31 Dez

Tier(e), Mensch(en) & Ethik – Philosophische Verhältnisbestimmungen zwischen Exklusion, Inklusion und Integration in moralischer Absicht

Von Heike Baranzke (Wuppertal)


Die Beziehung des Menschen zum Tier ist fundamental und ambivalent. Tiere gehören zu den frühesten Bildmotiven archaischer Menschen, die die Bedeutung der Tiere als Lebensbedrohung, Nahrungslieferant und Gefährte, ihre Nähe und Ferne zum Menschen, reflektieren. Die Reflexion wird philosophisch, wenn sie auf Begriffe gebracht wird, nämlich auf die Begriffe ‚Mensch‘ und ‚Tier‘. Der Singulargebrauch: der Mensch, das Tier zeigt, dass sich das Erkenntnisinteresse hier nicht mit zoologischer Neugier auf die Vielfalt von Tierarten und ihre Eigenschaften und Fähigkeiten richtet, sondern einzig und alleine auf die anthropologische Differenz. Es ist die Sprache der philosophischen Anthropologie, mit der wir vergleichend zu begreifen versuchen, was uns als Menschen ausmacht. Im Dienste dieses philosophischen Zieles menschlicher Identitätssuche werden Tiere lediglich als Hintergrundfolie zur Differenzbestimmung herangezogen. Da das Interesse nicht ihnen gilt, sind sie austauschbar. Der Mensch kann sich auch mit anderen Wesen vergleichen, z.B. mit Göttern oder mit Robotern.

Tatsächlich spielt der Mensch-Tier-Vergleich eine prominente Rolle in der abendländischen Geschichte der philosophischen Anthropologie. Er hat eine lange Liste von menschlichen Spezifika hervorgebracht, vom aufrechten Gang über den Werkzeuggebrauch bis hin zu Sprache und vor allem Vernunft, der von Diogenes von Apollonia in der Antike bis zu Plessner in unserer Zeit mit einer ebenso langen Liste von Bestreitungen gekontert wurde. Schon Aristoteles war Naturforscher genug, um zu der Überzeugung zu kommen, dass die Natur keine Sprünge mache und die Behauptung scharfer Artgrenzen empirisch über kurz oder lang immer widerlegt werden könne.

In Verbindung mit der ethischen Frage hat sich die anthropologische Identitätssuche legitimierend für eine schrankenlose Ausbeutung der Tiere ausgewirkt. Insbesondere die Vernunftausstattung des Menschen diente den einflussreichsten Philosophen der Antike zur Ausgrenzung der sprichwörtlich „vernunftlosen Lebewesen“ aus der moralischen Gemeinschaft der Gleichen. In der Schrift „Vom Wesen der Götter“ (II 154) verdeutlicht Cicero die exklusionistische Dynamik der stoischen Identitätsbestimmung des Menschen: „Vom Anfang ab ist die Welt der Götter und Menschen wegen gemacht, und alles in ihr ist zum Genuss der Menschen bereitet und ausgedacht worden. Die Welt ist gleichsam das gemeinsame Haus der Götter und Menschen oder die Stadt für beide; denn nur die Wesen, welche der Vernunft sich bedienen, leben nach Recht und Gesetz.“ In der christlichen Rezeption hört sich die Ausschlusslogik stoischer Naturrechtslehre folgendermaßen an: „Wir sehen es nämlich und nehmen es an den Lauten wahr, wenn Tiere mit Schmerz sterben, was freilich der Mensch im Tier geringschätzt, weil er mit ihm, das natürlich keine Geistseele hat, durch keine Rechtsgemeinschaft verbunden ist.“, bemerkt Augustinus in seiner Polemik Über die Lebensführung der Manichäer (II 59) im Kontext der Erörterung der Legitimität der Tier- und Pflanzentötung.

Gegen eine derartige vernunftzentrierte exklusionistische Selbststilisierung gibt es drei mögliche Argumentationsstrategien, zwei inklusionistische und eine integrative, die allesamt in der Geschichte der westlichen Ethik vertreten wurden und bis heute werden: 1.) die Behauptung der intellektualistischen Inklusionisten, dass auch Tiere Vernunft besäßen und daher gleichwertige Mitglieder der Moral- und Rechtsgemeinschaft seien; 2.) die Behauptung von pathozentrischen Inklusionisten, dass die moralische Rechtsgemeinschaft nicht durch Vernunfteigenschaften, sondern durch Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit konstituiert werde und 3.) durch die Behauptung humanistischer Integralisten, dass Menschen als vernünftige Moralsubjekte nicht nur symmetrische, sondern auch asymmetrische Moralbeziehungen pflegen und daher auch vernunftlose nichtmenschliche Mitglieder in eine heterogene Moralgemeinschaft integrieren können.

Die erste Strategie der intellektualistischen Inklusionisten verfolgten erstmals die antiken Gegner der Stoa wie der Eklektiker Plutarch, der Skeptiker Sextus Empiricus sowie der Neuplatoniker Porphyrios und entfachten eine lebendige Debatte über die Vernunft der Tiere. Es ist nicht sicher, ob sie ernsthaft von der Vernünftigkeit der Tiere überzeugt waren oder eher die allzu selbstgewiss daherkommenden stoischen Argumentationen herauszufordern gedachten. Eine Spielart dieser Argumentationsstrategie findet sich in der Moderne vielfach bei Interesse-Ethikern, die das Lebensrecht von einem Interesse am Weiterleben ableiten und das Lebensinteresse an das faktische Vorliegen der Selbstbewusstseinsfähigkeit knüpfen. Dadurch wird eine Beurteilung von konkreten Individuen unabhängig von ihrer Artzugehörigkeit eingefordert und ein Gradient zwischen kognitiv eingeschränkten Menschen und höheren Tieren hergestellt. Durch die Empirifizierung des Vernunftkriteriums wird so das Argumentieren mit menschlichen Grenzfällen (marginal case-Argument) ermöglicht, durch das sowohl einige höhere Tiere (z.B. Menschenaffen) als personale Mitglieder in die moralische Gemeinschaft des gleichartig Lebensberechtigten eingeschlossen werden als auch zugleich entsprechend geistig eingeschränkten Menschen dieser Lebensrechtsstatus streitig gemacht wird. Einer der prominentesten Vertreter eines solchen interesseethischen Personbegriffs, Peter Singer, hat die Zweischneidigkeit der Rückbindung eines personalen Lebensrechts an das empirische Kriterium von Selbstbewusstsein selbst früh bemerkt, ohne sie argumentativ entschärfen zu können. Mit der wohl bekanntesten tierrechtspolitischen Aktion, dem Great Ape-Projekt, hat er zusammen mit Paola Cavalieri dieser Argumentationsstrategie breite öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Der implizite Widerspruch dieser Strategie, nämlich einen menschenrechtsähnlichen Schutzstatus für höhere Tierarten auf dem Weg der Unterminierung des Geltungsanspruchs unveräußerlicher Menschenrechte erzielen zu wollen, wird kaum diskutiert.

Die zweite Position der pathozentrischen Inklusionisten geht mit der ersten im Falle der modernen Interesse-Ethiker*innen Hand in Hand, insofern sie über die Infragestellung des Menschenrechts auf Leben hinwegzutrösten versuchen, indem sie auf den Vorteil der Erweiterung der Moralgemeinschaft durch empfindungsfähige Nicht-Personen hinweisen, für die nun auch immerhin das Verbot der Leidenszufügung gelte. Hierunter versammeln sich seit Jeremy Bentham alle pathozentrischen oder sentientistischen Tierethiken, in denen subjektphilosophische Begriffe wie Rechtspersonalität oder Würde nicht länger an Vernunft- oder Selbstbewusstseinskriterien gebunden, sondern auf der pathozentrischen Ebene von Empfindungs- und Leidensfähigkeit oder sogar auf der biozentrischen Ebene von biologischer Lebendigkeit neudefinieren werden. Am Beispiel des schweizerischen Verfassungsrechtsdiskurses über den Begriff der „Würde der Kreatur“ lässt sich studieren, wie der Anschluss an subjektphilosophische Kategorien oftmals durch äquivoke Begriffe hergestellt wird. So wird Kants Menschenwürdebegriff des Zweck an sich selbst-Seins eines moralischen Akteurs kurzerhand aufgefüllt durch die entelechiale Selbstzwecklichkeit von Organismen im Rahmen der teleologischen Naturphilosophie des Aristoteles.

Woraus Tierrechtsaktivist*innen sich weigern, Schlüsse zu ziehen, ist die Tatsache, dass stets ausschließlich Menschen für ihre nichtmenschlichen Mitkreaturen Partei ergreifen und sich für den Schutz deren Lebensinteressen advokatorisch einsetzen. Auch sind nur Menschen in der Lage, sich selbst darauf zu verpflichten, auf tierliche Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Der Hinweis darauf, dass nicht alle Menschen moralisch kompetent sind, entkräftet nicht die Tatsache, dass allein Menschen als moralisch kompetente Verantwortungssubjekte in Frage kommen, nichtmenschliche Lebewesen aber nicht. Durch das Engagement für die Schutzobjekte verlieren Tierrechtsaktivist*innen aus dem Auge, dass sie – gewissermaßen wie im Rückspiegel – auch stets die zum Schutzgeben fähigen Subjekte im Blick behalten müssen, um nicht nur eine philosophisch vollständige Definition der moralischen Gemeinschaft liefern, sondern vor allem die für Moral- und Rechtsgemeinschaften konstitutiven Mitglieder benennen zu können. Denn Lust- und Leidenszustände von Lebewesen sind nichts als krude Naturtatsachen, die gemäß David Hume keinerlei moralisches Sollen zu begründen vermögen. – Die damit genannten notwendigen Anforderungen für die Formulierung einer tragfähigen Tierethik erfüllt die dritte Position der humanistischen Integralisten. Sie wissen um die unhintergehbare Differenz zwischen selbstverpflichtungsfähigen moralischen Akteuren (moralische Subjekte) und nicht derart befähigten Lebewesen (moralische Objekte), deren faktische Lebensbedürfnisse sie jedoch als moralisch beachtlich in den Aufgabenbereich einer angewandten Ethik aus guten Gründen zu integrieren vermögen. Immanuel Kant hat mit seiner differenzierten moralphilosophischen Analyse der Verpflichtungsverhältnisse den Boden bereitet für eine Ethik, die sich unterschiedlicher Verantwortungsbereiche zu widmen vermag, dafür aber die moralphilosophische Rekonstruktion moralischer Subjektivität als Grundlegung und Fundament für jede angewandt ethische Arbeit voraussetzt. Der emphatisch vorgetragene inklusionistische Gleichheitsappell engagierter Tierrechtsvertreter*innen verhallt sonst im Leeren, wenn die philosophische Rekonstruktion moralischer Subjektivität, und damit ein begründungstheoretisch unhintergehbares Differenzkriterium, unter speziesistischen Ideologieverdacht gestellt wird.


Dr. Heike Baranzke lehrt Ethik am Institut für Katholische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal und hat zu ethischen Grundlagen in der humanen und außerhumanen Bioethik sowie zur Altenpflege geforscht und publiziert. 


Lit.: Hans Werner Ingensiep & Heike Baranzke: Das Tier. Grundwissen Philosophie. Reclam: Stuttgart 2008.

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