10 Dez

Der Mensch und das Tier. Wer ist der Mensch?

von Sarah Tietz (Bremen)


Tiere haben uns Menschen schon immer interessiert. Schon immer wollten wir wissen, wie sich Hunde, Hasen, Pferde, Schafe oder Bienen verhalten, weil wir diese und andere Tiere nutzen: zur Jagd, zur Zucht, zum Hüten, zum Essen oder einfach nur zur privaten Haltung. In all diesen Fällen ist es hilfreich, die Eigenarten von Tieren zu kennen.

Wir studieren Tierverhalten aber nicht nur, um Tiere nutzen zu können. Ein Klick auf youtube, und es wimmelt von dokumentierenden Tiervideos: Videos von Tieren im Regenwald, Tieren im Wasser, Tieren in der Wüste oder Tieren zu Hause. Sie alle erfreuen sich enormer Klickmengen. Tiere interessieren uns einfach, so wie uns auch vieles andere interessiert.

Die meisten Klickzahlen bekommen allerdings solche Tiervideos, in denen Tiere Verhalten an den Tag legen, das sich exemplarisch bei uns Menschen findet. Mehrere Millionen Klicks haben zum Beispiel Videos von Hunden, die ihre Besitzer nach langer Zeit wieder sehen und dabei eine unbändige Freude zeigen oder solche von allem Anschein nach eifersüchtigen Pferden. Ein Video von Kakadu Max, der nicht in seinen Käfig will und, wie es aussieht, seinen Halter beschimpft, hat gar 22 Millionen Aufrufe und Max einen eigenen Kanal.

In seinem Traité des animaux von 1755 meint der französische Philosoph Étienne Bonnot de Condillac: „Il serait peu curieux de savoir ce que sont les bêtes, si ce n’était pas un moyen de savoir ce que nous sommes.“ (2004, S. 1) Wir interessieren uns demnach für Tiere, weil wir uns für uns selbst interessieren. Was wir wissen wollen, ist, wer wir sind, und zwar vermittelt über die Frage, wer die sind. Was ist es, das uns Menschen auszeichnet? Worin besteht unser menschliches Selbstverständnis? Der Blick auf Tiere hilft uns bei der Beantwortung dieser Frage. Wir sehen dann nämlich nicht nur, was wir mit Tieren gemein haben, sondern auch, was uns von ihnen unterscheidet.

Nun ist klar, dass der Mensch sich von Tieren in vielerlei Hinsicht unterscheidet. Menschen können nicht allein fliegen, auch haben sie keinen langen Rüssel und keine Kiemen. Ihre Knochen sind nicht hohl, und sie haben kein Strickleiternervensystem. Um solche Unterschiede geht es bei der Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis allerdings auch nicht. Es geht bei dieser Frage vielmehr um die Suche nach einer (oder mehreren) Eigenschaft(en), die zwei Bedingungen erfüllt(en): 1. Es handelt sich um eine Eigenschaft, die nur uns Menschen zukommt; 2. Diese Eigenschaft ist derart, dass sie unser Menschsein auf prinzipielle Weise erklärt. Was wir beim Blick auf Tiere also suchen, ist, was der Philosoph Markus Wild die „anthropologische Differenz“ nennt.

Eine seit der Antike immer wieder vertretene These lautet, der Mensch unterscheidet sich in prinzipieller Weise vom Tier dadurch, dass er im Gegensatz zu diesem denkt. Denken, so die These, ist diejenige Eigenschaft des Menschen, die ihn zum einen von allen anderen Wesen unterscheidet, und die ihn zum anderen zu dem macht, was er ist – ein Mensch.

Dass Denken die anthropologische Differenz bestimmt, haben einige der berühmtesten Philosophen behauptet, so zum Beispiel Aristoteles, René Descartes und Immanuel Kant. Dennoch birgt diese These eine erhebliche Schwierigkeit: ihre Überprüfbarkeit. Auf Denken lässt sich nämlich nicht einfach zeigen. Man kann nicht sagen, guck, der denkt, wie man sagen kann, guck, der fährt Fahrrad. Und anders als Fahrrad fahren lässt sich denken einem Wesen auch nicht beibringen, denn denken ist nicht erlernbar. Ein Wesen ist entweder denkend, oder es ist es eben nicht.

Wie erkennt man nun aber, ob ein Wesen denkt? Und wie lässt sich in diesem Zusammenhang die These überprüfen, dass der Mensch und nur der Mensch ein denkendes Wesen sei? Descartes hat zwei Tests vorgeschlagen: Sprache und Handeln. Ein denkendes Wesen muss Descartes zufolge sprechen und handeln können.

Zunächst zur Sprachfähigkeit. Hier schreibt Descartes: „Es ist nämlich eine wirklich bemerkenswerte Tatsache, dass es keine so stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt, nicht einmal Geisteskranke ausgenommen, die nicht fähig wären, verschiedene Wörter miteinander zu verbinden und daraus Aussagen zu bilden, mit denen sie ihre Gedanken zu verstehen geben. Im Gegensatz dazu gibt es kein anderes Lebewesen, (…) das Ähnliches tun könnte.“ (AT VI, 57)

Halten wir zunächst fest, worum es Descartes nicht geht. Ihm geht es nicht um die Fähigkeit des Aussprechens von Wörtern und Sätzen. Das nämlich können Navigationsgeräte auch, und mit Papageien und Elstern gibt es Tiere, denen man das Äußern von Wörtern und Sätzen ebenfalls beibringen kann. Außerdem gibt es Taubstumme, bei denen selbstverständlich niemand auf die Idee kommen würde, sie könnten allein aufgrund ihrer Taubstummheit nicht denken. Worum es Descartes stattdessen geht, ist das kreative Bilden von Zeichenkombinationen. Ihm geht es um den kreativen Umgang mit Sprache, zu dem Menschen fähig sind. Anders als Navigationsgeräte oder Vögel können Menschen Wörter nämlich auf unterschiedliche Weise miteinander verbinden und so unbestimmt viele neue Sätze bilden. Und in Bezug auf Taubstumme meint Descartes, dass sie selbst Zeichen erfinden, durch die sie sich mit ihren Mitmenschen verständigen. Worum es Descartes beim Sprachvermögen also geht, ist Kreativität – und zwar Kreativität im Zeichengebrauch.

Ganz ähnlich beim zweiten Test, dem Handlungsvermögen. Menschen sind nicht an bestimmte Bewegungsmuster gebunden, sondern in der Lage, intelligente und das heißt, unterschiedlichen und unbestimmt vielen neuen Situationen angepasste Handlungen zu vollziehen. Descartes’ Ziel ist es also nicht, bestimmte Handlungen herauszugreifen, um deren besonders gute Ausübung als ein Merkmal von Denken auszuzeichnen. Ganz im Gegenteil. Maschinen zum Beispiel können die Sachen, für die sie konstruiert wurden, in der Regel viel besser und exakter als Menschen. Aber sie können eben nur das und auch nur nach einem festgelegten Schema. Und auch wenn Tiere besser riechen, rennen, sehen oder schwimmen können als Menschen, so können sie eben vor allem jeweils das. Wie beim Sprachvermögen ist also auch beim Handlungsvermögen Kreativität das bestimmende Merkmal.

Es sind einige Einwände, die hiergegen erhoben wurden. Einer der wichtigsten lautet, Descartes zeige lediglich, dass Sprache hinreichend für Denken ist, nicht jedoch, dass sie notwendig ist. Denn Sprachgebrauch soll deshalb ein Zeichen von Denken sein, weil er kreativ ist. Nicht Sprache, sondern, wie gesehen, Kreativität zeichnet Wesen als geistige aus. Und dass Kreativität in nicht-sprachlichen Handlungen aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist, hat Descartes nicht gezeigt. Sein Argument beruht auf seinem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand, und Naturwissenschaften beruhen auf Beobachtungen. Beobachtet jemand also etwas anderes und kann Kreativität in Handlungen von Tieren nachweisen, wäre das Argument widerlegt.

Allerdings ist es keineswegs leicht, Descartes auf diese Weise zu widerlegen. Es ist nämlich keineswegs leicht, überhaupt anhand naturwissenschaftlicher Kenntnisse die Frage zu beantworten, ob Tiere zu kreativen Handlungen in der Lage sind. Denn, und spätestens jetzt begibt man sich zu den grundlegenden Fragestellungen der Philosophie, es herrscht überhaupt keine Einigkeit darüber, was da eigentlich gesehen wird bei der Beobachtung von Tierverhalten. Es muss schließlich zu allererst geklärt werden, was eine Handlung ist, wenn man sie bei einem Wesen identifizieren möchte. Ist ein Verhalten z.B. schon dann eine Handlung, wenn es fehlerhaft ist und somit offenbar keine reine Reaktion auf einen Reiz (Fred Dretske) oder erst dann, wenn das fehlerhafte Verhalten von dem betreffenden Wesen korrigiert werden kann (Colin Allen)? Oder haben wir es erst in dem Augenblick mit einer Handlung zu tun, wenn sie sich in einem komplexen Gefüge von Handlungen befindet (José Luiz Bermúdez)? Oder schließlich, kann es komplexe Gefüge von Handlungen nur bei sprachfähigen Wesen geben (Donald Davidson)?

Beim Fokus auf Tiere in der Philosophie wird deutlich, dass in diesem Moment damit begonnen wird, grundlegende menschliche Eigenschaften wie zu denken, zu handeln und zu sprechen zur Debatte zu stellen. Hieran schließen sich weitere ebenso grundlegende Fragen: falls Denken keine anthropologische Differenz darstellen sollte und falls es auch sonst keine Eigenschaft geben sollte, die den Menschen auf prinzipielle Weise und nur ihn allein bestimmt, welchen Einfluss hätte dies auf seinen moralischen Status, und welchen Einfluss hätte es auf den moralischen Status von Tieren? Hätten Tiere dann eine Würde? Hätten sie Rechte? Wovon wäre das abhängig? Falls, wie deontologische Ethiken behaupten, vom Denken, hätten dann nur denkende Tiere eine Würde und Rechte? Und falls Tiere Rechte hätten, hätten sie dann auch Pflichten?

Auch wenn sich herausstellen sollte, dass Eigenschaften wie einen moralischen Status zu haben nicht nur uns Menschen zukommen – was derzeit Gegenstand intensiver Debatten ist – , so haben wir auf diese Weise dennoch etwas über uns gelernt. Egal nämlich, mit wem wir jene Eigenschaften teilen, egal also, ob jene Eigenschaften eine anthropologische Differenz darstellen oder nicht, als grundlegende bestimmen sie unser Mensch-sein. Klären wir sie, klären wir uns.


Sarah Tietz hat Philosophie und Politikwissenschaften in Potsdam, Pittsburgh und Berlin studiert, war wissenschaftliche Assistentin am LS Theoretische Philosophie der Humboldt-Universität Berlin, wo sie mit einer Arbeit zur Natur von Denken und dem kognitiven Status von Tieren promoviert wurde. Im Anschluss war sie wissenschaftliche Assistentin am LS Theoretische Philosophie der Universität Zürich, wo sie sich mit Leibniz und der Frage nach dem ontologischen Status von Lebewesen befasst hat.  Mittlerweile lebt sie in Bremen und leitet und entwickelt Potenzialanalysen an den hiesigen allgemeinbildenden Schulen.

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