Wie erkennt man Pseudowissenschaften? (Teil 1)
von Nikil Mukerji (München)
Die Wissenschaft ist eine wichtige gesellschaftliche Institution. Sie hilft uns, unsere eigene Existenz und unsere Natur als Menschen besser zu verstehen. Sie fördert Fakten zutage, auf deren Grundlage Innovation und technischer Fortschritt stattfinden kann. Sie liefert uns aber auch eine sachliche Grundlage für die politische Debatte und die öffentliche Diskussionen über wichtige gesellschaftliche Fragen. Hier sind Fakten wichtig! Wenn wir nicht wissen, von welchen gesellschaftlichen Bedingungen wir ausgehen und wie politische Maßnahmen wirken, haben wir kaum eine Chance, zufrieden stellende Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden. Deswegen müssen wir die Wissenschaft als gesellschaftliche Institution verteidigen und sie gegen Scharlatanerie und Humbug abgrenzen, bei der es sich um keine echte Wissenschaft handelt, sondern nur um Pseudowissenschaft. Aber wie erkennt man Pseudowissenschaft? Um diese Frage geht es mir hier.
Die Debatte im Anschluss an die Arbeiten des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper zeigt, wie schwer es ist, eine präzise, grundlegende und philosophisch haltbare Antwort auf diese Frage zu geben. Popper war der Meinung, man erkenne Pseudowissenschaften an ihren Aussagen. Denn die seien nicht falsifizierbar (Popper 1935). Damit ist gemeint, dass sich keine empirischen Umstände angeben lassen, unter denen die Aussage als falsch eingestuft würde. Bei diesem Kriterium handelt es sich allerdings nicht um eine hinreichende Bedingung für Pseudowissenschaft.[1] Disziplinen wie die Astrologie oder die Homöopathie, bei denen es sich offensichtlich um Pseudowissenschaften handelt, treffen schließlich Vorhersagen, die man testen und widerlegen kann.
Heute ist weitgehend anerkannt, dass es eine Vielzahl von Vergleichsdimensionen gibt, die für die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft eine Rolle spielen.[2] Und in allen diesen Vergleichsdimensionen gibt es verschiedene Aspekte, die relevant sind. Poppers Falsifikationskriterium bezieht sich nur auf eine solche Vergleichsdimension – nämlich wissenschaftliche Aussagen. Sie ignoriert jedoch andere, die wichtig erscheinen. Martin Mahner nennt die folgenden: „statements, problems, methods, theories, practices, historical sequences of theories and/or practices (i.e., research programs in the sense of Lakatos), and fields of knowledge.“ (Mahner 2013, 32) Interessanterweise enthält diese (ansonsten sehr hilfreiche) Liste einen Aspekt nicht explizit: die Argumente bzw. Argumentationen, die in den Pseudowissenschaften anzutreffen sind.[3] Mir geht es im Folgenden um genau diesen Aspekt. Ich halte es für plausibel, dass man Pseudowissenschaften vor allem daran erkennt, wie sie argumentieren. Ihre Argumentationen, so meine Hypothese, versündigen sich an zehn Grundsätzen, die ich „Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands“ (Mukerji 2017) nenne.[4] Im Folgenden möchte ich diese 10 Gebote vorstellen und anhand von Beispielen erklären, wie sich daraus kritische Fragen formulieren lassen, mit denen man Pseudowissenschaften auf die Schliche kommen kann. Aufgrund der gebotenen Kürze kann ich die Konzeption des gesunden Menschenverstands, die ich zugrunde lege, natürlich nur skizzieren.
Frage 1: Wird überhaupt argumentiert?
Das erste Gebot des gesunden Menschenverstands lautet: Bringen Sie Ordnung in Ihr Denken! Um dieses Gebot zu erfüllen, brauchen Sie zunächst eine Fragestellung. Erst wenn Sie die haben, können Sie sie durch eine These beantworten und mithilfe von Gründen stützen. Diesen Prozess nennt man Argumentation. Wer das erste Gebot verletzt, denkt und argumentiert strenggenommen überhaupt nicht, sondern assoziiert bestenfalls. Pseudowissenschaften kann man manchmal daran erkennen, dass sie das tun. Die erste Testfrage, die wir stellen sollten, lautet also: Wird überhaupt argumentiert?
Zugegeben: die meisten Pseudowissenschaften scheitern nicht am ersten Gebot. Dem Wünschelrutengänger ist z.B. klar, mit welcher Frage er sich befasst („Wie finde ich Wasseradern?“). Er hat auch eine These, die auf diese Frage antwortet („Mit der Wünschelrute.“), und einen Grund dafür („Weil ich das oft probiert habe, und es funktioniert!“). Aber es gibt Disziplinen, die einen wissenschaftlichen Anspruch vertreten und bei denen wir bereits die erste Testfrage negativ beantworten müssten. Das trifft zweifelsohne auf manche Bereiche in den Geisteswissenschaften zu. Hier werden Texte produziert, in denen viel gesagt wird, ohne dass klar ist, um welche Fragestellung es im Kern geht, was die zentrale These ist und wie die Argumentation genau läuft. Das mag mitunter an der aufgeplusterten Darstellung liegen. Aber bisweilen beschleicht mich der Eindruck, dass die Autoren gewisser Texte – und ich formuliere das bewusst vage, um mich in meinem eigenen Fachbereich nicht unbeliebt zu machen – einfach nicht wissen, was sie sagen wollen.[5] Das ist aus meiner Sicht ein Anzeichen dafür, dass sie Pseudowissenschaft betreiben!
Frage 2: Gibt es Lücken in der Argumentation?
Das zweite Gebot des gesunden Menschenverstands lautet: Denken Sie lückenlos! Das bedeutet (ins Grobe gesprochen), dass Sie nicht direkt von A auf Z schließen sollen, sondern von A auf B, von B auf C usw. – bis Sie schließlich bei Z angekommen sind. Dieses Gebot ist wichtig, weil auch ordentliches Denken dem gesunden Menschenverstand widersprechen kann, wenn es problematische Lücken enthält.
Das zweite Gebot formuliert einen Anspruch, der – strenggenommen – nur in der Mathematik und Logik eingelöst werden kann. Bei der Beantwortung empirischer Fragen gibt es immer Lücken, die man durch weitere Argumentationsschritte schließen könnte. Wenn ein Forscher Messwerte erhebt und diese vermerkt, könnte man z.B. monieren, dass er sein Messegerät nicht vor jeder einzelnen Messung geeicht hat. Das erschiene allerdings kleinlich. Denn bestimmte Schritte darf man überspringen. Andere jedoch sind eminent wichtig. Sie darf man auf keinen Fall überspringen. Welche Schritte sind das? Um das zu erkennen, ist eine gewisse Kenntnis des jeweiligen Fachbereichs nötig. Wir wissen z.B., dass wir bei der Erhebung experimenteller Daten von Versuchsteilnehmern auf eine ordnungsgemäße Verblindung achten müssen. Wer den Schritt der Verblindung überspringt, der macht unter Umständen alle möglichen sonderbaren Entdeckungen. So lässt sich z.B. feststellen, dass Pferde Rechenaufgaben lösen können oder dass wirkstofffreie Präparate wirken. Halten wir also fest: Problematische Lücken in der Argumentation können darauf hinweisen, dass wir es mit einer Pseudowissenschaft zu tun haben!
Frage 3: Wird mit unglaubwürdigen Annahmen gearbeitet?
Das dritte Gebot des gesunden Menschenverstands lautet: Treffen Sie glaubwürdige Annahmen! Dieses Gebot ist notwendig, weil auch ordentliches, lückenloses Denken zu absurden Schlussfolgerungen führen kann, wenn man von zweifelhaften Annahmen ausgeht.
Was erfordert das dritte Gebot konkret? Zumindest, dass Sie nichts annehmen sollten, das mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen in Konflikt steht. Sie sollten einerseits keine zweifelsfrei erwiesenen Tatsachen bestreiten, z.B. dass die Masern-Erkrankung durch den Virus mit dem ICTVdB Code 01.048.1.02.001 verursacht wird. Andererseits sollten Sie nichts erwiesenermaßen Falsches behaupten, etwa dass die Erde 6000 Jahre alt ist. Wenn jemand solche Dinge behauptet, dann ist das ein Anzeichen dafür, dass er einer pseudowissenschaftlichen Lehre anhängt!
Frage 4: Wird die Beweislast illegitim verschoben?
Ob es gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse mit Blick auf eine bestimmte Frage gibt, lässt sich in der Regel bereits durch eine Wikipedia-Suche klären. Was aber, wenn zu einer bestimmten Frage gar keine wissenschaftlich gesicherten Fakten vorliegen? Dann können Sie den gerade beschriebenen Gedankengang gar nicht anwenden. In diesem Fall hilft das vierte Gebot des gesunden Menschenverstands: Fragen Sie nach der Beweislast! Das bedeutet, Sie sollen klären, wer in einer Debatte die argumentative Verantwortung trägt und ob dieser Verantwortung Genüge getan wurde. Dabei sollten Sie eine Regel beachten: Wer einen Standpunkt behauptet, der trägt dafür auch die Beweislast. Oder – in den Worten von Christopher Hitchens – „(…) what can be asserted without evidence can also be dismissed without evidence.“ (Hitchens 2003) Das leuchtet unmittelbar ein. Wir können unendlich viel behaupten, und praktisch alles davon ist falsch. Ich schaue z.B. im Moment aus meinem Fenster, und dort steht ein Baum. Der trägt eine bestimmte Anzahl von Blättern. Die meisten Aussagen, die man über die Anzahl der Blätter treffen könnte, wären falsch. Es gibt nur ein enges Spektrum an Zahlen, die man als näherungsweise korrekt durchgehen lassen sollte. Wenn jemand ohne empirische Belege behauptet, es seien etwa 72.000 Blätter, dann muss ich meinen Zweifel daran nicht begründen. Denn das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal näherungsweise korrekt. Es könnten auch 59.000 oder 203.000 sein.
Soviel zum vierten Gebot. Nun zur Frage, wie wir damit Pseudowissenschaften erkennen können. Das ist ganz einfach: Wir achten darauf, wer die Beweislast trägt und ob er sie erfüllt.[6] Vertreter von Pseudowissenschaften versuchen häufig, ihre Beweislast ohne Angabe von Gründen auf ihre Kritiker zu verschieben. Sie behaupten etwas Abenteuerliches und fordern jeden, der skeptisch bleibt, auf, das Gegenteil zu beweisen. Darauf sollten wir achten!
Frage 5: Gibt es unklare Aussagen?
Wie kann man Pseudowissenschaften noch erkennen? Einen Anhaltspunkt gibt uns die Rückführung des Attributes „pseudo“ auf seinen sprachgeschichtlichen Ursprung. „Pseudo“ kommt vom altgriechischen Wort „pseúdein“ (ψεύδειν), was so viel bedeutet wie „täuschen“. Und dieser Aspekt ist in der Tat Teil der Bedeutung des Wortes „Pseudowissenschaft“. Denn eine Pseudowissenschaft ist eine Disziplin, die unwissenschaftlich ist, aber Wissenschaftlichkeit vortäuscht. Wie macht man das? Messapparaturen und Labore helfen sicherlich. Weiße Kittel auch. Aber es geht noch einfacher: Wer wirken möchte wie ein Wissenschaftler, ohne einer zu sein, der sollte sich bemühen unverständlich zu sprechen! Viele Pseudowissenschaftler machen das. Sie sprechen in unverständlichem Jargon, den Laien leicht mit echter Wissenschaftssprache verwechseln können. Sie verwenden Wörter, die typischerweise in den Wissenschaften verwendet werden, z.B. „Energie“ oder „Quantum“. Anders als Wissenschaftler erklären sie solche Begriffe jedoch nicht, sondern verwenden sie lediglich, um ihre Adressaten zu blenden. Diese Strategie hat einen Namen: „bullshitting“ (vgl. Frankfurt 2005)! Wenn Sie ein deutsches Wort vorziehen, können Sie auch von „Verkackeierung“ sprechen. Nach Einschätzung des Wissenschaftsphilosophen James Ladyman ist dieser Strategie ein wesentliches Charakteristikum von Pseudowissenschaften (vgl. Ladyman 2013). Um Pseudowissenschaften zu erkennen, sollten Sie sich also fragen: Werde ich gerade mithilfe hochtrabender Begriffe verkackeiert? Wenn ja, dann wird das fünfte Gebote des gesunden Menschenverstands verletzt, das Klarheit und Präzision erfordert.
[Fortsetzung hier.]
Nikil Mukerji hat Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in München, Aberdeen und Auckland studiert. Forschungs- und Lehrtätigkeiten an der LMU München seit 2014. Seit 2015 Lehrtätiger für die Veranstaltung „Risiko“ im PPW-Studiengang. Arbeitsgebiete: normative und angewandte Ethik, Rationalitäts- und Entscheidungstheorie, politische Philosophie, Argumentationstheorie und experimentelle Philosophie. Buch-Publikationen (Auswahl): Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands (2017), Einführung in die experimentelle Philosophie (2016).
Der Text wurde zuerst veröffentlicht in: Skeptiker 2/2017, 60-66. Wir danken für die Genehmigung, ihn hier online zu veröffentlichen.
Endnoten
[1] Eine notwendige Voraussetzung stellt Poppers Falsifikationskriterium offenbar auch nicht dar, zumindest wenn man positive Existenzaussagen wie etwa „Es gibt schwarze Löcher im Universum.“ als wissenschaftliche Aussagen gelten lassen möchte. Denn die sind nicht widerlegbar.
[2] Die von Massimo Pigliucci und Maarten Boudry herausgegebene Aufsatzsammlung Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem (Chicago, 2013) gibt einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Stand der Debatte.
[3] Allerdings weist Mahner in der darauffolgenden Liste von Prüfkriterien (S. 38-39) auf einige Aspekte hin, die die Argumentation in den Pseudowissenschaften betreffen.
[4] Martin Mahner wies mich darauf hin, dass man diese Hypothese empirisch testen müsste. Hier geht es mir jedoch lediglich darum, meine Hypothese klar zu formulieren.
[5] Die Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont haben in ihrem Buch Fashionble Nonsense (1998) interessantes Anschauungsmaterial zusammengetragen, das in dieser Hinsicht relevant ist.
[6] In Kap. 4 meines Buches Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands (2017) bespreche ich die Regeln für die Zuschreibung von Beweislast explizit.
Literatur
Frankfurt, H. (2005): On Bullshit. Princeton University Press, Princeton. (Deutsche Ausgabe: Bullshit. Suhrkamp, Frankfurt/Main, 2014, übersetzt von Michael Bischoff.)
Hitchens, C. (2003): „Mommie Dearest“, Slate, 20. Oktober 2015. Online verfügbar unten: http://goo.gl/efSMV (Zugriff am 27.03.2017).
Ladyman, J. (2013): „Toward a Demarcation of Science from Pseudoscience.“ In: Pigliucci, M.; Boudry, M. (Hrsg.): Philosophy of Pseudoscience. Chicago: Chicago University Press, Chicago, S. 45-60.
Mahner, M. (2013): „Science and Pseudoscience – How to Demarcate after the (Alleged) Demise of the Demarcation Problem.“ In: Pigliucci, M.; Boudry, M. (Hrsg.): Philosophy of Pseudoscience. Chicago University Press, Chicago, S. 29-44.
Mukerji, N. (2017): Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands. Springer, Berlin/Heidelberg.
Popper, K. (1935): Logik der Forschung. Julius Springer, Wien.