Die Uhr tickt für wissenschaftliche Mitarbeiter – der Erkenntnis ist es egal. Über Zeit im Wissenschaftssystem
Von Freya Gassmann (Saarbrücken)
Zeit wird im Wissenschaftssystem interessanterweise als überaus wichtig angesehen, gleichzeitig wird ihre Rolle aber weitgehend vernachlässigt.
Die Universität ist eine der ältesten Institutionen in Europa und in der mönchstümlichen Universität gab es zunächst ausreichend Zeit: das Studium durfte Zeit benötigen, Zeit war im Rahmen der scholastischen Ethik vorgesehen und Muße in der Wissenschaft impliziert. Zeitknappheit spielte für den „Dinosaurier“ Universität (Wittrock 1993)[1] kaum eine Rolle. Dies änderte sich in der Renaissance, als erste Forschungen von außerhalb des Wissenssystems in Auftrag gegeben wurden und sich das Ansehen für das Gut Wissenschaft vergrößerte. Nichtsdestotrotz gilt auch noch heute, dass im wissenschaftlichen Arbeitsprozess der Grundlagenforschung idealtypisch die Beantwortung von Fragen im Vordergrund steht, ganz unabhängig davon, wieviel Zeit sie in Anspruch nimmt. So sind einzelne Theorien und Überlegungen manchmal derart komplex, dass ein Menschenleben für ihre Erforschung nicht ausreicht und erst nach dem Tod eines Forschers die finale Bestätigung oder Widerlegung erfolgt. Ökonomisch betrachtet steht die Effektivität des Prozesses, also das Finden der Erkenntnis, im Vordergrund. Auch wegen der schwierigen Überprüfbarkeit ist Effizienz – als möglichst knapper Einsatz der Zeitressourcen – in der Grundlagenforschung eher zweitrangig.
In einem deutlichen Widerspruch dazu steht heute die Bildungs- und Arbeitszeit von Wissenschaftlern, die zunehmend aus einer Effizienzperspektive betrachtet werden. Zeit, auch Lebenszeit, ist hier eine Währung! Angefangen bei der Studiendauer, als durch die Bologna-Reform die Verkürzung der Studienzeit angestrebt wurde, hauptsächlich befürwortet von außeruniversitären Stakeholdern, und weiter bei zeitstrukturierten Promotionsvereinbarungen inkl. der Erreichung von Meilensteinen.
Wissenschaft war in der Historie dabei ursprünglich, zumindest bis zur Erlangung einer Professur, Privatsache. Die Dauer der Studierzeit wurde vor allem durch die finanziellen Möglichkeiten der Wissenschaftler selbst bedingt, womit Wissenschaftler vornehmlich aus privilegierten Familien stammten. Die Öffnung des Bildungssystems auch für weniger Vermögende führt dann dazu, dass Wissenschaft keine Privatsache mehr sein konnte. Personen wurden nach Begabung und Fleiß ausgewählt, nicht mehr nach ihren finanziellen Möglichkeiten und es entwickelte sich in Deutschland im Wissenschaftssystem die bezahlten Assistenzstellen unterhalb der Professur. Nachwuchswissenschaftler müssen heute, während einer für sie relevanten Orientierungsphase in ihrer Erwerbskarriere, Zeit in die Wissenschaft investieren. Die „plutokratischen Voraussetzungen“ von denen Max Weber vor etwa 100 Jahren sprach (Weber 2002 [1919])[2], bestehen heute noch, jedoch auf der Ebene der Risikosetzung. Sie zeigen sich in der Gegenwart aufgrund der vornehmlich vergebenen halben, befristeten Stellen, die aktuelle Einkünfte und Vermögenszuwächse limitieren sowie in den unsicheren Zukunftsaussichten, nämlich ob sich die Bemühungen auszahlen werden oder man am Ende doch auf das falsche Pferd gesetzt hat.
Wissenschaftliche Mitarbeiter sind in der Regel an deutschen Hochschulen befristet unter einem eigenen Sonderarbeitsgesetz beschäftigt. Das Ziel des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes war zum einen möglichst vielen eine bezahlte Tätigkeit im Zuge ihrer Promotion zu ermöglichen und gleichzeitig steckt die Idee dahinter, dass durch institutionalisierte Fluktuation die Innovationsfähigkeit erhalten bleibt. Die zeitliche Höchstdauer unter der wissenschaftliche Mitarbeiter (über Haushaltsmittel) in Deutschland befristet beschäftigt sein können, beläuft sich auf sechs Jahre vor der Promotion und sechs Jahre nach der Promotion (für die Medizin neun), wobei die nicht benötigte Zeit der ersten auf die zweite Phase übertragen werden kann. Dieses Gesetz sollte eigentlich Hochschulen auch dazu bringen, mehr wissenschaftliche Mitarbeiter dauerhaft zu beschäftigten, führte jedoch tatsächlich dazu, dass jedem wissenschaftlichen Mitarbeiter mit der Unterzeichnung ein Ablaufdatum zugeteilt wird und Zeit dadurch zum zentralen Handlungskriterium wird. Eine Gutschrift auf das Zeitkonto kann z.B. für familiäre Aufgaben (Mutterschutz, Elternzeit, Pflege von Angehörigen) oder durch Freistellungen zur Übernahme von Ämtern im Rahmen der Personalvertretung (Personal, Schwerbehinderte oder Gleichstellung) erfolgen. Im Bereich des öffentlichen Dienstes nehmen wissenschaftliche Mitarbeiter damit bezogen auf Unsicherheit und Stellenumfang eine besondere Rolle ein.
Zeit ist damit für jene Individuen, welche eine wissenschaftliche Karriere anstreben, überaus kostbar geworden. Denn in der Zeit, also mit Ende 20, Anfang 30, in der sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen durch Promotion und mitunter Habilitation qualifizieren, werden auch auf dem außeruniversitären Arbeitsmarkt die Weichen gestellt, und auch die Zeit der Familiengründung beginnt. Dabei zeigt sich, dass wissenschaftliche Mitarbeiter seltener Kinder haben und sie auch später bekommen. Für Frauen, die trotz der propagierten Egalität stärker in die Kindererziehung eingebunden sind und aufgrund der körperlichen Betroffenheit in der Regel längere Zeiten aussetzen, zeigt sich empirisch bislang eine Entscheidung entweder für ein Kind oder für die Wissenschaft (Gassmann 2018)[3]. Die Zeit, die wissenschaftliche Mitarbeiter investieren wird somit anderen Lebensbereichen entzogen.
Zeit ist also eine äußerst begrenzte Ressource. Trotz aller Effizienzmaßnahmen wird im Bereich der Wissenschaft eine erhebliche Menge an Zeit benötigt und zwar in aller Regel auch außerhalb der eigentlichen Arbeits-(Teil)-Zeit als unbezahlte Mehrarbeit in einem erheblichen Ausmaß (Gassmann 2018). Die Suche nach der Wahrheit kostet Zeit und ist, wie eingangs bereits angedeutet, im Grunde auf Zeitverschwendung (Muße) angelegt. Der Erkenntnisgewinn wird mit zusätzlichem Zeitumfang zwar wahrscheinlicher, verläuft jedoch nicht linear dazu, sondern eher eruptiv, unberechenbar und vor allem unsicher. Man begeht einen unsicheren Weg auf den man sich auch verlaufen kann und wo das (Ver)Irren in der Regel Teil der Route ist. Scheitern ist Normalität und Zeitverschwendung im ganz positiven Sinn nötig, denn jede Ecke, in der eine mögliche Erklärung für ein Phänomen liegen könnte, muss aufwendig ausgeleuchtet werden. Dazu gehört zwangsläufig auch, dass man Hypothesen wiederlegt und vermutete Erklärungen ausschließt. Jede entdeckte Sackgasse hilft somit beim Erkenntnisgewinn, bedeutet aber vom Ende her betrachtet Zeitverlust bei der eigentlichen Suche (vgl. Stückwerk-Technik von Popper 2003)[4]. Auch können wichtige Fragen nur mit Hilfe von vorher erworbenem Wissen gestellt werden, denn erst durch das Ausleuchten zeigen sich bislang weitere blinde Flecken.
Währenddessen tickt die Uhr auf dem Erkenntnisweg unaufhörlich weiter, was dem wissenschaftlichen Mitarbeiter mitunter gar nicht bewusst ist, wenn er sich im „Erlebnis der Wissenschaft“ im „Rausch“ (Weber 2002 [1919]) auf Mythenjagd (Elias 2013)[5] befindet. Woraus sich mitunter auch Formen der Arbeitssucht entwickeln können (Gassmann 2018).
Die Konzentration auf die Kariere in der Wissenschaft ist ein Glücksspiel, ein Hazard (Weber 2002 [1919]) auf das man sich einlassen muss und das neben dem Auslassen anderer Optionen (Opportunitätskosten) berufliche und private Lebenszeit kostet, die bei Erfolgslosigkeit nicht wieder zurückgefordert werden kann. Die überwiegende Mehrheit wird, da sie das Ziel einer kaum noch angebotenen unbefristeten Beschäftigung im Mittelbau oder die Berufung auf eine Professur nicht realisieren wird, diese Zeit zur Erlangung einer festen Position im Wissenschaftssystem „umsonst“ eingesetzt haben.
Die Zwänge der Befristung unter denen fast 90% der wissenschaftlichen Mitarbeiter in Deutschland arbeiten, erschweren die Erkenntnissuche erheblich, denn alle Fehler kosten Zeit und damit die kostbarste Ressource im Leben eines jungen Wissenschaftlers. Das logische Ergebnis für rational handelnde Wissenschaftler ist es, einfache Fragen zu stellen, deren Beantwortungen planbar und verlässlich sind und die bereits auf bestehendes Wissen aufbauen. Risikoreichere Grundlagenforschung schließt sich damit im Grunde aus. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt der neueren Entwicklungen an Universitäten: Drittmittel. Drittmittelforschung ist häufig auf jene eher kurzen, auf ein konkretes Problem abzielenden Fragen ausgelegt. Bereits im Antrag wird das Problem häppchenweise in Meilensteinen, zum Teil mit fixem Lieferdatum, formuliert, die nach erfolgreicher Drittmittelzuteilung lediglich abgearbeitet werden müssen. Daran schließt sich die Frage an, ob dies die Erkenntnissuche der Wissenschaft im Sinne Humboldts darstellt oder doch näher an der akademischen Dienstleistung liegt oder gar an akademischen Kapitalismus (Münch 2011)[6] grenzt.
Während die Ressource Zeit durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und Drittmittelforschung verknappt wurde, sind die Aufgaben der wissenschaftlichen Mitarbeiter vielfältiger geworden, auch durch die Demokratisierung der Hochschulen (Luhmann 2005 [1987])[7]. Neben Lehre und Forschung kommt u.a. die Gremienarbeit in Fakultätsräten, Ausschüssen und sonstigen Arbeitsgruppen sowie die Organisation von Modulen für die neu eingeführten Bachelor- und Masterstudiengänge als auch Praxisnähe, die organisiert werden muss, hinzu. Um überhaupt die Chance zu erhalten, im Wissenschaftssystem Fuß fassen zu können, müssen frühzeitig in der Karriere Konferenzen besucht, Drittmittel eingeworben, Anträge geschrieben und natürlich auch bearbeitet werden, um so Werbung für die eigene Person und Leistung zu machen. Dies treibt die Zeitinvestitionen zur Zielerreichung – dem Verbleib in der Wissenschaft – in die Höhe, während die Auszahlung ungewiss bleibt. Die Rendite sinkt somit weiter.
Wenn ihre Zeit abgelaufen sind und wissenschaftliche Mitarbeiter keine Stelle im Glückspiel Wissenschaft gewinnen konnten, was sich immerhin rund 70% eigentlich wünschen (Gassmann 2018), fallen sie aus einem System heraus, dem sie sich zuvor selbst verschrieben haben. Ein System, das auf Spezialisten angewiesen wäre und von der Aufopferungsbereitschaft der wissenschaftlichen Mitarbeiter erheblich profitiert oder gar lebt. Der repetitive Exodus scheint für das Universitätssystem so funktional zu sein, dass ihm kein Einhalt geboten, sondern er eher befeuert wird. Kompensiert wird das ständige Ausscheiden nur durch die Bereitschaft zur Zeitver(sch)wendung der nächsten Generation, die in den Startlöchern steht, berauscht von der Wissenschaft. Der Ablauf wiederholt sich. Doch auch ihre Zeit wird kommen, wenn ihr Zeitkonto leer ist. Wer nicht bereit ist dieses „Sehenlernen blind“ (Dobner 2001)[8] zu erlernen wird aus dem System der „Kirche der Vernunft“ (Emrich & Pitsch 2015)a[9] als Ungläubiger sicherlich schnell entfernt.
So ticken die Uhren unaufhörlich auf der Suche nach der Erkenntnis.
—
Freya Gassmann studierte Soziologie an der Universität Mannheim. Von 2011 bis 2013 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Bildung und Arbeitsmarkt am Centrum für Evaluation (CEval) tätig. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sportökonomie und Sportsoziologie am Sportwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlandes und promovierte dort in der Soziologie zu den Arbeits-, Beschäftigungs- und Qualifikationsbedingungen von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Hochschulforschung, Arbeitsmarktforschung, Sportsoziologie und den Methoden der empirischen Sozialforschung.
[1] Wittrock, Björn (1993): The modern university: the tree transformations. In: Shel-don Rothblatt & Björn Wittrock (Hg.): The European and American university since 1800. Historical and sociological essays. Cambridge, New York, NY, USA: Cambridge University Press, S. 303–362.
[2] Weber, Max (2002 [1919]): Wissenschaft als Beruf. In: Dirk Käsler (Hg.): Schriften 1894–1922. Stuttgart: Kröner (Kröners Taschenausgabe, 233), S. 474–513.
[3] Gassmann, Freya (2018): Wissenschaft als Leidenschaft? Über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen wissenschaftlicher Mitarbeiter. Frankfurt: Campus.
[4] Popper, Karl R. (2003): Das Elend des Historizismus. 7. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck (Gesammelte Werke in deutscher Sprache, 4).
[5] Elias, Norbert (2013): Der Mythenjäger. Texte von Norbert Elias. Wiesbaden: Springer VS, Verlag für Sozialwissenschaften.
[6] Münch, Richard (2011): Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform. Berlin: Suhrkamp.
[7] Luhmann, Niklas (2005d [1987]): Zwei Quellen der Bürokratisierung in Hochschulen. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziologische Aufklärung. 3. Aufl. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, S. 225–229.
[8] Dobner, Petra (2001): ‘Fasse wacker meinen Zipfel! Hier ist so ein Mittelgipfel…’. In: Erhard Stölting & Uwe Schimank (Hg.): Die Krise der Universitäten. Leviathan Sonderheft, 20. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 179–193.
[9] Emrich, Eike & Pitsch, Werner (2015): Sportwissenschaft als Kirche der Vernunft und ihre Gläubigen – Normative Spannungslinien in der Scientific Community der Sportwissenschaftler. In: Swen Körner & Volker Schürmann (Hg.): Reflexive Sportwissenschaft – Konzepte und Fallanalysen. Berlin: Lehmanns (Reflexive Sport-wissenschaft, 1), S. 85–97.