Warum die Ethikdiskurse der Sozialen Arbeit im Schlamassel stecken
Von Carmen Kaminsky, Köln
Soziale Arbeit ist nicht länger nur der Oberbegriff für soziale Berufe. Soziale Arbeit ist der Name für ein Fach, das eine Profession und eine wissenschaftliche Disziplin umfasst. Die Entwicklung vom Berufsfeld zum Fach Soziale Arbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend fachintern vollzogen und ist noch nicht ganz abgeschlossen. Der breiteren Öffentlichkeit wie auch den Wissenschaften und vor allem den sozialpolitischen Entscheidungsträgern blieb der fachinterne Entwicklungsprozess weitgehend verborgen. Worum es sich bei der Sozialen Arbeit – wenn nicht nur um ein Berufsfeld – genauer handelt, ist für Außenstehende deshalb noch unverständlich. Es fehlt noch die mit dem fachlichen Selbstverständnis kohärente Außenwahrnehmung der nunmehr großgeschriebenen Sozialen Arbeit.
Die seit etwa der Jahrtausendwende virulenten Thematisierungen von Ethik und Sozialer Arbeit betreffen vorwiegend diesen Kontext: Sie kreisen um das Selbstverständnis und die Selbstbehauptung des Fachs Soziale Arbeit und lassen sich heuristisch in zwei Diskursstränge separieren. Ein Diskursstrang fokussiert die ethisch-moralischen und ethisch-rechtlichen Bedingungen der Legitimierung Sozialer Arbeit. Dieser Diskurs ist im Wesentlichen ein Rechtfertigungsdiskurs. In dem anderen Strang geht es um Fragen der Legitimität, das heißt um die Anerkennungswürdigkeit und damit um fundamentale Begründungen Sozialer Arbeit. Zum normativen Schlamassel kommt es an den Schnittstellen beider Diskurse.
Beide Diskursstränge haben in Folge der durch die IFWS veröffentlichten Global Definition of Social Work[1] im Jahre 2014 und dem Global Social Work Statement of Ethical Principles[2] im Jahre 2018 wenn nicht ihr vorläufiges Ende gefunden, so doch einen einschlägigen Paradigmenwechsel erfahren. Als orientierender Bezugspunkt der laufenden Ethik-Diskurse Sozialer Arbeit gilt seither das in der Global Definition folgendermaßen formulierte fachliche Selbstverständnis:
“Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities are central to social work. Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledges, social workengages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing. The above definition may be amplified at national and/or regional levels.”
Die zwei Diskurslinien verlaufen zumeist unter Bezugnahme auf diese Definition und sind iterativ miteinander verwoben. Fachinterne Beratungen über die Berufsethik Sozialer Arbeit bestehen seither vor allem in gesellschafts- bzw. kulturadäquaten Auslegungen und Konkretisierungen der von der IFSW formulierten Prinzipien. Und mit Bezug auf die professionsethische Legitimität Sozialer Arbeit kaprizieren sich die Debatten darauf, das vollmundig formulierte Selbstverständnis näher zu begründen. Die Auffassung, es handle sich bei der Sozialen Arbeit um eine „Menschenrechtsprofession“, ist in diesem Zusammenhang gängig geworden, aber nicht kritiklos geblieben.
Kritik kommt aus verschiedenen Richtungen und bezieht sich auf unterschiedliche Aspekte. Im interkulturellen Zusammenhang wird kritisiert, es handle sich um eine in westlich imperialistischer Manier formulierte Auffassung Sozialer Arbeit, die zu wenig berücksichtigt, in welcher Weise sich entsprechend helfende Tätigkeiten in anderen Kulturen fundiert haben.[3]
Eine andere Kritik beklagt, dass im postulierten Selbstverständnis Fragen nach den spezifischeren anthropologischen und gesellschaftstheoretischen Grundlagen Sozialer Arbeit offenbleiben.[4] Woran orientiert die Soziale Arbeit beispielsweise ihre Vorstellungen vom „wellbeing“, das sie zu fördern beabsichtigt? Damit verbunden ist die ebenfalls in kritischer Absicht formulierte Frage nach der funktionalen Relationalität der Sozialen Arbeit. Denn die Definition der IFSW lässt weitgehend unbeantwortet, wie sich Soziale Arbeit im Verhältnis zum sie umgebenden Staat und den darin etablierten anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen versteht.
Angesichts der Bedeutsamkeit dieser kritischen Einwände ist zu bezweifeln, dass sich die Soziale Arbeit mit der Orientierung an den Vorgaben der IFSW einen Gefallen tut. Von Standpunkten außerhalb der Profession scheint sie sich damit eher Spott und Skepsis einzuhandeln. Spott deshalb, weil sie es unterlässt, sich hinsichtlich ihrer Legitimität den Begründungsanforderungen eines interdisziplinären Diskurses auszusetzen und stattdessen auf die Durchsetzung eines Mehrheitsbeschlusses sinnt. Dieser scheint in der vorliegenden Form auch nur deshalb zustande gekommen zu sein, weil sich die Mehrheit der an den Beratungen der IFWS beteiligten Sozialarbeiter*innen mit den ethisch-moralischen Grundlagen identifiziert, die moderne westliche Gesellschaften prägen und den Boden für die Entwicklung Sozialer Arbeit vom Berufsfeld zum Fach bereitet haben.
Skepsis kommt auf, weil sich die Soziale Arbeit damit begnügt, unablässig zu betonen, wie sehr sie zu den sozialen Kommoditäten der Lebensverhältnisse in diesen Gesellschaften beigetragen hat und beiträgt. Dabei übersieht sie, dass dies gar nicht bezweifelt wird und die Einschätzung ihrer Anerkennungswürdigkeit an anderem hängt, und zwar nicht zuletzt an der Frage, in welchem Verhältnis die Profession Soziale Arbeit zu anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen steht.
Bei der Explikation ihres Standpunkts entgeht der Sozialen Arbeit offenbar, dass sie diesen Standpunkt und die damit verknüpfte Praxis in ein begründetes, relationales Verhältnis mit anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen bringen muss, wenn sie ihre Vertrauenswürdigkeit (Legitimation) und Anerkennungswürdigkeit (Legitimität) unter Beweis stellen will.
Ohne eine kohärente und konsistente normative Theorie wird ihr dies allerdings nicht gelingen und genau darin besteht der normative Schlamassel der Sozialen Arbeit. Das Fach Soziale Arbeit sollte nicht dabei verbleiben, sein Selbstverständnis nur im Rahmen einer gewissermaßen adaptierten Ethik per identifikatorischem Mehrheitsbeschluss zu entwickeln. Nichts anderes tut es aber, wenn es sich an der Definition der IFSW orientiert. Das darin enthaltene Bekenntnis zur Idee individueller Menschenwürde und zu Menschenrechten sowie sozialer Gerechtigkeit als höchsten Strebenszielen ist zwar für sich genommen nicht zu kritisieren. Es bleibt mit Bezug auf den spezifischen Gegenstand und die Zuständigkeit Sozialer Arbeit aber konturlos. Solange die Soziale Arbeit diese Kontur nicht expliziert, wird sie weiterhin ausschließlich als Berufsfeld angesehen werden, das in den Gesellschaften, zu denen ihr bekenntnishaft formuliertes Ethos passt, zweifellos nicht nur zugelassen, sondern auch gewollt ist. – Aber sie wird eben nicht als Profession wahrgenommen werden.
Historisch gesehen bleibt sich die Soziale Arbeit dabei insofern treu, als sie ihre Praxis stets unter normativer Orientierung an den Ideen und Leitbegriffen der sie jeweils umgebenden Machtverhältnisse ausgerichtet hat.[5] Wenn sie nun aber, durch strenge Orientierung an dem von der IFSW vorgelegten Selbstverständnis, implizit von sich behauptet, sie verfüge über einen allen anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen überlegenen Zugang zum sozialen und individuellen Wohlergehen, wird man sie kritisch im Blick und im Zaum behalten müssen.
Von den um das Selbstverständnis Sozialer Arbeit kreisenden Ethik-Diskursen ist jedenfalls nicht zu erwarten, dass sie die Stellung des Fachs festigen. Wie schon gesagt, bedarf es dafür einer normativen Theorie, und zwar einer, die auch begründet expliziert, wofür sich die Soziale Arbeit als nicht zuständig versteht und somit funktional begrenzt. Innerfachliche Debatten zu dieser Frage haben noch keine Fahrt aufgenommen. Bis es soweit ist, dass sich das Fach Soziale Arbeit aus seinem normativen Schlamassel befreit, wird es also noch etwas dauern.
Derweil darf jedoch nicht übersehen werden, was zu den gesamtgesellschaftlich geführten Ethik-Diskursen von Seiten der Sozialen Arbeit beigetragen wird. Im Gegenteil sind diese Beiträge besonders ernst zu nehmen, weil die sozialen Dimensionen konkret auftauchender ethisch-moralischer Problematiken erst in der Perspektive Sozialer Arbeit sichtbar werden. Keine andere Profession und keine andere Wissenschaft verfügen über einen vergleichbaren Einblick in die alltagsweltlichen Ausprägungen und systemische Struktur der Probleme, die im Rahmen der anwendungsbezogenen Ethik gelöst bzw. bewältigt werden sollen. Welche Interessenkonstellationen im konkreten ethisch-moralischen Begründungsdiskurs zu bedenken sind, wird also erst durch die aus der Perspektive Sozialer Arbeit formulierten Beiträge vollends deutlich.[6]
In anwendungsbezogenen Ethikdiskursen auf die Einsichten der Sozialen Arbeit zu verzichten, ihre Beiträge nicht einzuladen oder sie gar zu ignorieren, bedeutet, einen Fehler in der Sache zu begehen. Dass dies zu schwerwiegenden sozialen Folgeproblemen führen kann, hat sich beispielsweise im Kontext der Corona-Krise gezeigt. Hätte die Perspektive Sozialer Arbeit in der Akutsituation größere Aufmerksamkeit und mehr Gewicht erhalten, wäre die Schädigung mancher Bevölkerungsgruppen – besonders von Kindern und Jugendlichen – wohl weitaus milder ausgefallen. Im Nachhinein lässt sich darüber nur spekulieren.
Sicher ist jedoch, dass die Soziale Arbeit einen besonders geschärften Blick auf die wunden Punkte des sozialen Miteinanders wirft. Wie sich regulierende politische Maßnahmen auf die alltägliche Lebensführung bestimmter Personengruppen auswirken, mit welchem Leid sie konfrontiert werden und wie dies zu vermeiden wäre, wird erst in der Perspektive Sozialer Arbeit deutlich. Ein anwendungsbezogener Ethikdiskurs, der diese Perspektive ausblendet, ist demnach unvollständig. Und mehr als dies läuft er Gefahr, sich selbst ethisch-moralisch schuldig zu machen, weil er bedeutsame Aspekte der jeweils zu bedenkenden Problematik nicht thematisiert.
Eine vertretbare Lösung gesamtgesellschaftlich relevanter ethisch-moralischer Probleme liegt zwar nicht maßgeblich bei der Sozialen Arbeit, sie kann aber auch nicht ohne sie erfolgen. Die Beteiligung Sozialer Arbeit an der gesamtgesellschaftlichen Verständigung über konkrete ethisch-moralische Probleme ist also unverzichtbar. Zugleich ist sie aber auch nur eingeschränkt möglich und hierin liegt ein weiterer Aspekt des Schlamassels, in dem die Soziale Arbeit steckt.
Denn weil die Soziale Arbeit noch nicht als ein Fach wahrgenommen wird bzw. werden kann, erhalten ihre Diskursbeiträge nicht das Gewicht, das ihnen im Grunde gebührt. Unter der Bedingung, nur als ein Berufsfeld zu erscheinen, sind die Diskursbeiträge Sozialer Arbeit nicht mehr und auch nicht weniger als Beiträge von Spezialistinnen und Spezialisten für bestimmte, thematisch eingeschränkte Facetten der jeweils reflektierten ethisch-moralischen Problemstellung. Als solche sollten sie gehört und in der weiteren Auseinandersetzung berücksichtigt werden.
Weitaus mehr Gewicht wäre ihnen aber beizumessen, wenn sie als Auffassungen von Expertinnen und Experten für einen gesellschaftlich relevanten Funktionsbereich aufträten; ihnen käme dann kategoriale Bedeutung zu. Und zwar eine Bedeutsamkeit, die sich aus dem allgemeinen Interesse an der Funktionstüchtigkeit des gesellschaftlichen Ganzen speist. Dies setzt aber wiederum voraus, dass das Fach Soziale Arbeit genauer klärt, worin seine Zuständigkeit besteht, wodurch sie veranlasst ist und wie weit sie reicht.
Eine normative Theorie zu explizieren, mit der das professionsethische Selbstverständnis des Fachs Soziale Arbeit erfasst wird, ist sicherlich Sache des Fachs. Auf der anderen Seite darf aber nicht übersehen werden, dass es im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt, die Gegenstände, Expertisen und Zuständigkeiten Sozialer Arbeit genauer zu erfassen. Hieraus ergibt sich eine Aufgabe für Moralphilosoph*innen, die sich mit Angewandter Ethik befassen. Nicht um den fachinternen, normativen Diskurs Sozialer Arbeit zu dominieren, sondern um ihn zu stärken, sind sie herausgefordert, sich den noch offenen Fragen kritisch-konstruktiv zu widmen.
Denn es spricht Vieles dafür, die Weltsicht und Tätigkeit des Fachs Soziale Arbeit als essentiellen, funktional unverzichtbaren Teil unserer Gesellschaft zu betrachten. Wie dieser Teil konzeptionell und begrifflich zu verorten ist, wenn nicht nur als berufliche versierte Exekutive des Sozialstaats, verlangt nicht zuletzt auch einer philosophischen Klärung. Dass sich die Ethik-Diskurse Sozialer Arbeit aus ihrem Schlamassel befreien, liegt keineswegs nur im eigentlichen Interesse des Fachs. Wahrnehmen und verorten zu können, was aus dem ehemaligen Berufsfeld Soziale Arbeit geworden ist, liegt im allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Interesse.
Weil die Soziale Arbeit wie kein anderes Fach die wunden Punkte an den alltäglichen Schnittstellen der sozialen Verhältnisse und individuellen Lebensführungen in den Blick nimmt, darf sie im Hinblick auf ihre normative Aufklärung nicht ohne Unterstützung bleiben. Mit dem Ziel, unsere modernen demokratischen, freiheitlich rechtlichen und an Wohlfahrt orientierten Gesellschaften zu festigen, muss es darum gehen, den Funktionsbereich des Fachs Soziale Arbeit genauer zu verstehen. Die praktische Philosophie ist prädestiniert, daran mitzuwirken, sodass die Ethik-Diskurse der Sozialen Arbeit dann schließlich als das wahrgenommen werden können, was sie im Grunde sind, nämlich maßgebliche bereichsethische Beiträge zur Bewältigung von ethisch-moralischen Problemen unseres Miteinanders.
Carmen Kaminsky ist Professorin für Sozialphilosophie und Ethik an der Technischen Hochschule Köln. Forschungsschwerpunkte: Angewandte Ethik, Ethik Sozialer Arbeit, Kultur und Ethik der Digitalität. Publikation zum Thema: Kaminsky, Carmen [2018]: Soziale Arbeit – normative Theorie und Professionsethik.
[1] International Federation of Social Workers, [2014]: Global Definition of Social Work. https://www.ifsw.org/what-is-social-work/global-definition-of-social-work/ (aufgerufen am 25.07.2024)
[2] International Federation of Social Workers [2018]: Global Social Work Statement of ethical Principles. https://www.ifsw.org/global-social-work-statement-of-ethical-principles/ (aufgerufen am 25.07.2024)
[3] Siehe hierzu Staub-Bernasconi, Silvia [2029]: Menschenwürde – Menschenrechte – Soziale Arbeit. Die Menschenrechte vom Kopf auf die Füße stellen. Verlag Barbara Budrich: Opladen, Berlin, Toronto; S. 101 ff.
[4] Siehe hierzu Kaminsky, Carmen [2018]: Soziale Arbeit – normative Theorie und Professionsethik. Verlag Barbara Budrich: Opladen, Berlin, Toronto; S.61ff.
[5] Vgl. Lob-Hüdepohl, Andreas [2007]: „Berufliche Soziale Arbeit und die ethische Reflexion ihrer Beziehungs- und Organisationsformen“, in: ders. u. Walter Lesch (Hg.): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch. Ferdinand Schöningh: Paderborn, München, Wien, Zürich. S. 113-161. S. 125.
[6] In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auf das seit 2013 regelmäßig online erscheinende EthikJournal hinzuweisen. Siehe: https://www.ethikjournal.de/ (aufgerufen am 25.07.2024)