Tiere, Personen, Kultur und andere ethische Überlegungen

Von Karim Baraghith (Düsseldorf) & Maria Sekatskaya (Düsseldorf)


Einleitung

Man kann die zwei Hauptfragen der Tierphilosophie etwa so stellen: „Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier?“ und „Was ist der moralische Status von Tieren und was folgt daraus für unser Handeln ihnen gegenüber?“. Es ist leicht zu erkennen, dass die eine Frage eher deskriptiver, die andere eher normativer Natur zu sein scheint, doch ohne die Allgemeingültigkeit des „Sein-Sollen“ Fehlschlusses anzweifeln zu wollen – wir sind logisch nicht berechtigt von Tatsachen auf moralische Urteile zu schließen –  sind wir der Ansicht, dass sich beide Fragen kaum unabhängig voneinander befriedigend beantworten lassen. Im Folgenden wollen wir daher indirekt beide Fragen beleuchten und einen Brückenschlag versuchen. Wir werden uns dafür zunächst fragen, worin ein biologischer Unterschied zwischen Menschen und Tieren bestehen könnte, was genau „Personen“ sind und was aus alldem folgt.  

Was sind Tiere und unterscheiden sie sich vom Menschen?

1866 definierte Ernst Haeckel drei übergeordnete Kategorien („Reiche“) innerhalb der Welt des Lebendigen: Tiere, Pflanzen und Protisten. Aktuellen Interpretationen der biologischen Taxonomie zufolge lässt sich das Leben etwas feinkörniger in zwei „Domänen“ und fünf „Reiche“ einteilen. Die Domänen sind Eukaryoten und Prokaryoten, Zellen die einen Kern haben und solche, die keinen besitzen, das Reich der Bakterien. Die Eukaryoten wiederum lassen sich in vier Reiche aufspalten, nämlich Stramenopilen, Pflanzen, Pilze und Tiere. Pilze stehen den Tieren genetisch näher als den Pflanzen, was überraschen mag, betrachtet man ihre äußere Erscheinung. 

So gut wie alle Tiere atmen, sind mobil und ernähren sich von anderen Lebewesen um die nötige Energie für ihr Überleben zu gewinnen. Sie fressen Pflanzen oder sich gegenseitig, oder beides. Trotz ihres enormen Größenunterschiedes und ihrer zum Teil sehr stark divergierender phänotypischen Eigenschaften (man führe sich den Unterschied zwischen einer Seegurke und einer Giraffe vor Augen) teilen sie sich grundlegende Eigenschaften, welche sie von anderen Lebewesen trennen, z.B. ein zum Teil rudimentäres zum Teil sehr ausgeprägtes Nervensystem, eine bestimmte Art von Stoffwechsel u.s.w. Die mit weitem Abstand artenreichste und damit vielfältigste Klasse innerhalb der Tiere sind die Insekten mit ca. einer Million rezenter Arten. 

Der Mensch ist in biologischer Hinsicht nichts anderes als ein Tier, in kultureller, juristischer und philosophischer Hinsicht mag die Sache wohl etwas komplizierter ausfallen. Zumindest gelten Tiere in Deutschland laut Bürgerlichem Gesetzbuch nicht mehr als „Sachen“ (BGB § 90a). Andere Länder schreiben bestimmten Tieren, wie Schimpansen oder Delfinen bereits „nichtmenschlichen Personenstatus“ zu. Biologisch jedenfalls lässt sich der Übergang von Tieren zu Menschen heute evolutionär nahezu lückenlos rekonstruieren, es kam bei diesem Übergang also nichts genuin Neues hinzu. Spärlichere Behaarung, beweglichere Daumen, ein besonders geformter Kehlkopf oder ein größeres Gehirn, also diejenigen Merkmale, die uns phänotypisch von unseren nächsten lebenden tierischen Verwandten (den Schimpansen) unterscheiden, sind selbstverständlich keine metaphysisch neuen Entitäten, aufgrund dessen wir berechtigt wären, uns als kategorial anders zu begreifen. Überdies zeigt uns der Evolutionsbiologe Jared Diamond überzeugend, dass die zoologische Gattung „homo“ rein genetisch betrachtet ein schwer aufrechtzuerhaltendes Taxon darstellt. Eine solche Unterscheidung würden wir bei anderen Arten kaum einführen und es wäre aus diesem Blickwinkel richtiger, den Menschen als „dritten Schimpansen“ (neben Schimpansen und Bonobo) zu betrachten. Allerdings unterscheiden sich – Diamond zufolge – Menschen in anderen, nicht-genetischen Eigenschaften radikal von Schimpansen, so etwa im Sexualverhalten, der Fähigkeit zu sprechen, Kunst zu betreiben, Drogen zu konsumieren, Kriege zu führen und natürlich die Umwelt nachhaltig zu zerstören.  

Sind Menschen wesentlich Tiere? Gedanken zur personellen Identität

Der Mensch lebt in autopoetischen, künstlichen Umwelten, die er sich schafft: Ländern, Städten, dem Internet und anderen Organisationsformen. Diese sind in unseren Genen selbstverständlich nicht kodiert, sie wurden vom Menschen und nicht von der Natur geschaffen. Biologische Evolution ging nahtlos über in die kulturelle. Obwohl menschliche Gesellschaften auf ihre eigene Weise grausam oder unfair sein können, unterliegen sie oftmals kaum noch den „Gesetzen“ der Biologie, vielmehr den Gesetzen der Soziologie, Psychologie und ganz offensichtlich jenen Gesetzen, welche Menschen selbst als Verfassungen/Verträge formulieren und niederschreiben. Menschliche Kulturen sind Kulturen, die auf Sprachen basieren und Sprachen sind ohne abstrakt-symbolisches Denken nicht begreifbar. Nicht Denken im Allgemeinen – eine Fähigkeit, welche die meisten Tiere ebenso besitzen – sondern diese besondere Art des Denkens scheint daher speziell für den Menschen von wesentlicher Bedeutung zu sein.

René Descartes behauptete bekanntlich, dass nicht nur das Denken für den Menschen wesentlich ist, vielmehr bestehe das Wesen des Menschen im Denken. Wir sind unsere Bewusstseinsströme: Solange wir Gedanken und Wahrnehmungen haben, können wir sicher sein, dass wir existieren. Sobald unser geistiges Leben aufhört zu existieren, hören wir auf zu existieren. In den „Meditationen“ (1641) illustrierte Descartes seinen Standpunkt mit einem Gedankenexperiment über einen mächtigen Dämon, der ein denkendes Wesen wie Descartes selbst erschafft und dieses Wesen über alles täuscht. Descartes stellt fest, dass dieser Dämon seine Kreationen zwar über das täuschen kann, was in der Außenwelt vor sich geht, er sie aber nicht über den Inhalt ihres eigenen Geistes und über die Tatsache, dass sie existieren, täuschen kann. Dies ist das berühmte Cogito-Ergo-Sum-Prinzip: Ich denke, deshalb existiere ich. Nichts anderes außer Denken, das allgemein unter Einbeziehung von Gefühlen, Emotionen und Sinneswahrnehmungen verstanden wird, ist notwendig für unser Sein, wer wir sind: res cogitans, d. H. Wesen, deren Bewusstseinsströme bestimmte geistige Inhalte enthalten. Das Gerede über Dämonen mag veraltet erscheinen, Descartes Leib-Seele Dualismus ist überholt, das „Ich“ ist wahrscheinlich eine nützliche Selbsttäuschung evolutionärer Machart, aber die kartesische Vorstellung, dass Denken unser menschliches Wesen definiert, ist in der heutigen Diskussion über die persönliche Identität immer noch recht beliebt.

Die aktuellste Version dieses Ansatzes ist Mind Uploading (vgl. The Huffington Post | Mind Uploading und digitale Unsterblichkeit könnten bis 2045 Realität sein, sagen Futuristen https://www.kurzweilai.net/huffington-post-mind- Hochladen-der-digitalen-Unsterblichkeit-kann-Realität-bis-2045-sagen-Futuristen), deren Befürworter behaupten, dass die Technologie schließlich das Scannen aller Informationen in einem menschlichen Gehirn ermöglichen wird, indem sie alle diese Informationen ins Internet 2.0 hochlädt und in diesem elektronischen Medium ein künstliches Leben für die hochgeladenen „Menschen“ schafft. Diese faszinierende Idee ist in der Folge „San Junipero“ der Netflix Serie „Black Mirror“ zu sehen. Einige der ethischen und politischen Implikationen dieser Möglichkeit werden in https://www.theguardian.com/technology/2019/oct/20/mind-uploading-brain-live-for-ever-internet-virtual-reality?CMP=Share_iOSApp_Other untersucht.

Diese Idee setzt voraus, dass die psychologische Herangehensweise an die persönliche Identität korrekt ist. Vertreter des psychologischen Ansatzes, von John Locke bis zu Lynn Baker, einer der berühmtesten Befürworter im 21. Jahrhundert, haben behauptet, dass es Ihre psychologischen Merkmale und ihr Gedächtnis sind, die Sie zu der Person machen, die Sie sind. Dies erscheint insofern plausibel, als wir akzeptieren würden, dass Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung tatsächlich verschiedene Personen sind, die in einem Körper leben. Andere Beispiele, die in philosophischen Debatten über die persönliche Identität verwendet werden, sind Amnesie, die Möglichkeit der Auferstehung und viele Science-Fiction-Geräte wie Replikationsmaschinen, Teletransporter usw. Die Idee, dass eine Person dupliziert, d.h. in einem anderen Körper nachgebildet werden kann, scheint intuitiv genug, weil es in Science-Fiction-Literatur und Filmen so häufig vorkommt, dass wir fast bereit sind zu erwarten, dass es alsbald Realität wird. Die Gegner des psychologischen Ansatzes, darunter Philosophen wie Bernard Williams, Brian Garrett und Eric Olson, argumentieren, dass der Ansatz intuitiv sein mag, aber falsch. Es ist unmöglich, denselben Menschen zu replizieren, auch wenn es möglich ist, einen anderen Menschen zu erschaffen, der dem sehr ähnlich ist, den wir erschaffen möchten. Diese beiden Menschen können qualitativ nicht unterscheidbar sein, aber sie werden nicht dieselbe Person sein, da sie gleichzeitig an verschiedenen Orten existieren können und inkompatible Eigenschaften aufweisen, wie zum Beispiel gleichzeitig schlafen und wach sein, sprechen und sein leise usw. Die Argumente dieser Philosophen sind lang und kompliziert. Wir möchten jedoch hier Olsons gut geschriebenes und für Nicht-Philosophen zugängliches Buch „Das menschliche Tier: Persönliche Identität ohne Psychologie“ (1997) empfehlen. Die relevante Schlussfolgerung lautet wie folgt: Einige Philosophen argumentieren, dass wir trotz unserer besonderen Eigenschaften, wie der Fähigkeit zu denken und zu sprechen, letztendlich physische Wesen sind. Und wir sind sehr spezielle physische Wesen, nämlich Tiere. Unsere Essenz besteht darin, Tiere zu sein, und alles andere, wie die Fähigkeit zu denken und zu sprechen, ist optional.

Dies scheint in der Tat mit unseren prä-theoretischen Intuitionen übereinzustimme. Olson argumentiert: Wenn wir glauben, dass ich, der Leser dieses Satzes, einmal ein Embryo und dann ein sehr kleines Baby war, das nicht so sprechen und denken konnte, wie ich es jetzt tue, aber irgendwie mit dem identisch war, was dieser Embryo war, dann kann meine Essenz nicht im Denken und Sprechen bestehen, weil ich existierte, bevor ich diese Eigenschaften erworben habe, und ein Ding kann nicht ohne seine wesentlichen Eigenschaften existieren. Wenn wir also glauben, dass wir existierten, bevor wir das Denken und Sprechen gelernt haben, bekennen wir uns dazu, dass wir im Wesentlichen Tiere sind. Der Rest kommt später, und das ist auch nicht zwingend notwendig.

Überlegungen zu ethischen Folgen

Wenn diese Behauptung richtig ist und wir im Wesentlichen Tiere sind, was folgt ethisch daraus? Alle Tiere folgen einer Art biologischem Imperativ: Ernährung, Selbsterhaltung, Fortpflanzung usw. Es gibt interessante Ausnahmen, die uns mitten in die Debatten über Egoismus und Altruismus führen. Es scheint aber, dass ethische Werte etwas mehr sind als nur biologische Imperative. Was aber bedeutet dieses „etwas mehr“? Eine Interpretation könnte sein, dass Kultur das ist, was es bedeutet. Aber wie hängt die Kultur selbst mit der Biologie zusammen?

Einer recht populären Theorie zufolge kann man Kultur aus vielen kleinen evolutionären Bausteinen zusammengesetzt betrachten, welche ihrerseits einem Selektionsdruck um Aufmerksamkeit und kulturellen Ressourcen unterliegen: den „Memen“ (Dennett 2018). Meme sind kulturelle Wissensbausteine und Verhaltensmuster, welche zwischen Menschen (und Tieren) vermittels sozialem Lernen weitergegeben werden. Eines unter vielen anschaulichen Beispielen eines solchen kulturellen Evolutionsprozesses ist die Sprache. Hier wird eine klar Analogie zur biologischen Evolution deutlich. Sicherlich verfügen auch viele Tiere über Meme, etwa Singvögel oder Delfine, allerdings kaum in dem Ausmaß, wie die Menschen. Kumulative Kultur scheint ein Charakteristikum menschlicher Sozietäten zu sein. 

Wenn das zutrifft, erscheint es plausibel zu behaupten, dass die ethischen Werte selbst eine besondere Art von kulturellen Memen sind und dass diese Meme dem Menschen irgendwie einen besonderen moralischen Status verleihen. Die Meme selbst besitzen jedoch keinen moralischen Status, eben so wenig wie die Gene, ihre biologisch-analogen Strukturen. Es macht keinen Sinn zu behaupten, dass einem Gen bestimmte moralische Eigenschaften zugeschrieben werden können. Die Meme haben jedoch zuweilen in ihrer spezifischen Kombination einen abgeleiteten moralischen Wert, weil sie es uns ermöglichen, unsere Ziele zu erreichen, und diese Ziele umfassen biologische Imperative wie Überleben oder  Ernährung, gehen aber auch über diese hinaus. Etwa das Wissen über Antibiotika – das ein Mem ist – kann verwendet werden, um Medikamente zu schaffen, die Leben retten. Die Meme machen uns in diesem Sinne besonders: Für viele der Dinge, die wir als unsere Ziele ansehen, sind Meme das notwendige Mittel, um sie zu erreichen. Aus der Tatsache, dass wir unsere Ziele auswählen und der Welt diktieren können, folgt selbstverständlich nicht, dass alles, was wir entscheiden, gut ist, nur weil wir uns dafür entschieden haben.

Wir schlagen abschließend folgende vorläufige ethische Überlegung vor: Wenn Menschen im Wesentlichen Tiere sind und wenn alle guten und schlechten Dinge im Universum auf dem beruhen, was  fühlende Wesen fühlen, wie etwa der Utilitarismus behauptet (Bentham, Singer), dann sind alle fühlenden Tiere von Bedeutung, ganz gleich welche kulturellen Mittel sie besitzen, ihre Ziele zu erreichen. Wenn wir also versuchen, bessere Menschen zu werden, sollten wir immer das Wohlergehen der Tiere berücksichtigen. Ob wir Tiere essen sollen, ist daher eine Frage, welche Art von Personen wir sein wollen…

 

KarimBaraghith studierte Philosophie, Geschichte und Biologie. Er ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Düsseldorf Center for Logic and Philosophy of Science (DCLPS). Seine Forschungsinteressen liegen v.a. im Gebiet der verallgemeinerten Evolutionstheorie und kulturellen Evolution, der Philosophie der Biologie und der speziellen Wissenschaftstheorie.

MariaSekatskaya ist Postdoc an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, DCLPS. Sie studierte und arbeitete an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und war Fellow an der Universität Freiburg (Schweiz), der University of California, Berkeley und der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Problem der Willsenfreiheit, persönliche Identität und Philosophie des Geistes.


Literatur