
Thomas von Aquin 800 Jahre – oder: der Versuch, „mehr als alles“ zu denken
Von Michael Quisinsky (Karlsruhe)
Thomas von Aquin, der vor 800 Jahren geboren wurde, gehört zu den einflussreichsten Denkern, die Philosophie und Theologie bis heute prägen. Dabei ist diese Prägung ausgesprochen vielfältig, oft hintergründig und von verschiedensten geschichtlichen Transformationsprozessen durchzogen.
Ein Beispiel für das Nachwirken des Aquinaten: bei dem, was Thomas „bonum commune“ nennt und wir heute mit „Gemeinwohl“ übersetzen, gibt es Traditionslinien in den gegenwärtigen sozialethischen Diskurs hinein. Obwohl es hinsichtlich dieses Begriffs und der damit gemeinten Sache durchaus Meinungsunterschiede gibt, ist doch die Aktualität des Anliegens nicht zu bestreiten: Angesichts von Hyperindividualisierung, zunehmender Fremdenfeindlichkeit und Politikstrategien nationaler Präferenz ist das gute Leben und Zusammenleben aller im Lokalen wie im Globalen in neuer Weise zur zentralen Herausforderung geworden.
Es wäre aufschlussreich, die wirkungsgeschichtliche Bedeutung des Thomas für Philosophie und Theologie anhand vieler Einzelaspekte aufzuzählen. Von den Gottesbeweisen bis zur Metaphysik, von der Aristoteles-Rezeption des Thomas bis zur Thomas-Rezeption durch die Jahrhunderte hindurch sind viele Entwicklungslinien auszumachen. Auch manches Überraschende und Widerspenstige ließe sich da anführen. So konnten etwa Denkfiguren des Thomas, der im 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche in Stellung gegen die aus Reformation und Aufklärung hervorgegangene Welt gebracht wurde, im 20. Jahrhundert in geradezu entgegengesetzter Dynamik zu einer positiven Verhältnisbestimmung von Glaube und zeitgenössischem Denken beitragen. Ein entscheidender Punkt dabei war die historische Einordnung des Thomas, die das Potential seiner theologischen Grundintuitionen und -positionen freilegte. Gerade gegenläufig ist ein derzeit nicht zuletzt in den USA zu beobachtender antimoderner (Neu-)Thomismus mit entsprechenden politischen Affinitäten. Wer freilich Thomas nicht als Kind seiner Zeit, sondern als gleichsam der Zeit entrückte Quelle philosophischer oder theologischer Wahrheit betrachtet, handelt sich nicht nur aus der Zeit gefallene Aussagen ein, etwa wenn Thomas eine zu seiner Zeit übliche, heute aber nicht mehr haltbare Unterordnung der Frau unter den Mann als selbstverständlich erachtet. Man wird in einer solch unhistorischen Lesart auch so manche Pointe übersehen, die nicht nur in den Antworten des Aquinaten enthalten sind, sondern bereits in seinen Fragen und Herangehensweisen an diese.
Thomas lebte in einer Welt, in der Philosophie und Theologie zusammengedacht wurden. Gottesglaube war mehr oder weniger selbstverständlich, das Weltbild aus heutiger Sicht geradezu überschaubar. Ob und inwiefern in einer daraus folgenden Gesamtschau und ihrer theologischen Deutung eine mögliche Loslösung philosophischen Denkens von der Gottesfrage bereits angelegt ist, könnte eigens diskutiert werden. Aber selbst wenn dem so wäre, bliebe eine Inspiration lebendig, die der Thomaskenner Jacques Maritain mit der Formel „distinguer pour unir“[1] ausgedrückt hat: „unterscheiden, um zu einen“. M.a.W. ist die strenge Differenzierung von Wissensbeständen und Kenntnisweisen nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Zugleich aber ist kein Wissensbestand und keine Kenntnisweise isoliert zu betrachten, sondern sie sind jeweils aufeinander zu beziehen. Dies ist freilich ungeheuer komplex und wird es mit zunehmender Wissensmenge immer mehr. Dass vor diesem Hintergrund heute eine Flucht in Vereinfachungen und Einseitigkeiten, aber auch in isolierte Hyperspezialisierung zu beobachten ist, kann man einerseits verstehen. Von Philosophie und Theologie des Thomas von Aquin her kann man dabei aber andererseits auf keinen Fall stehen bleiben.
Ich möchte dies an der Diskussion illustrieren, die sich um den Aufbau des wohl berühmtesten und wichtigsten Werks des Thomas entzündet hat, nämlich der Summa theologiae. Im Jahre 1939 – es war eine Zeit vielfältiger philosophischer, theologischer und auch politischer Debatten um Thomas und Thomismen – veröffentliche der französische Dominikanerpater und Theologiegeschichtler Marie-Dominique Chenu einen Aufsatz mit dem Titel „Le plan de la Somme théologique de Saint Thomas d‘Aquin“[2]. Darin vertrat er etwas vereinfacht gesagt die These, dass Thomas sein Werk in Aufnahme und Umwandlung des neuplatonischen Egress-Regress-Schemas konzipiert habe, indem er zunächst den Ausgang der Welt aus Gott (prima pars), sodann ihre Rückkehr zu Gott (secunda pars) und schließlich die Art und Weise dieser Bewegung von Gott her auf Gott zu in Jesus Christus (tertia pars) behandelt. Wiederum etwas vereinfacht gesagt war diese Vorgehensweise an der Schnittstelle von Philosophie und Theologie anschlussfähig für eine christliche Deutung der Wirklichkeit zwischen ihrem Wovonher (theologisch: „Schöpfung“) und ihrem Woraufhin (theologisch: „Erlösung“) mit dem Christusereignis als Kriterium („Inkarnation“). M.a.W. war es möglich eine „Geschichtstheologie“ zu entwickeln, die auch philosophische Fragen und Perspektiven berücksichtigen wollte und dabei sowohl die Eigenständigkeit alles Geschichtlichen wie auch die Gegenwart Gottes in der Geschichte zusammenzudenken versuchte. Der Tübinger Fundamentaltheologe Max Seckler entfaltete Chenus These und fasste sie als „Geschichtsformel“ des Thomas zusammen: „Von Gott durch die Geschichte zu Gott zurück“[3]. Der Hamburger Ökumeniker und Thomasforscher Otto Hermann Pesch ergänzte mit Blick auf Leben, Botschaft und Sterben Jesu: „Von Gott durch die Welt zurück zu Gott durch Jesus Christus – den Gekreuzigten“[4].
Jede Art von Geschichtstheologie ist natürlich diversen Missverständnissen ausgesetzt. Pesch wies in diesem Sinn beispielsweise daraufhin, dass Thomas gerade aufgrund des „Rahmens“, den er für ein Denken von Geschichte ermöglichte, keine „Geschichtsverlaufstheologie“[5] angestrebt habe. Folglich geht es nicht darum, eine Abfolge göttlicher Interventionen und Initiativen zu diagnostizieren oder irdischen Ereignissen unmittelbare göttliche Qualität zuzusprechen. Andererseits ist es eine durchaus knifflige Frage, wie sich eine „jenseitige“ Wirklichkeit zur „diesseitigen“ verhält. Natürlich stellt sich diese Frage zunächst einmal glaubenden Menschen. Sie ist aber insofern auch eine philosophische Frage, als das Nachdenken über Grund, Wesen und Ziel von Wirklichkeit und damit auch über Geschichtlichkeit und Geschichte nicht einfach an den Grenzen dessen haltmacht, was der menschliche Geist zu erfassen in der Lage ist.
Wir haben uns angewöhnt, vom Ende der großen Erzählungen auszugehen. Dafür gibt es gute Gründe. Zu komplex ist bereits jede einzelne Situation in ihren Implikationen und Konsequenzen, als dass ihr Zusammenhang im Rahmen von „Geschichte“ irgendwie zu fassen wäre. Hinzu kommen vielfältige Diskussionen um Begriff und Sache von „Geschichte“, die ihrerseits nur eine Art Ausschnitt dessen in den Blick nimmt, was wir als „Realität“ bezeichnen. Thomas von Aquin hat hier eine Intuition, die Pesch folgendermaßen ausdrückt: „Jeder Augenblick steht gleichsam unter der Punktlichtlampe Gottes, insofern jeder Augenblick Ereignis ist auf dem geschichtlichen Weg, der immer nur Weg von Gott her und zu ihm sein kann.“[6] Anders gesagt: wer davon ausgeht oder sich zumindest der Möglichkeit nicht verschließt, dass die menschlich wahrnehmbare Wirklichkeit göttlichen Ursprungs ist und göttlicher Fülle harrt, muss zwei Logiken ineinanderblenden. Der ersten Logik zufolge ist es aus menschlicher Sicht unmöglich, nicht innerhalb des Horizonts von geschichtlichen Abläufen, Folgen, Zusammenhängen etc. zu denken, wenngleich die Konstruktion von Geschichtsdeutung Hand in Hand geht mit deren Dekonstruktion – und umgekehrt. Der zweiten Logik zufolge aber ist es ebenso unmöglich, die mit „Gott“ bezeichnete Dimension nur innerhalb dieses Horizonts zu denken, wenngleich diese Dimension nur im Modus von Analogie zur Sprache kommen kann (vgl. Viertes Laterankonzil 1215). Wer also meint, dass jeder Moment unmittelbar zu Gott ist, versucht die Unmöglichkeit von „großen Erzählungen“ zu verbinden mit der Möglichkeit einer „je größeren Erzählung“.
Just dies wiederum scheint eine zentrale Intuition des Thomas von Aquin zu sein, die heute Philosophie und Theologie ganz neu ins Gespräch über die Wirklichkeit und deren Erkenntnis bringen kann. Auf der einen Seite gilt es, die Wirklichkeit mit allen dem menschlichen Denken zur Verfügung stehenden Mitteln zu verstehen, m.a.W. so realistisch wie nur irgend möglich zu sein. Auf der anderen Seite gilt es, gerade aufgrund dieses Realismus die Wirklichkeit nicht eingrenzend begreifen zu wollen, sondern entgrenzend, also bis an die Grenzen des Wissens zu gehen und dabei zu berücksichtigen, dass die Grenzen des Wissens nicht Grenzen der Wirklichkeit sind. Selbstverständlich sollte man nicht zuviel zu wissen meinen von dem, was „jenseits“ des Wissens liegt. Zugleich ist es aber für ein „diesseitiges“ Wissen durchaus relevant, ob und – wenn ja – welche Vorstellung von dem, was über das Wissen hinausgeht, man bei dessen Bewertung zugrundelegt. Wer beispielsweise davon ausgeht, dass allen Menschen ein „Jenseits“ in Gottes Lebensfülle offensteht, der wird im „Diesseits“ sein Heil nicht in geschlossenen Türen und Grenzen suchen. Vielmehr wird er oder sie auf die Frage nach einem „Heil“ gestoßen, das für die eigene und gemeinschaftliche Lebenspraxis Perspektiven eröffnet. So entsteht eine Haltung des Lebens und Denkens, die Geschichtlichkeit und Geschichte bei aller Unergründlichkeit und auch Absurdität nicht fatalistisch betrachtet, sondern im Modus der Hoffnung.
Woher in unserer Welt die Hoffnung nehmen? Die tertia pars der Summa, die den Weg von Gott zu Gott durch Christus beschreibt, verweist auf einen Anspruch des christlichen Glaubens, der nicht nur Christ:innen herausfordert. Die Glaubensaussage (Nichtchrist:innen können auch sagen: die Behauptung) der Inkarnation, also der Mensch- bzw. Fleischwerdung Gottes, beansprucht, Gott und Welt, Heil und Geschichte, Einzelne und Alle im Sinne eines „distinguer pour unir“ zusammenzudenken. Dieser Anspruch hat über die Jahrhunderte hinweg zu denkerischen Höchstleistungen mit Blick auf die Frage nach Wirklichkeit und Wissensmöglichkeit, Differenzierungskunst und Deutungskompetenz beigetragen. Wie auch immer man sich dazu verhält: mit Jesus Christus und denen, die ihm nachfolgen, ist dieser Anspruch in der Welt und prägt diese. Der mit Jesus Christus gegebene Anspruch beinhaltet die Hoffnung auf ein „mehr als alles“, in deren Licht die Realität schonungslos, aber eben nicht erbarmungslos betrachtet werden kann.[7]
800 Jahre nach Thomas wäre es alles andere als einfach, eine „Summa theologiae“ auf der philosophischen Höhe der Zeit zu schreiben. Noch weniger einfach ist es aber auf Dauer, philosophisch und dann auch theologisch auf das von ihr Intendierte zu verzichten – Wirklichkeit verstehen zu wollen und dabei dem Verstehen einen Rahmen zu geben, der durch seinen Nachvollzug ebenso wie durch seine Ausgestaltung stets überstiegen wird.
Michael Quisinsky ist Professor für Systematische Theologie und ihre Didaktik am Institut für Katholische Theologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, er ist außerdem editor-in-chief der ET-Studies. Jüngere Publikation u.a.: „Universale Heilsgeschichte in und aus konkreten Heilsgeschichten. Leben und Denken differenzierter Einheit zwischen personaler Würde und relationaler Ontologie“
[1] Jacques Maritain, Distinguer pour unir ou les degrés du savoir, Paris 1932.
[2] Marie-Dominique Chenu, Le plan de la Somme théologique de saint Thomas, in: Revue thomiste 47 (1939), 93-107.
[3] Max Seckler, Das Heil in der Geschichte. Geschichtstheologisches Denken bei Thomas von Aquin, München 1964, 29
[4] Otto Hermann Pesch, Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung, Mainz 31995
[5] Ebd., 314.
[6] Ebd., 316.
[7] Vgl. auch Michael Quisinsky, Die Inkarnation – „nur ein Faktum”?! Christlicher Realismus jenseits des Faktischen und Postfaktischen, in: Karlheinz Ruhstorfer (Hg.), Zwischen Progression und Regression. Streit um den Weg der katholischen Kirche, Freiburg 2019, 184-205.