Alles reiner Zufall? Freiheit und Indeterminismus

Von Verena Wagner (Universität Konstanz)


Stellen Sie sich vor, Sie bekommen vor Gericht eine Frage gestellt und stehen vor der Entscheidung zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Um Sie später für Ihre Entscheidung zu belangen, ist es wichtig, dass wir Ihnen diese auch zuschreiben können. In der Freiheitsdebatte wird diese Praxis meist so in Frage gestellt: Was, wenn Sie nicht anders entscheiden konnten, weil die Welt deterministisch ist? Die in diesem Beitrag gestellte Frage ist eine andere: Was, wenn Ihre Entscheidung nur ein Zufallsprodukt ist, weil die Welt nicht deterministisch ist?

Die philosophische Freiheitsdebatte beinhaltet zwei Kompatibilitätsfragen: die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und dem Determinismus (K1) und die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Indeterminismus (K2). Theorien, die die Realität von menschlicher Freiheit behaupten oder zurückweisen, positionieren sich in der Regel zu mindestens einer dieser beiden (voneinander unabhängigen) Kompatibilitätsfragen. In diesem Beitrag soll es um die zweite, wenig beachtete, Kompatibilitätsfrage K2 gehen, die die Vereinbarkeit von Indeterminismus und Freiheit betrifft. Deren Vereinbarkeit wird durch den Zufallseinwand (engl.: luck objection) in Frage gestellt.

Wie in der Freiheitsdebatte üblich, wird auch in diesem Beitrag Determinismus als naturgesetzlicher Determinismus verstanden. Dabei wird aber keine spezifische Definition vorausgesetzt und der Determinismus möglichst allgemein als die These verstanden, dass die Vergangenheit und die Naturgesetze den Weltverlauf vollständig festlegen. Determinismus und Indeterminismus werden dabei wie üblich wechselseitig definiert: Die Aussage „Der Determinismus ist falsch“ ist dabei gleichbedeutend mit der Aussage „Der Indeterminismus ist wahr“.1

Die Freiheitsdebatte hat sich vorrangig an K1 abgearbeitet, die Frage, ob es Freiheit überhaupt geben kann, wenn es nur einen möglichen Weltverlauf gibt. Wie können meine Handlungen von mir abhängen oder von mir bestimmt werden, wenn überhaupt keine Alternativen offenstehen? Der hier besprochene Zufallseinwand soll zeigen, dass eine gleichermaßen unerfreuliche Frage auch aus der Beschäftigung mit K2 resultiert: Wie können meine Handlungen von mir abhängen, wenn sie zufällig entstanden sind? Um Antworten auf die beiden verschiedenen Kompatibilitätsfragen voneinander zu trennen, wird im Folgenden von K1-Kompatibilismus (sowie K1-Inkompatibilismus) und von K2-Kompatibilimus (sowie K2-Inkompatibilismus) die Rede sein.

Der Zufallseinwand ist als Einwand gegen den K2-Kompatibilismus zu verstehen, also ein Einwand gegen die Vereinbarkeit von Freiheit und Indeterminismus. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass indeterministische Vorgänge objektiv zufällig ablaufen und damit auch indeterministische Handlungsentscheidungen ohne das Zutun von Handelnden von statten gehen. Der Zufallseinwand stellt damit die Kontrollierbarkeit und die Begründetheit von indeterministischen Handlungen in Frage (van Inwagen 2000, Mele 2006). Wenn eine Handlung das Produkt zufälliger Abläufe ist, wie können Handelnde dann kontrollieren, welche der jeweils offenstehenden Alternativen realisiert werden? In welcher Weise kann man außerdem davon sprechen, dass eine Handlung rational begründet ist, wenn unter identischen Umständen (inklusive identischer Gründe) auch eine von ihr verschiedene Handlung hätte vollzogen werden können?

Peter van Inwagen (2000, 14) hat die Frage nach der Kontrolle über indeterministische Handlungen an einem berühmten Gedankenexperiment, dem „Replayargument“, illustriert: Alice befindet sich in einer schwierigen Situation, in der sie darüber nachdenkt, ob sie lügen oder die Wahrheit sagen soll. Nach gründlicher Überlegung entscheidet sie sich für die Wahrheit, hätte aber aufgrund der Realität des Indeterminismus auch im metaphysisch starken Sinne anders handeln, also lügen können. Van Inwagen lässt nun durch göttliche Intervention den Weltzustand auf genau den Moment m zurücksetzen, in dem sich Alice eine Minute vor ihrer Entscheidung befand, wobei sich nichts an der Situation, an Alice oder den vorliegenden Gründen geändert haben soll. Er lässt Alice von Startpunkt m aus in voneinander unabhängigen Durchläufen wieder und wieder über Lüge oder Wahrheit nachdenken und eine Entscheidung fällen. Durch die Realität des Indeterminismus fällt diese Entscheidung mal auf die Wahrheitsäußerung und mal auf das Lügen.

Um den Zufallseinwand stark zu machen, greift sich van Inwagen dasjenige mögliche statistische Ergebnis heraus, in dem sich Alice nach 1.000 wiederholten Durchläufen 493-mal für das Offenlegen der Wahrheit und 508-mal für das Lügen entschieden hat. Ein solches Gesamtergebnis lässt sich nach van Inwagen nur so erklären, dass das Ergebnis jedes einzelnen Durchlaufs rein zufällig zustande gekommen ist. Seine sich daraus ergebende Diagnose ist eindeutig: Es kann nicht in Alices Macht stehen, welche der beiden Alternativen sie im Einzelfall jeweils hervorbringt (van Inwagen 2000, 14). Der Indeterminismus, der das freie Entscheiden durch die Existenz von echten Alternativen ermöglichen soll, wird hier zum Problem. Es ist nämlich völlig unklar, wie sich Alices den Möglichkeitsraum für ihre freie Wahl zu Nutze machen soll. Die von van Inwagen beschriebene Situation gleicht mehr einer Wahl, die man mit Hilfe eines Münzwurfs zu machen hat.

Man kann diesem Einwand als K2-Kompatibilist:in allerdings begegnen, indem man die beinahe ausgeglichene Statistik von Alices Durchläufen als Ausdruck eines Gleichgewichts ihrer Gründe in einer dilemmatischen Situation interpretiert. Alice könnte sich demzufolge in einer besonders schwierigen Entscheidungslage befinden, in der sie annähernd gleich starke Gründe für die Wahrheit wie für das Lügen hat. Es wäre also sowohl für das Lügen als auch für die Wahrheitsäußerung möglich, dass Alice ihre Entscheidung in Übereinstimmung mit ihren eigenen Gründen getroffen hat.

Betrachten wir zum Vergleich einen anderen Fall, in dem Alice sehr starke Gründe für die Wahrheitsäußerung und nur sehr schwache Gründe für das Lügen hat. In diesem Fall würde sich das entsprechend anders in der Statistik widerspiegeln, etwa dadurch, dass Alice bei 1.000 Wiederholungen 981-mal die Wahrheit sagen und nur 20-mal lügen würde. Diese unausgeglichene Statistik wäre mit einer Entscheidungsfindung mittels einer gezinkten Münze vergleichbar, die das in diesem Beispiel vorliegende Ungleichgewicht von Gründen zu Gunsten der Wahrheitsäußerung widerspiegeln würde. Die starken Gründe für die Wahrheit sind in der Münze verankert und machen das Ergebnis der Wahrheitsäußerung sehr wahrscheinlich. Die schwachen Gründe von Alice für das Lügen machen das entsprechende Ergebnis zwar nur gering wahrscheinlich, erlauben aber trotzdem eine Verbindung zwischen Alices Gründen und der Entscheidung.2

Eine solche Erklärung ist jedoch mit Kosten verbunden, wenn man die Position des K2-Kompatibilismus mit anderen Positionen verbindet, z.B. mit der Ansicht, dass Freiheit durch das sogenannte anders-handeln-Können konstituiert wird und durch die Realität des Determinismus ausgeschlossen ist (K1-Inkompatibilismus). Zunächst kann man festhalten, dass Alices Entscheidung in den 20 Fällen, in denen die schwachen Gründe für das Lügen den Ausschlag geben, nicht rational ist, schließlich entscheidet (und handelt) sie entgegen ihren starken Gründen, die dafür sprechen die Wahrheit zu sagen. Es stellt sich hier die Frage, warum ausgerechnet das Haben von irrationalen Alternativen einen positiven Beitrag zur Freiheit im Sinne des anders-handeln-Könnens leisten sollen. Ist es der Freiheit wirklich zuträglich, wenn uns „schlechtere“ Alternativen offenstehen? Welche Art von Freiheit ist es wert, gewollt zu werden?3

Eine Kombination aus K1-Inkompatibilismus und K2-Kompatibilismus ist aus einem weiteren Grund problematisch, der mit der Argumentation zu tun hat, mit der der Zufallseinwand wie oben dargestellt zurückgewiesen wird. Indeterministische Entscheidungsvorgänge, so diese Argumentation, werden dann von Handelnden bestimmt, wenn sichergestellt ist, dass die verschiedenen Alternativen die jeweils vorliegenden Gründe der Handelnden widerspiegeln und damit jedwedes Ergebnis in Verbindung zur Handelnden besteht. Da Alice in beiden Beispielen sowohl Gründe für das Lügen als auch für die Wahrheit hat, können beide Ergebnisse an sie als Handelnde und Entscheidungsträgerin gebunden sein. Hätte sie keinen Grund zur Lüge gehabt und trotzdem gelogen, dann wäre ihre Entscheidung zu lügen ein Produkt eines Prozesses, der von ihren Gründen unabhängig und damit unfrei wäre.

Das „Problem“ einer solchen Argumentation ist, dass es sich dabei um die K1-kompatibilistische Standardargumentation handelt. Handelnde können gemäß der K1-kompatibilistischen Doktrin trotz Determinismus frei sein, solange sie durch ihre eigenen Gründe determiniert sind und nicht von externen Faktoren bestimmt werden, die unabhängig von ihren Gründen sind. Daraus entsteht nicht nur ein Problem für Positionen, die einen K2-Kompatibilismus verteidigen und einen K1-Kompatibilismus ablehnen (Libertarismus), sondern in gleichem Maße für Positionen, die einen K1-Kompatibilimus vertreten und einen K2-Kompatibilismus ablehnen (weicher Determinismus).

K1- und K2-Kompatibilismus sind zwar logisch unabhängig voneinander, ihre Vertreter:innen verwenden aber de facto sehr ähnliche Verteidigungsstrategien. Wer diese Strategie für eine der beiden Kompatibilitäten verwendet, muss sie auch für die jeweils andere Kompatibilität zulassen. Das trifft tatsächlich auf die meisten freiheitsbejahenden Positionen zu (siehe Wagner 2013). Es ist daher erstaunlich, dass sich trotzdem so wenige Freiheitsvertreter:innen um den Zufallseinwand kümmern. Gerade K1-Kompatibilist:innen hätten allen Grund dazu.


Verena Wagner ist promovierte Philosophin und arbeitet als akademische Rätin an der Universität Konstanz. In ihrer Dissertation entwickelte sie eine doppelt-kompatibilistische Theorie der Handlungsfreiheit. Derzeit beschäftigt sie sich mit dem Phänomen der Urteilsenthaltung und den verschiedenen Arten der kognitiven Neutralität.

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1 Für eine Kritik an dieser Praxis siehe Müller, Rumberg & Wagner (2019).

2 Ich habe mich für diesen Beitrag auf die Gründe von Handelnden konzentriert. Tatsächlich wird diese Argumentation in verschiedenen Spielarten vorgebracht, die dabei auch Deliberationen, Präferenzen, Wünsche und Erinnerungen von Handelnden miteinbeziehen. Siehe Ekstrom (2001, 2019), Keil (2007), Müller & Briegel (2014).

3 Siehe dazu Dennett (1978, 1984); Steward (2012), 142; in Reaktion darauf Ekstrom (2001), 152.

Literatur

Dennett, Daniel C. (1978). On Giving Libertarians What They Say They Want. In: Brainstorms, Oxford, 286–299.

Dennett, Daniel C. (1984). Elbow Room. The Varieties of Free Will Worth Wanting. Oxford.

Ekstrom, Laura W. (2001). Indeterminist free action. In: Agency and Responsibility, 138–157. Westview.

Ekstrom, Laura W. (2019). Toward a Plausible Event-Causal Indeterminist Account of Free Will. In: Synthese 196, 127–144.

Keil, Geert (2007). Willensfreiheit. Berlin.

Mele, Alfred (2006). Free Will and Luck. New York.

Müller, Thomas, Rumberg, Antje & Wagner, Verena (2019): An Introduction to Real Possibilities, Indeterminism, and Free Will. Three Contingencies of the Debate. In: Synthese 196, 1–10.

Steward, Helen (2012). A Metaphysics for Freedom. Oxford.

Van Inwagen, Peter (2000). Free Will Remains a Mystery. In: Philosophical Perspectives 14, 1–20.

Wagner, Verena (2013). Free and Coerced Agency: A new Approach to Classical Compatibilism. Dissertationsschrift, Universität Regensburg.

Wagner, Verena (2023): Libertarismus. In: Vera Hoffmann-Kolss & Nicole Rathgeb (Hg.), Handbuch Philosophie des Geistes, Metzler.