Human-Animal Studies: Wege zu einer tiersensiblen Forschung

von Gabriela Kompatscher-Gufler (Innsbruck)


Dass die Wissenschaft sich mit Tieren beschäftigt, ist nicht neu: Aristoteles setzt sich naturwissenschaftlich und philosophisch mit nichtmenschlichen Tieren auseinander, Antonios von Berytos veterinärmedizinisch, Columella landwirtschaftlich, Plutarch moralisch, Isidor von Sevilla enzyklopädisch – Zugänge, die in Mittelalter und Neuzeit weiterentwickelt und durch neue ergänzt wurden: psychologische, ethologische, evolutionsbiologisch, juristische, genetische, literarische, sprachliche, feministische, kulturwissenschaftliche usw.

Diese Herangehensweisen sind meist anthropozentrisch ausgerichtet, d.h. man strebt nach Ergebnissen, die in erster Linie dem Menschen einen Nutzen bringen. Sie können nun aber durch die Human-Animal Studies (HAS, dazu u.a. Kompatscher / Spannring / Schachinger 2017), die in den 80er Jahren im anglophonen Raum entstanden sind und seit Anfang des 21. Jhs. auch in Europa rezipiert wurden, eine neue Dimension erhalten: Die HAS untersuchen nicht nur, wie Menschen Tiere erfahren und mit ihnen interagieren, sondern fragen sich umgekehrt auch, wie Tiere selbst auf die Welt blicken. Tiere werden dabei nicht mehr als Objekte, Symbole, kulturelle Gegenstände oder bloße Statisten, sondern als Subjekte und Akteure / Akteurinnen, die unsere Gesellschaft mitgestalten, gesehen, als Individuen mit eigenen Bedürfnissen, Gefühlen, Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorlieben und Interessen. Man versucht dabei, die anthropozentrische Überzeugung, dass Tiere für den Menschen geschaffen seien, zu überwinden und ihren intrinsischen Wert anzuerkennen. Eine weitere aus der westlichen Antike übernommene und durch das Christentum weitertradierte Haltung ist die des Speziesismus: Dabei handelt es sich um die Diskriminierung von Lebewesen auf Grund ihrer Zughörigkeit zu einer bestimmten Spezies (analog zu Rassismus, Sexismus, Ageismus, Ableismus etc.), d.h. wir werten Tiere ab und beuten sie aus, und rechtfertigen dies damit, dass sie ja nicht zu unserer eigenen, sondern zu einer fremden Art gehören. Wir gestehen auch eher einer Katze oder einem Hund ein Recht auf Leben zu, als einer Kuh, auch das ist eine Form von Speziesismus. Und genau diese Einstellung versucht man im Bereich der Human-Animal Studies zu vermeiden. Unsere anthropozentrische und speziesistische Betrachtungsweise abzulegen fällt uns schwer, weil dies Elemente unserer westlichen Kultur sind, die wir kaum je hinterfragen. Wenn wir es aber versuchen, kann das einen wissenschaftlichen und einen persönlichen Gewinn mit sich bringen: wissenschaftlich, weil wir so in der Lage sein werden, neue Erkenntnisse im Bereich der Mensch-Tier-Beziehungen zu gewinnen, wenn wir nämlich auch die Perspektive der Tier-Seite miteinbeziehen, und persönlich, weil unsere Begegnungen mit Tieren eine neue Qualität erreichen. Die HAS wollen auch noch weitere Glaubenssätze hinterfragen, z.B. dass es eine Mensch-Tier-Grenze gebe; tatsächlich ist es so, dass die Naturwissenschaften den Mensch als ein Tier unter anderen betrachten (vgl. etwa Sommer 2015), während die Geistes- und Sozialwissenschaften mehr noch der Idee anhängen, dass der Mensch einen Sonderstatus innehätte. Dies bedeutet nicht, dass es zwischen Menschen und anderen Tieren keine Unterschiede gibt; das Anderssein von Tieren stellt jedoch keine Berechtigung dar, diese auszubeuten. Weiters bemühen sich die HAS um eine tiergerechte Sprache: Dass wir für ein und dieselben Handlungen, Eigenschaften und Zustände von Tieren andere Begriffe als für jene von Menschen verwenden, zeigt an, wie sehr wir uns von ersteren distanzieren. Wenn wir aber für Menschen und Tiere dieselben Begriffe verwenden, können wir die Abwertung letzterer allein schon durch unsere Sprache vermeiden: essen / fressen, schwanger / trächtig, gebären / werfen etc. – wenn Tiere essen, schwanger sind und gebären, entwerfen wir damit ein anderes Bild als mit den Vokabeln, die üblicherweise für Tiere verwendet werden (vgl. auch Heuberger 2015). Sprache kann also eine Vorstufe zur Tierbefreiung sein.

Diese Art der Beschäftigung mit Tieren in den verschiedenen Disziplinen kann eine Reihe von Veränderungen nach sich ziehen:

In den meisten Fällen entsteht das Bedürfnis, unsere Forschung sowie unsere privaten Beziehungen zu Tieren „non-invasiv“ zu gestalten. Dies bedeutet folgerichtig, dass z.B. keine Versuche mit gefangenen Tieren im Labor, sondern höchstens Versuchsreihen auf freiwilliger Basis durchgeführt werden, sei es mit unseren companion animals, die bestimmte Arten von Interaktionen sogar genießen, sei es im Rahmen von Feldforschung durch teilnehmende Beobachtung frei lebender Tiere. Die Perspektive der HAS beeinflusst auch unser Umgang mit Tieren im privaten Umfeld: Man gewährt den mit uns lebenden Tieren mehr Freiheit und Autonomie, stellt die eigenen Ernährungsgewohnheiten um (Vegetarismus / Veganismus), denkt ökologischer und versucht, den Lebensraum von Tieren zu erhalten – und zwar für die Tiere selbst, nicht (nur) zum Nutzen für uns Menschen (hier kann es gelegentlich zu Konflikten zwischen anthropozentrischen und theriozentrischen Interessen kommen [anthropos = Mensch, ther = Tier]).

Zahlreiche ForscherInnen aus dem Bereich der HAS sehen dazu auch die Notwendigkeit, politisch aktiv für die Tiere zu werden bzw. zumindest bei ihrer Forschung danach zu fragen, was dabei, salopp formuliert, für die Tiere rausschaut (vgl. Birke 2009). Sie sehen also eine Aufgabe der HAS darin, die Gesellschaft in Bezug auf ihren Umgang mit Tieren zu sensibilisieren und zu einer Verbesserung der Mensch-Tier-Verhältnisse beizutragen. Ein ähnliches Zusammenspiel zwischen Forschung und Gesellschaftskritik sehen wir beispielsweise auch bei den Women‘ Studies, Queer Studies etc.

Da unser Leben in sehr vielen Bereichen eng mit dem Leben von anderen Tieren verquickt ist, kann auch nahezu jede wissenschaftliche Disziplin Human-Animal Studies adaptieren und im Sinne der Tiere ausüben. Ein Beispiel mag hier genügen, die Literaturwissenschaft: Es hat eine lange Tradition, Tiere in literarischen Texten zu untersuchen, allerdings werden sie meist als Symbole, Metaphern oder Repräsentanten des Menschen gedeutet. Dies kann auch vom Autor / der Autorin so gemeint sein; darüber hinaus aber kann man bei der Analyse der Texte den Fokus auf die Tierfiguren und ihre Beziehungen mit anderen Charakteren des Werkes richten, wie es die (Ethical) Literary Animal Studies machen. Die Miteinbeziehung einer ethischen Komponente etwa in den Lektüreunterricht an Schule und Universität führt zu einer win-win-win-Situation, für die Schülerinnen und Schüler, da sich ein Großteil von ihnen sehr für Tiere interessiert, für die Lehrerinnen und Lehrer, da sie mit diesem Zugang einen lebensnahen Unterricht gestalten können, und für die Tiere: Da wir uns bei der Lektüre in z.B. misshandelte Figuren hineinversetzen können, wird unsere Empathie geweckt bzw. unser Empathiegefühl verstärkt (vgl. Bal 2013). Liebevolle Mensch-Tier-Beziehungen wiederum können auch unsere eigenen Beziehungen zu Tieren positiv beeinflussen. (Vgl. Kompatscher 2018)

HAS schaffen Verknüpfungen zwischen den Disziplinen, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, vor allem aber zwischen Menschen und Tieren.

Beste Voraussetzungen also, Tiere unter Wahrung ihres Bedürfnisses nach einem Leben in Freiheit und Unversehrtheit in Gesellschaft und Forschung zu integrieren.


Gabriela Kompatscher Gufler ist außerordentliche Professorin für Lateinische Philologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Ihre Forschung konzentriert sich auf lateinische Texte des Mittelalters, wobei der Themenkomplex „Mensch und Tier im Mittelalter“ einen besonderen Schwerpunkt bildet (Tiere als Freunde im Mittelalter, 2010, zusammen mit A. Classen und P. Dinzelbacher; Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen Texten, 2014, zusammen mit F. Römer und S. Schreiner). Sie ist Mitbegründerin des Innsbrucker Human-Animal-Studies-Teams und als solche im Bereich der Human-Animal Studies und speziell der Literary Animal Studies tätig.


Bal, P. M. / Veltkamp, M. (2013): How Does Fiction Reading Influence Empathy? An Experimental Investigation on the Role of Emotional Transportation. In: PLOS ONE 8, 1 (https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.005534)

Birke, L. (2009): Naming names — or, what’s in it for the animals? In: Humanimalia 1,1 (http://www.depauw.edu/humanimalia/issue01/birke.html)

Heuberger, R. (2015): Linguistik. Das Tier in der Sprache. In: R. Spannring u. a. (Hg.), Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen. Bielefeld: transcript, 123–135

Kompatscher, G. / Spannring, R. / Schachinger, K. (2017): Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende, mit Beiträgen von Reinhard Heuberger und Reinhard Margreiter. Münster / New York: Waxmann / utb 2017.

Kompatscher, G.: Literary Animal Studies. Ethische Dimensionen des Literaturunterrichts. In: B. Hayer / K. Schröder (Hg.), Tierethik transdisziplinär. Literatur – Kultur – Didaktik. Bielefeld: transcript, 2018, 295-310.

Sommer, V. (2015): Zoologie. Von „Mensch und Tier“ zu „Menschen und andere Tiere“. In: R. Spannring u. a. (Hg.), Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen. Bielefeld: transcript, 359-386