
Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe
Von Anna Varga-Jani (Piliscsaba und Budapest)
Mit diesem Satz erklärte Thomas von Aquin seine Ohnmacht vor dem Abschluss der Schrift der Summa theologica kurz vor seinem Tod nach dem Gottesdienst am Nikolaustag im Jahr 1273; er starb unterwegs zum zweiten Konzil von Lyon im Kloster Fossanova am 7. März 1274. Inwiefern macht diese Sprachlosigkeit vor seinen visionären Einsichten seine Schriften für die Rezeptionsgeschichte noch wichtiger? Mit einer kurzen Übersicht der Thomas-Renaissancen des vergangenen Jahrhunderts möchte ich an die Aktualität seiner Schriften erinnern.
Edith Stein, die spätere Heilige Teresia Benedikta vom Kreuz, Mitpatronin Europas, hat vor rund hundert Jahre, im Jahr 1925, mit der Übersetzung von Thomas von Aquins Questiones disputatae de veritate begonnen (Vgl. Edith Stein, Übersetzungen IV: Thomas von Aquin, Über die Wahrheit – Questiones disputatae e veritate, ESGA 23/24, Freiburg i. Br.: Herder 2008). Der Grund für die Übersetzung war ein zweifacher: einerseits Thomas von Aquins im deutschen Sprachraum wenig bekannte Questiones in eine moderne Sprache zu übertragen, und andererseits unter dem Einfluss der Enzyklika Studiorum ducem von Pius XI., die im Jahr 1923 dem 600. Jahrestag der Heiligsprechung des Thomas von Aquin gewidmet wurde, den Geist Thomas von Aquins dem gegenwärtigen philosophischen Denken gegenüberzustellen. Der Jesuit Erich Przywara, der Edith Stein mit der Übersetzung beauftragt hat, berichtete am zehnten Todestag von Edith Stein über das mit Stein vereinbarte Doppelziel der Arbeit, die derzeit herrschende Strömung der „Phänomenologie Edmund Husserls und die Philosophie und Theologie Thomas‘ von Aquin Aug in Aug zueinander zu stellen“ (vgl. E. Przywara, „Edith Stein. Zu ihrem zehnten Todestag“. In. Ders. In und Gegen, Nürnberg 1955, 63.). Die Enzyklika Studiorum ducem greift auf die Enzyklika Aeterni patris (1879) von Leo XIII. zurück, der die Philosophiestudien in den Priesterseminaren anhand von Thomas von Aquins Lehre vorangetrieben hat. Durch die Thomas-Jahre vor hundert Jahren baute sich eine neue Welle der neuthomistischen Strömung auf, deren Wirkung auch Przywara beeinflusst hat. Stein hat sein Werk Analogia entis (1932) sorgfältig studiert, um Inspirationen für die Auseinandersetzung zwischen dem zeitgenössischen Denken und dem von Thomas von Aquin zu schöpfen.
In Przywaras Werk traf Stein zum ersten Mal auf den Begriff „philosophia perennis“ und fing an, in einem größeren System der Philosophie zu denken. Ihr Hauptwerk aus dem Jahr 1936, Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (ESGA 11/12, Herder 2010) setzt sich zum Ziel, die Ergebnisse der Konferenz in Juvisy im Jahr 1932 in wissenschaftlicher Form aufzuarbeiten. An der Konferenz mit dem Titel „Phänomenologie und ihre Bedeutung für die Neuscholastik“ nahm Edith Stein auf Empfehlung von Erich Przywara und des Benediktiners Daniel Feuling sowie auf Einladung von Martin Grabmann als Expertin für zeitgenössische Phänomenologie mit den bedeutendsten Neoscholastikern der Zeit – etwa Roland Gosselin, Étienne Gilson, Pierre Mandonett, Daniel Feuling, Jacques Maritain – teil. Die Diskussionen richteten sich primär auf eine Definition des Begriffs „christliche Philosophie“, die Stein in ihrem Hauptwerk in drei Dimensionen erklärt: Im ersten Sinn unterscheidet sich die christliche Philosophie nicht von der Theologie, und in diesem Sinn sieht Stein sie als Fortsetzung des Denkens der Kirchenlehrer. Im zweiten Sinn anerkennt die christliche Philosophie den Glauben als eine Form der Erkenntnis. Im dritten Sinn bedeutet die christliche Philosophie die mittelalterliche Philosophie, die einen unglaublichen Einfluss auf das Christentum entwickelt hat.
Edith Stein scheint die zweite und dritte Dimension vor Augen zu haben, wenn sie die wichtigste Bedeutung der christlichen Philosophie in der „philosophia perennis“verortet, die im Sinne der Enzyklika Aeterni patris mit der gegenwärtigen philosophischen Denkrichtung in Diskurs treten kann und neben der Vernunft eine alternative Erkenntnisform des Glaubens bietet. In ihrer Argumentation für den Sinn und die Möglichkeit einer christlichen Philosophie schließt Stein in ihrem Werk Endliches und ewiges Sein an Thomas von Aquins Summa contra gentiles an und begründet den Sinn der christlichen Philosophie durch die Offenheit der Vernunft für die Glaubenswahrheiten: Es gibt nämlich zwei Wege zur Wahrheit, einerseits über die natürliche Vernunft und andererseits über den Glauben, und es sei die Aufgabe der christlichen Philosophie, als „philosophia perennis“,alle Wahrheitssuchenden zur Wahrheit des Glaubens zu führen. Auf Grund von Thomas von Aquins Summa theologica unterscheidet Stein die theologischen Offenbarungswahrheiten von der Erkenntniswahrheit der natürlichen Vernunft und verortet die Bedeutung der christlichen Philosophie in einer Brückenfunktion zwischen Gläubigen und Ungläubigen.
Stein bezieht sich nicht oft und meist nicht offen auf ihre eigene Übersetzung der De veritate, eindeutig ist aber, dass sie über Thomas von Aquins Einsicht zum Glauben als Erkenntnisakt stark beeinflusst wurde. Wenn Thomas in der De veritate Questio XIV den Glauben mit dem Willen verbindet und diesen als Grundlage der Hoffnung versteht, dann ist der Glaube für Stein das „dunkle Licht“, das „uns etwas zu verstehen“ gibt, aber nur, um uns auf etwas hinzuweisen, was für uns unfasslich bleibt“ (vgl. ESGA 11/12, 32). In der De veritate beschreibt Thomas das Licht des Glaubens auch mit der Einsicht in die übernatürliche Erkenntnis, die „von Natur aus unsere Erkenntnis übersteigt“ (ESGA 23, 387). Wissen wird mit Sehen identifiziert, so wird der Wille durch das objektiv Greifbare motiviert und damit die Erkenntnis mit dem Sehen verbunden. Wenn der Glaube – so argumentiert Thomas gegenüber Hugo St. Victor – eine Gewissheit des Geistes bezüglich abwesender Dinge ist, die höher steht als die Meinung und tiefer als das Wissen, dann ist er der Beweis für das Nicht-Erscheinende (Vgl. ESGA 23, 389). Stein denkt Thomas von Aquins Lehre über den Glauben als Erkenntnisakt der Offenbarungswahrheiten so weiter, dass sie unter Berufung auf Summa contra gentiles die Aufgabe der christlichen Philosophie in der Thematisierung der göttlichen Wahrheiten sieht, die mit der vernünftigen Begreifung dessen, was das dunkle Licht des Glaubens beleuchtet, eine Brücke zwischen Gläubigen und Ungläubigen baut. Weil der Glaube der höchsten Wahrheit Gottes zustrebt – schreibt Stein ausgehend von Thomas von Aquins De veritate –, die nicht nach logischen Gesetzen aus unmittelbar einleuchtenden Wahrheiten abgeleitet werden kann, wird der Glaube als dunkles Licht bezeichnet, das die höchste Wahrheit begreift, ohne zu sehen (vgl. ESGA 11/12, 35). In dieser Hinsicht soll die christliche Philosophie Wegbereiterin des Glaubens sein, da sie auf der natürlichen Vernunft aufbaut, und so, wie es „Thomas so sehr am Herzen gelegen“ war, „ein Stück gemeinsamen Weges mit den Ungläubigen ergibt“ (vgl. ESGA 11/12, 36).
Zwischen dem als Hauptwerk geltenden Endliches und ewiges Sein von Edith Stein und der Enzyklika Fides et ratio von Papst Johannes Paul II., die einen Monat vor der Heiligsprechung Edith Steins im September 1998 veröffentlicht wurde, bestehen mehrere gedankliche Zusammenhänge. Die Enzyklika Fides et ratio regt, anschließend an die Aeterni patris, eine Erneuerung des philosophischen Denkens durch die thomistische Philosophie an und fordert, „das Denken des Doctor Angelicus neu vorzulegen” (Papst Johannes Paul II, Fides et ratio §57). In §58 berichtet der Heilige Vater über jene Ergebnisse, die aus der Weiterentwicklung der thomistischen Denkrichtung folgen, und die zu einem einheitlichen katholischen Denken beitragen, wonach „die einflussreichsten katholischen Theologen dieses Jahrhunderts […] Kinder dieser Erneuerung der thomistischen Philosophie“ sind (Fides et ratio §58). Als Beispiele der fruchtbaren Beziehung zwischen Glaube und Vernunft zitiert der Heilige Vater Belege aus der Philosophiegeschichte und weist auf jene zeitgenössischen Werke hin, die Thomas‘ geistiges Erbe zeitgemäß weiterentwickelt haben; darunter John Henry Newman, Antonio Rosmini, Jacques Maritain, Étienne Gilson und Edith Stein. Diese sind bestrebt, eine christliche Philosophie im Sinne von Thomas von Aquin durch die Art des Philosophierens im christlichen Denken zu verwirklichen und so die Philosophie nicht als feste und dogmatische Wissenschaft zu bestimmen, sondern als eine, die in ständigem Dialog mit ihrer Zeit Erfahrungstatsachen über die Offenbarungswahrheiten erklärt.
Die Regensburger Rede Glaube, Vernunft und Universität (2006) von Papst Benedikt XVI. bringt die Denkrichtung der Enzyklika Fides et ratio thematisch in der Hinsicht weiter, dass es den menschlichen Logos der Glaubenswahrheiten unterstellt und diese durch die Philosophiegeschichte belegt. Nach Einsicht von Papst Benedikt XVI. müssen Vernunft und Glaube auf neue Weise zueinander finden, und zwar so, dass die Theologie nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin fungiert, sondern die Frage nach der Vernunft des Glaubens in ihren weiteren Dialog mit den Wissenschaften einbringt. Die Enzyklika Laudato sí (2015) von Papst Franziskus weist schon mit ihren sozialen und ökologischen Wegweisungen auf die spätere apostolische Konstitution Veritatis gaudium (2017) hin, wo sich Papst Franziskus mehrmals auf die Anweisungen der Enzyklika Fides et ratio beruft und „eine im Licht der Offenbarung mit Weisheit und Kreativität ausgeübte Inter- und Transdisziplinarität” in den kirchlichen Fakultäten fordert (vgl. Apostolische Konstitution Veritatis gaudium über die kirchlichen Universitäten und Fakultäten 4/c). In dieser Hinsicht bezieht sich Papst Franziskus auf die Enzyklika Caritas in veritate von Papst Benedikt XVI., der den menschlichen Logos mit Rücksicht auf das Johannesevangelium unter den göttlichen Logos gestellt hat und dadurch die Voraussetzung für das menschliche Verständnis der göttlichen Wahrheit geschaffen hat.
Die Reden und Erklärungen der letzten drei Heiligen Väter sind keine bloße Theorie, sondern verstärken diejenigen philosophischen Strömungen der Gegenwart, die ihre Denkrichtung aus der neuscholastischen Strömung des 20. Jahrhunderts einerseits und unmittelbar aus Thomas von Aquins Schriften andererseits schöpfen. Gerade die gegenwärtige phänomenologische Denkrichtung folgt der von der religionsphänomenologischen Anschauung geprägten Beschreibung der Gotteserfahrung der frühen Phänomenologen um Edmund Husserl, die versuchten, religionsphänomenologische Erfahrungen mit dem Mittel der reinen Vernunft zu beschreiben.
Unter christlicher Philosophie versteht Jean-Luc Marion auch eine Philosophie, die den Glauben als Quelle der Erkenntnis anerkennt und dadurch mit der Theologie in ständigem Dialog steht. Das Problem der vernünftigen Begreifung der Glaubenswahrheiten verortet Marion auch im “Janusgesicht” des Logos: Indem man versucht, das Gegebene der Transzendentalität durch die Unvollkommenheit der menschlichen Sprache auszudrücken, verliert man unwillkürlich etwas von der Transzendentalität der Erfahrung. In seiner Schrift Mystik – oder: Was die Theologie sehen lassen kann drückt er die Unmöglichkeit der göttlichen Erfahrung durch die philosophische Begreifung aus und weist auf die unterschiedliche Materie des menschlichen und göttlichen Logos hin: „Die Phänomenologie lässt sich ein auf das, was sich zeigt oder sich zeigen müsste, ohne dass wir es schon von vorneherein ausdrücken und beschreiben, ohne dass wir es immer schon sagen könnten. Um zur Sichtbarkeit zu kommen, muss man auch in jene Unsichtbarkeit eindringen, die diese denkbar werden lässt – und zwar auch dann, wenn das, was sich zeigt, ohne sich schon sagen zu lassen, unsagbar bleibt. Dasjenige, worüber man nicht sprechen kann, erfordert sehr viel mehr als unser Schweigen, da es einzig erst erlaubt, Zugang zu finden zu all dem, was sich zeigt.” (Marion, Jean-Luc, „Mystik – oder: Was die Theologie sehen lassen kann”, in: Das Heilige. Die grundlegende Kategorie der Religionsphilosophie = Wiener Jahrbuch für Philosophie XLIX, 73-94, 76.) Wenn Thomas in der De veritate Questio XIV unter dem Schöpfungsakt des göttlichen Logos den Willen zur Liebe versteht – „Da nun das Glauben vom Verstand und vom Willen abhängt, kann ein solcher Akt nur dann vollkommen sein, wenn der Wille durch die Liebe und der Verstand durch den Glauben zur Vollkommenheit geführt ist” (ESGA 23, 404) –, dann schließt Marion in seinen Gifford Lectures (University of Glasgow 2014)anscheinend an Thomas‘ Einsicht an. Er setzt die Erkenntnis der Offenbarung Gottes der Anerkennung der Glaubenswahrheiten voraus, die das Recht der natürlichen Vernunft aufhebt und den Glauben als die innere Überzeugung über den Willen der Liebe versteht: „Ich sehe den Vater nur, wenn ich (im „in unsere Herzen ausgegossenen Heiligen Geist“) Jesus als den Sohn Gottes interpretiere – wenn ich bereit bin, ihn so zu interpretieren. Wir lassen hier keine propositio sufficiens objecti revelati zu, die auch ohne Glauben bekannt ist (et si non credatur), denn ohne die hermeneutische Entscheidung gibt es nichts zu sehen, nichts zu glauben und nichts zu offenbaren. Was die Offenbarung betrifft, so sieht derjenige, der sehen will, ohne glauben zu müssen, nichts.“ (Ich zitiere aus: Jean-Luc Marion, Givenness and Revelation, Oxford 2015, 41-42.) Die Gabe Christi in der Auferstehung – unsere Erlösung – ist ein historischer Akt, gewinnt aber ihren Offenbarungsgehalt nicht von ihrer Geschichtlichkeit, sondern von der Hingabe der Gabe, die den Akt der Liebe vor ihrem existentiellen Aspekt in den Vordergrund stellt. In dieser Hinsicht unterscheidet Marion die zwei Bedeutungen des Logos dadurch, dass der Logos im Sinn Gottes die immer schon gewollte Liebe des Schöpfungsakts bedeutet, der für die menschliche Erkenntnis deswegen nicht erreichbar ist, weil er seinen Gegenstand ständig überschießt.
Der Unterschied zwischen dem „Wort des Herzens“ und dem „inneren Wort“ ist der Unterschied, den der heilige Thomas in Quaestio V 2 der De veritate mit der Unvollkommenheit der Geschöpfebeschreibt: [dass] „die Geschöpfe den Schöpfer nicht vollkommen darstellen können (deficiunt a repraesentatione); und darum können wir durch die Geschöpfe auf keine Weise zu einer vollkommenen Kenntnis des Schöpfers gelangen… und auch wegen der Schwäche unseres Erkenntnisvermögens, das auch nicht all das aus den Geschöpfen über Gott entnehmen kann, was die Geschöpfe von Gott offenbaren. Und so werden wir verhindert, bis zu Ende zu erforschen, was in Gott ist […].“ (Thomas von Aquin, Über die Wahrheit, ESGA 23, V. Questio, 2. Artikel: Wird die Welt durch die Vorsehung gelenkt? 142.)
Es erhebt sich die Frage, ob wir die Schriften Thomas von Aquins tatsächlich verwerfen müssen, weil es auf Grund seiner Einsichten eben eine unmögliche Aufgabe ist, die höchste Wahrheit durch die natürliche Vernunft zu erreichen. Oder beweist sich der Wert seines Werks durch seine starken Rezeptionen? Und: verlangt die Vermittlung der unleugbaren Wahrheit der Offenbarung durch die natürliche Vernunft eine erneute Diskussion seiner Lehre?
Man ist vielleicht nicht bereit und nicht fähig, mit der Vernunft zu begreifen, was Thomas zum Schweigen gebracht hat. Was für die menschliche Vernunft geblieben ist, ist das schrittweise Nachfolgen der Einsicht, dass von dem dunklen Licht des Glaubens durch die Liebe dennoch ein Übergang zur Offenbarungswahrheit möglich ist, dass die göttliche Botschaft des Glaubens eben in dem Paradoxon von Identität und Differenz liegt, dass Gott uns durch die Schöpfung weit mehr Ihm selbst gleich gemacht hat, als Er sich von uns getrennt hat. Das, wovon uns Thomas mit der vernünftigen Logik überzeugt, spiegelt sich in der reinen Welterfahrung wider; und das verleiht seinem Werk dauerhaften Wert.
Anna Varga-Jani ist Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem Makovecz Campus Alapítvány, Collegium Professorum Hungarorum in Piliscsaba, und Lehrbeauftragte an der Sapientia Ordenshochschule für Theologie in Budapest