Macht der Glaube an ein Schicksal faul?
Von Ronja Hildebrandt (Humboldt-Universität Berlin)
Ist es Zufall oder Schicksal, wenn man seine zukünftige Partner*in trifft oder den Traumjob bekommt, weil man zur richtigen Zeit am richtigen Ort war? War es Zufall oder Schicksal, dass man Covid-19 bekommen hat oder davon verschont geblieben ist? Der Glaube, dass alle Ereignisse vorherbestimmt sind, ist für manche Menschen beruhigend: Alles erscheint nach einem Plan zu geschehen, den wir vielleicht nur nicht verstehen. Einer der berühmtesten antiken Philosophen seiner Zeit, Alexander von Aphrodisias (um 200 n.u.Z.), wendet allerdings ein, dass ein solcher Glaube faul mache. Stimmt das?
Alexanders Argument gegen den Glauben an ein alles bestimmendes Schicksal wird auch „Faules Argument“ (argos logos) genannt – nicht, weil das Argument ein schlechtes ist, sondern weil es behauptet, dass wir faul sein könnten, wenn es ein Schicksal gäbe. Den Grund, den Alexander dafür nennt, ist der folgende. Wenn alles in der Welt durch das Schicksal vorherbestimmt wäre, dann würden unsere Handlungen keinen Unterschied machen: Es würde so oder so passieren, was das Schicksal bestimmt hat. Ob ich meine Traumpartner*in fände, würde dann beispielsweise nicht davon abhängen, ob ich heute auf eine Party gehe, sondern ob das Schicksal dies bestimmt hat. Und ob ich mich mit Covid-19 anstecke, würde ebenfalls nicht davon abhängen, ob ich mich impfen lasse, sondern ob das Schicksal dies bestimmt hat. Nicht einmal Menschen, die an ein Schicksal glauben, würden aber ihren Freunden dazu raten, faul zu sein und sich auf der Hoffnung auszuruhen, das Schicksal würde schon alles richten. Der Glaube an ein Schicksal sei, so Alexander, unsinnig.
Diese Begründung des Faulen Arguments ist allerdings tatsächlich faul im Sinne von ‚schlecht‘. Ein antiker Anhänger eines Glaubens an ein allesvorherbestimmendes Schicksal – der Stoiker Chrysipp (3. Jhd. v.u.Z.) – wendet zu Recht ein, dass die Existenz eines Schicksals nicht zur Folge hätte, dass unsere Handlungen keinen Unterschied machen. Unsere Handlungen machen auch dann noch einen Unterschied, so Chrysipp, weil das Schicksal durch unsere Handlungen wirkt. Der Fehler dieser Begründung des Faulen Arguments ist, anzunehmen, dass das Schicksal unsere Handlungen nicht miteinschließt. Aber der Gang zur Party und zur Impfung ist in einem alles bestimmenden Schicksal genauso vorherbestimmt wie das Finden der Partner*in oder die Vermeidung einer Covid-19-Erkrankung. Wären meine Handlungen andere gewesen, wäre auch das Schicksal ein anderes gewesen. Wäre ich nicht auf die Party gegangen, hätte ich vielleicht auch meine Traumpartner*in nicht getroffen; und hätte ich mich nicht impfen lassen, hätte ich mich vielleicht mit Covid-19 angesteckt. Handlungen und ihre Folgen sind gemeinsam vorherbestimmt; sie sind ‚ko-determiniert‘, wie Chrysipp dies nennt.
Chrysipp fügt außerdem hinzu, dass man für die eigenen Handlungen wie beispielsweise für die Entscheidung sich nicht impfen zu lassen, moralisch verantwortlich ist. Man könnte meinen – wie auch Alexander dies tut –, dass man für seine Faulheit nicht verantwortlich sein kann, wenn alle Handlungen (inklusiver aller Unterlassungen von Handlungen) vorherbestimmt sind. Denn in diesem Fall scheint es doch, als hätte man im Grunde keine Wahl gehabt. Aber auch auf diesen Einwand hat Chrysipp eine Antwort parat. Worauf es in Hinblick auf moralische Verantwortung ankäme, sei nicht, ob man eine Wahl hatte, anders zu handeln; worauf es ankäme, sei, ob der Handelnde die primäre Ursache oder Quelle der Handlung war.
Chrysipp erklärt seine Antwort mithilfe einer berühmt gewordenen Analogie: Das menschliche Handeln sei wie das Rollen einer Walze. Einer der Gründe dafür, dass eine Walze rollt, ist, dass jemand ihr einen Stoß versetzt hat. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für das Rollen der Walze, nämlich den, dass die Walze rund ist. Wäre die Walze nicht rund, würde sie nicht rollen. Genauso verhält es sich laut Chrysipp auch bei einem Handelnden. Ereignisse von außen mögen einem Menschen Gelegenheiten geben, zu handeln. Aber wie der Handelnde entscheidet und agiert, das wird nicht durch äußere Ereignisse bestimmt (außer bei Fällen von äußerem Zwang), sondern durch die Entscheidungen des Handelnden. Die Möglichkeit der Impfung beim Hausarzt gibt mir beispielsweise die Gelegenheit, mich impfen zu lassen. Aber ob ich mich tatsächlich impfen lasse, liegt an mir. Wenn ich Impfungen sinnvoll und wichtig finde, werde ich mich impfen lassen; wenn ich Impfungen aber eher skeptisch gegenüberstehe oder sie nicht wichtig finde, werde ich mich nicht impfen lassen. Aber egal, wie ich mich entscheide: Ich bin für beide Handlungen verantwortlich, weil ich die Quelle dieser Handlung war.
Gibt es noch eine Rettung für Alexanders Faules Argument? Tatsächlich gibt es eine bessere Begründung des Faulen Arguments, die wir im Ansatz bei Alexander finden. In einer Variation des Faulen Arguments behauptet Alexander nämlich nicht einfach, dass unsere Handlungen keinen Einfluss auf ein alles vorherbestimmendes Schicksal hätten. Er behauptet stattdessen, dass die Risiken eines Glaubens an das Schicksal größer sind als die Risiken des Glaubens daran, dass es kein Schicksal gibt.
Um dies zu zeigen, geht Alexander beide Szenarien durch. Nehmen wir an, die Welt sei determiniert, aber wir wüssten nichts davon. Laut Alexander riskieren wir in diesem Fall nicht viel. Im Glauben, dass unsere Handlungen nicht vorherbestimmt sind und uns verschiedene Handlungsmöglichkeiten offenstehen, würden wir überlegen, was wir tun sollen, und uns für die Handlungen entscheiden, die wir für die besten halten. Tatsächlich wären unsere Entscheidungen und Handlungen vorherbestimmt, aber unser Irrglaube hätte nichts am Lauf des Schicksals geändert. Was passieren musste, wäre dennoch passiert. Nehmen wir nun das Gegenteil an: Wir glauben, dass die Welt durch das Schicksal vollständig vorherbestimmt ist, aber tatsächlich ist sie es nicht. In diesem Fall, so Alexander, würden wir riskieren, dass wir durch den Glauben an das Schicksal faul werden und Handlungen unterlassen, die eigentlich sinnvoll und richtig gewesen wären – und das obwohl wir den Lauf der Dinge hätten verändern können. Wir gehen vielleicht nicht zur Party oder zur Impfung und wir treffen vielleicht nicht unsere Traumpartner*in oder stecken uns mit Covid-19 an, weil wir meinen, dass wir sowieso nichts am Lauf der Dinge ändern können.
Ob diese neue Begründung des Faulen Arguments überzeugender ist als die vorherige, hängt nun davon ab, ob tatsächlich die Gefahr besteht, dass Menschen faul werden könnten, wenn sie an eine determinierte Welt glauben. Einen Grund, warum diese Gefahr bestehen könnte, hat Chrysipp schon ausgeräumt: Es wäre irrational, wenn Menschen meinten, sie könnten faul werden, weil ihre Handlungen keinen Einfluss auf das Schicksal haben; ihre Handlungen haben Einfluss auf das Schicksal, obwohl sie vorherbestimmt sind. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum Menschen faul werden könnten, weil sie an ein Schicksal glauben, auch wenn Alexander diesen Grund nicht selbst nennt.
Der Glaube an das Schicksal könnte Menschen dazu bewegen faul zu werden, nicht weil sie glauben, dass ihre Handlungen keinen Einfluss haben, sondern weil sie glauben, dass es für sie vorherbestimmt ist, faul zu sein. Wenn wir erfahren, dass alles – einschließlich unserer Entscheidungen und unserer Handlungen – vorherbestimmt ist, ist es leicht zu dem Entschluss zu gelangen, dass es uns egal sein kann, ob wir uns bemühen, gut zu sein und das richtige zu tun. Chrysipp könnte noch so vehement erklären, dass unsere Handlungen Einfluss auf das Schicksal nehmen und wir für diese Handlungen moralisch verantwortlich sind: Wenn es ein Schicksal gibt, gibt es auch die Möglichkeit, dass es für uns vorherbestimmt ist, faul und schlecht zu sein; und warum sollte dies nicht auch in unserem Fall zutreffen? Gegen einen solchen Glauben, so scheint mir, hätte Chrysipp keine gute Antwort. Und so würden wir vielleicht weder zur Party gehen noch uns impfen lassen, weil wir glauben, das Schicksal hätte uns zu einem faulen Bösewicht bestimmt.
Ronja Hildebrandt ist seit 2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft an der TU Dortmund. Im Sommersemester 2023 vertritt Sie den Lehrstuhl für Philosophie der Antike und Gegenwart an der Humboldt-Universität Berlin. Sie arbeitet vor allem zu den Fragen, wie Menschen ein gutes Leben führen können und welche Rolle Philosophie dabei spielen kann.
Referenzen: Alexanders Faule Argumente finden sich in seinem Werk Über das Schicksal XI, 179,12-20; XVI, 186,30-187,2; XXI, 191,2-25. Alexander ist aber nicht der Erfinder des Faulen Arguments. Eine früher Version ist bereits bei Cicero, Über das Schicksal 28-29, überliefert. Chrysipps Antwort auf Faule Argumente ist überliefert in Cicero, Über das Schicksal 30, 42-43; sowie in Aulus Gellius, Attische Nächte VII.2, 11-13.
Literaturempfehlungen:
Bobzien, Susanne. 2004. Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford: Oxford University Press.
Frede, Dorothea. 1982. ‘The Dramatization of Determinism: Alexander of Aphrodisias’ “De Fato”’. Phronesis 27 (3): 276–98.
Hahmann, Andree. 2007. ‘Mit Aristoteles gegen die Stoiker? Zufall und akzidentelle Verursachung in der Schrift “De Fato” des Alexander von Aphrodisias’. Zeitschrift Für Philosophische Forschung 61 (3): 361–77.
Long, A. A. 1970. ‘Stoic Determinism and Alexander of Aphrodisias De Fato (i-Xiv)’. Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (3): 247–68.
Sharples, R. W. 1983. Alexander of Aphrodisias, On Fate. London: Duckworth.
Weidemann, Hermann. 1999. ‘Wetten, Daß …? Ein Antikes Gegenstück Zum Wettargument Pascals’. Archiv für Geschichte der Philosophie 81: 290–315.