlich eines anderen nicht der Fall ist. Und zu verschiedenen Zeitpunkten kann sich dies selbstverständlich auch ändern. Außerdem ist „Privatheit“ damit auf verschiedene Gegenüber relativiert. Obwohl ich mich Ihnen gegenüber hinsichtlich meiner Mail jetzt in Privatheit befinde, tue ich dies gegenüber dem Adressaten, der mittlerweile die Mail gelesen hat, nicht. Wer darüber hinaus noch Zugang genommen hat, weiß ich nicht. Wo ein Weg des Zugangs, da leider häufig auch ein Wille.

Dieser Zugang kann unterschiedlicher Art sein: Wir sprechen in der Privatheitstheorie von informationeller Privatheit, wenn das jeweilige Gegenüber keinen informationellen Zugang hat. Damit ist gemeint, dass es über bestimmte Aspekte nichts weiß. Von physischer Privatheit wird üblicherweise gesprochen, wenn das Gegenüber keinen physischen Zugang hat, d. h. bestimmte Aspekte nicht sinnlich wahrnehmen kann (sehen, hören, riechen, schmecken, tasten). Da es in diesem Themenschwerpunkt um Nichtwissen gehen soll, werde ich mich auf den informationellen Zugang beschränken.

Der Ausdruck „Privatheit“ ist ein deskriptiver, neutraler Ausdruck. Er ist hilfreich, weil wir oft eben nur aussagen wollen, dass Zugänge gegeben sind oder eben nicht. Werden neue Zugänge genommen, verlieren wir Privatheit. Warum gilt es zu betonen, dass es sich bei „Privatheit“ um einen deskriptiven Ausdruck handelt? Es ist wichtig, weil Fragen nach der Beurteilung solcher Privatheitszustände gänzlich offene Fragen sind. Es ist offen, ob es beispielsweise moralisch geboten ist, Privatheit aufrechtzuerhalten oder zu beenden. Also: Zustände der Privatheit sind nicht schon für sich genommen wertvoll.

Privatheitskontrolle: Ich gehe nun zur Privatheitskontrolle über. Oft geht es uns nicht so sehr darum, dass andere etwas über uns nicht wissen oder erfahren dürfen, sondern vielmehr darum, kontrollieren zu können, wer etwas weiß und wer nicht. Es geht uns um Privatheitskontrolle. Diese Kontrolle ist noch nicht gefährdet, wenn jemand auf WhatsApp Ihren Status einsehen kann, sondern erst, wenn Sie darüber keine Kontrolle mehr haben. Diese Kontrolle kann tatsächlich bestehen, dann haben sie deskriptive Kontrolle. Wenn Ihnen Kontrolle normativ zugestanden wird, spreche ich von normativer Privatheitskontrolle. Laden Sie jemanden zu sich nach Hause ein und kommt der oder die andere dieser Einladung nach, so büßen sie zwar bestimmte Privatheitszustände ein, üben ihre normative und deskriptive Privatheitskontrolle jedoch nur aus, ohne sie zu verlieren.

Wir brauchen uns nicht entscheiden, welche Definition nun die richtige ist. Wichtig ist zu wissen, wovon man spricht und die Problemlage sprachlich auseinanderhalten zu können.

Wir können zudem die Menge jener Aspekte, hinsichtlich deren sich jemand in Privatheit befindet oder über welche jemand Privatheitskontrolle hat, problemlos als Privatsphären bezeichnen. Verstehen Sie meinen Titel ab jetzt als: Sinn und Wert „der“ Privatheit mit „der“ in Anführungszeichen und „Privatheit“ sehr weit gefasst.

3. Der Wert „der“ Privatheit

Eine allgemeine Antwort auf die Frage: „Wie wertvoll ist Privatheit?“ wird es nicht geben. Es braucht weitere Bestimmungen, um die Frage der Bewertung überhaupt sinnvoll stellen zu können. Welcher Umgang mit Privatheit verhindert, dass Menschen ernsthafter Schaden zugefügt wird, und welcher unterstützt ein gutes, gelingendes Leben? Ich werde dies hier für Beispiele aus zwei Bereichen beleuchten: Zum einen Privatheit im politischen Bereich und zum anderen Privatheit im sogenannten „Privatleben“.

3.1 Wert von Privatheit im politischen Bereich

Mit Privatheit können wir im politischen Bereich in zahllosen Zusammenhängen konfrontiert werden. Ich werde mich auf Beziehungen, die zwischen Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat bestehen, beschränken. In diesem Zusammenhang von Privatheit oder Privatsphäre zu sprechen, wird den meisten von ihnen vertraut sein. Es handelt sich um ein Hauptfeld, auf dem ein öffentlicher von einem privaten Bereich abgegrenzt wird. Chinas Sozialkreditsystem liegt auf diesem Feld.

3.1.1 Gefahr für Leib und Leben

Die Möglichkeit eines Staates, auf Informationen über seine Bürgerinnen und Bürger und deren Kommunikation untereinander Zugang zu nehmen, kann insbesondere in Diktaturen oder Zeiten des Umbruchs für Regimegegnerinnen und -gegner lebensbedrohlich werden. Dies wurde trotz der Euphorie einer Facebook- oder Twitter-Revolution im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ deutlich und wird in China wieder besonders dringlich. Als Problemlage ist dies an sich nicht neu. Neu sind jedoch die Überwachungsmöglichkeiten und damit die Möglichkeiten, politische Meinungen Bürgerinnen und Bürgern zuzuordnen und Kommunikationsnetzwerke herauszufinden. Staaten haben trotz aller Rede von der Unkontrollierbarkeit des Netzes auch ihnen bisher nicht zur Verfügung stehende Überwachungsmöglichkeiten. Wo Soziale Medien und weitere Kommunikationsformen zum politischen Engagement genutzt werden, geht es um Privatheit im Sinne von Privatheitskontrolle im normativen und deskriptiven Sinne. Dass Informationen weitergegeben werden, dass Austausch stattfindet, ist ja der Zweck solcher Dienste. In Frage steht, ob staatliche Stellen diese Kommunikation überwachen dürfen. Für Privatheitskontrolle für die Bürgerinnen und Bürger spricht aus moralischer Perspektive zunächst der Schutz vor Gewalt oder gar Tod. Hier geht es um das umfangreiche Macht- und Machtmissbrauchspotenzial von Staaten, auch demokratischen. Die Macht westlicher Staaten ist durch das Gewaltmonopol ungleich stärker als die von Unternehmen; ihr ist somit ein gesicherter Bereich des „staatlichen Nichtwissens“ entgegenzusetzen

3.1.2 Privatperson

Aber selbst dort, wo keine solchen extremen Gefahren drohen, gehört zum Fundament einer liberalen Demokratie, Bürgern und Bürgerinnen einen Raum zu gewähren, auf den der Staat außer in klar umrissenen Ausnahmefällen keinen Zugang nehmen darf. Dies geschieht zum einen, weil es im Sinne der Herrschaftsbeschränkung Lebensbereiche gibt, in denen Bürgerinnen und Bürger nicht mit politischen Belangen befasst sind. Sie haben in liberalen Demokratien hier dem Staat gegenüber einen Privatbereich, in dem sie ohne staatliche Überwachung ihren Privatangelegenheiten nachgehen können. Ein solcher Freiheitsraum gegenüber der staatlichen Gewalt findet sich u. a. in Gesellschaftstheorien von Hobbes, Locke, Mill oder Kant. (Vgl. Hotter 2011) Dennoch will ich darauf hinweisen, dass die feministische Theorie zu Recht eine bestimmte Konzeption eines Rechts auf Privatheit in diesem Sinne kritisiert hat. In den Worten der Philosophin Catharine MacKinnon lautet die Kritik: „[The] right of privacy is a right of men ‘to be let alone’ to oppress women one at a time.” (MacKinnon 1989, 194) Diese Kritik bedeutet jedoch keine Fundamentalabsage an Privatheit in anderen Zusammenhängen.

3.1.3 Politischer „Privatraum“

In vielen Problemkonstellationen in der Informationsethik geraten Rechte auf Privatheit mit Rechten auf freie Meinungsäußerung in Konflikt. Hier geht es hingegen darum, dass ein Schutz der Privatheit indirekt diese Freiheiten stützt.Ich verweise hier mit vielen anderen auf den sogenannten chilling effect, das heißt,dass man das politische Engagement sein lässt, wenn die Gefahren zu groß werden. Auch Demokratien sind hier vor Informationsmissbrauch nicht geschützt. Und politische Systeme ändern sich, Daten bleiben gespeichert.

Privatheitskontrolle ist in diesem Kontext ein instrumentelles Gut. Privatheitsschutz ist hier ein Mittel zum Zwecke der Ausübung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wenn sich die empirischen Zusammenhänge tatsächlich so darstellen, wovon ich hier ausgehe, werden durch mangelnden Schutz der Privatheitskontrolle diese Freiheiten zwar nicht normativ eingeschränkt, jedoch wird die Wahrscheinlichkeit geringer, dass Bürger(innen) ihnen gewährte Freiheiten auch nutzen.

3.1.4 Respekt und verändertes Selbstverständnis

Abgesehen von instrumentellen Begründungen gilt es auch die Frage von Respekt zu beleuchten. In einer Demokratie gilt eine Bürgerin oder ein Bürger als mündige Bürgerin oder mündiger Bürger, die bzw. der grundsätzlich als vertrauenswürdig zu gelten hat und in dieser Hinsicht zu respektieren ist. Manche Formen der Überwachung versagen diesen Respekt, weshalb diese Formen als respektlos zu betrachten sind. Vorratsdatenspeicherung kann in dieser Perspektive nicht einfach nur als Sicherheitsmaßname gelten.

Der Zusammenhang zwischen Respekt und Demokratie reicht jedoch noch tiefer. Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht als vertrauenswürdige Personen behandelt werden, kann dies auf lange Sicht sogar ihr Selbstverständnis als Citoyen oder Citoyenne untergraben. Sie sind in diesem Fall nicht lediglich nicht mehr bereit, ihre politischen Freiheiten zu nutzen, sondern sie sind letztlich dazu unfähig. Wer kein Selbstverständnis als mündige, vertrauenswürdige Bürgerin ausgebildet oder dieses verloren hat, kann auch nicht als solche agieren. Wir lassen bislang auch keine Zufallskontrollen in Wohnungen zu, um gegen Gewalt in diesem Lebensumfeld vorzugehen. Der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll nicht zuletzt diese Grundpfeiler stützen. Eine liberale Demokratie ist eine komplexe Praxisform. Wenn wir sie schützen wollen, müssen wir bestimmte Privatheitskontrollen gewähren. Anders gesprochen: Wer eine liberale Demokratie als moralisch positiv bewertet, muss auch bestimmte Privatheitskontrollen so beurteilen.

3.2 Wert von Privatheit im „Privatleben“

Ich komme nun zum Wert von Privatheit im schon traditionell so genannten „Privatleben“. Dieses wird so bezeichnet, weil es entweder als dem Zugang durch den Staat entzogen verstanden wird oder dem Zugang einer sozialen, wenn auch nicht staatlichen Öffentlichkeit. Auch innerhalb dieses Bereichs gibt es Formen von Privatheit, die unter bestimmten Voraussetzungen aus moralischer Sicht als wertvoll zu gelten haben, weil sie z. B. emotionale und sexuelle Intimität schützen. Betrachten wir zunächst Fragen der Selbstenthüllung.

3.2.1 Selbstenthüllung

Das Internet hat spätestens mit den Sozialen Medien eine Reihe von Möglichkeiten geschaffen, Aspekte seiner selbst einer breiteren Öffentlichkeit mitzuteilen, als dies vorher nicht nur möglich, sondern auch als moralisch angebracht erachtet wurde.

Klagen über einen falschen Umgang mit Privatheit durch die Internetnutzerinnen und -nutzern begleiten das Internet spätestens seit seiner Popularisierung durch das Web. Jennifer Ringley erregte ab 1996 Aufsehen, als sie über eine Life-Web-Cam 24 Stunden unzensierten Zugang zu ihrer Wohnung (einschließlich ihres Schlafzimmers) gewährte. (JenniCam) (Heute lebt sie im Übrigen sehr zurückgezogen.) Wer meint, der physische oder informationelle Zugang zu nackten Körpern und Aktivitäten, die üblicherweise in Schlafzimmern stattfinden, sei allen außer engen Bezugspersonen verboten und dieses Verbot könnte auch selbst die betroffene Person nicht aufheben, urteilt auf dieser Grundlage, diese Zurschaustellung sei moralisch abzulehnen. Sie versagen einer Person somit normative Privatheitskontrolle.

Eineliberale Moral wird davon abweichend Privatheit hier als normative Privatheitskontrolle verstehen. Für sie gibt es keinen privatheitsbezogenen Grund, diese Angebote zu beklagen, und seien sie noch so intim, solange man die Zugangnahme verweigern kann. Selbiges gilt für alle Informationen, die Nutzerinnen und Nutzer von Sozialen Medien selbst und wissentlich über sich preisgeben.

3.2.2 Privatheit und persönliche Beziehungen

Anerkannte Argumente für normative Privatheitskontrolle im Privatleben betreffen hingegen den Wert persönlicher Beziehungen. Es gibt gute Gründe dafür, dass es bestimmte Privatheitskontrollen braucht, um persönliche Beziehungen eingehen und aufrechterhalten zu können. Denken wir an Freundschafts- und Liebesbeziehungen, zumindest von der Art, wie wir sie kennen. In diese Richtung argumentiert Charles Fried(Fried 1968 und 1970). Nur wenn man Informationen über eigene Handlungen, Ansichten, Emotionen oder Intimes nicht mit beliebigen anderen teilen muss, können Liebes- und Freundschaftsbeziehungen entstehen. Denn diese Beziehungen sind zum Teil dadurch bestimmt, eben auf dieses grundsätzlich zugestandene Vorenthalten zu verzichten.

Zudem lassen sich nur mit dieser normativen Privatheitskontrolle verschiedene Grade von Intimität und Freundschaft aufbauen. Dies muss jedoch nicht an allen Orten und Zeiten erlaubt sein. Dort, wo ein Dienst sich als ein solcher Raum ausgibt, besteht jedoch ein Prima-facie-Anspruch, diese Kontrolle gewährt zu bekommen. In dieser Hinsicht ist es beispielsweise interessant, was es bedeutet, dass Facebook nun von einem öffentlichen Raum zu einem digitalen Wohnzimmer werden soll. (Siehe z. B. unter https://www.haz.de/Nachrichten/Wirtschaft/Deutschland-Welt/Kommentar-Lieber-kein-Wohnzimmer-bei-Facebook) Aber Menschen sind mittlerweile bereit, sich die Überwachung selbst ins Wohnzimmer zu holen, wie die Sprachassistenten Alexa & Co ebenso zeigen.

In persönlichen Beziehungen wird enthüllt, was nicht jedem oder jeder zugänglich gemacht werden will. Aus diesem Grunde sind auch die Normen, das Offenbarte nicht nach außen zu tragen, besonders stark. Umso größer sind das Entsetzen und auch der Verrat, wenn dies trotzdem passiert.

4. Schlussbemerkungen

Wenn wir nun abschließend bedenken, in wie vielen Zusammenhängen und in wie unterschiedlicher Weise sinnvollerweise von Privatheit gesprochen werden kann, ist Privatheit, anders als die eingangs zitierte Julia Schramm unterstellt, sicherlich (noch) nicht verloren. Wenn Menschen wissen, wie wertvoll manche Formen der Privatheit für sie als Einzelne und bestimmte Gesellschaftsformen sind, werden sie diese auch nicht so schnell aufgeben. Soviel wir auch zwitschern, für einen Abgesang auf die Privatheit ist es jedenfalls zu früh.

Den moralischen Wert bestimmter Privatheiten zu erkennen heißt nicht, bisherige Formen vor Veränderung schützen zu müssen. Dass sich Grenzen verschieben, kann auch begrüßenswert sein. Vielleicht finden wir andere Formen, können auf die eine oder andere auch liebend gern verzichten. Nicht jede Informationsweitergabe ist eine Katastrophe. Nicht immer ist es naiv, sich nicht bedroht zu fühlen.

Vielleicht haben die Menschen mittlerweile etwas verstanden, denn Datenschutz gilt, wie eingangs erwähnt, als der nächste Megatrend im Silicon Valley. Wie auch immer dieser Trend sich auswirken wird, so ist doch ersichtlich, dass die Debatte um die negativen und positiven Aspekte von Nichtwissen weitergeführt werden muss.


Anne Siegetsleitner ist Professorin für Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der Angewandten Ethik, insbesondere der Bio- und Informationsethik, sowie der Praktischen Philosophie des Wiener Kreises.


Literatur

  • [ohne Autor] 2011: „Internet-Exhibitionisten ‚Spackeria‘: Privatsphäre ist sowas von Eighties.“ Interview mit Julia Schramm. Spiegel Online, 10.03.2011. Letzter Zugriff: 12.03.2014. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/internet-exhibitionisten-spackeria-privatsphaere-ist-sowas-von-eighties-a-749831.html
  • Fried, C. 1968: “Privacy”, in: The Yale Law Journal 77, 475–493.
  • Fried, C. 1970: An Anatomy of Values: Problems of Personal and Social Choice. Harvard University Press.
  • Gerstein, R. S. 1978: “Intimacy and Privacy”, in: Ethics 89, 76–81.
  • Heller, Christian 2011: Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre. München: Beck.
  • Hotter, M. 2011: Privatsphäre – der Wandel eines liberalen Rechts im Zeitalter des Internets. Frankfurt/Main: Campus.
  • MacKinnon, C. 1989: Toward a Feminist Theory of the State.Cambridge/Mass., London: Harvard University Press.
  • Siegetsleitner, A. 2001: E-Mail im Internet und Privatheitsrechte. Freiburg, München: Alber.
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