14 Mrz

Zufall bei Aristoteles

Schiefertafel mit der Aufschrift possibile

Von Ursula Wolf (Mannheim)


Aristoteles behandelt in seinen Schriften mehrere Begriffe und Problemkontexte, die im weiteren Sinn mit dem Zufall zu tun haben. Eine ausführliche Beschäftigung mit dem Bereich des Zufälligen findet sich in der Physikabhandlung, er spielt aber ebenso eine Rolle in der Ethik.

1. Zufall in der Natur

Gegen diejenigen Theorien, welche das Seiende als Eines und Unbewegliches auffassen, beginnt Aristoteles seine philosophische Befassung mit der Natur im ersten Buch der Physik mit dem Hinweis, dass wir aufgrund von Erfahrung wissen, dass zur Natur Bewegung hinzugehört (185a13 f.). Dabei versteht Aristoteles Bewegung als eine Veränderung an Stoffen oder Dingen, welche in deren Vermögen (dynamis) verankert ist. Naturdinge wirken so aufeinander ein, dass sie aktive Vermögen haben, eine Veränderung zu bewirken, und passive Vermögen, eine Veränderung zu erleiden. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass das Zusammenwirken nicht „zufällig“ ist. Es kann nicht Beliebiges (tychon) zusammenwirken oder Beliebiges aus Beliebigem entstehen, sondern etwas kann nur aus dem konträren Gegenteil hervorgehen (188a31 ff.). Ein Ding kann nur schwarz werden, wenn es vorher weiß war (oder etwas zwischen beidem in demselben Spielraum des Farbigseins). In gewissem Sinn allerdings kann auch das Runde weiß werden, jedoch nicht einfachhin, sondern im akzidentellen Sinn (kata symbebekos), das heißt, sofern das Weiße (z. B. der weiße Tisch) „zufällig“ (außerdem, nebenher) rund ist.

Aristoteles redet also mit Bezug auf die Natur von zwei Weisen des Zufälligen, einmal vom Beliebigen, sodann vom Akzidentellen. Es empfiehlt sich, mit solchen Begriffen vorsichtig umzugehen und ihren Sinn nicht vorschnell durch spätere Einteilungen zuzudecken. Aristoteles entwickelt seine philosophische Terminologie häufig aus der Alltagssprache, weshalb wir zunächst auf die Kontexte achten müssen, aus denen sie stammen. Das Beliebige, to tychon, enthält denselben Wortstamm wie tyche, „Zufall“. Würden die Dinge in der Natur beliebig interagieren, würde das heißen, dass die Welt keinerlei Gesetzmäßigkeiten enthält, mittels derer wir sie ordnen und erfassen können, würde also ebenso auf der epistemischen wie auf der ontologischen Ebene ein willkürliches Durcheinander bedeuten. Das symbebekos ist hingegen ein Phänomen, das innerhalb des geordneten Zusammenwirkens der Dinge und Vermögen auftritt. Es ergibt sich daraus, dass die Dinge einerseits wesentlich einer bestimmten Art (eidos) angehören und als solche wesentliche, notwendige Eigenschaften haben, dass sie aber als der Veränderung unterworfene materielle Dinge auch wechselnde Eigenschaften haben. Diese haben sie nicht immer, sondern sie kommen an manchen Zeitpunkten hinzu. Das ist kein Zufall im ersten Sinn, sondern ist durch die passiven Vermögen des Dings zu erklären, durch die dynamis, etwas zu sein oder nicht zu sein.

Im zweiten Buch der Physik versucht Aristoteles, diese Zusammenhänge über die bloße Kritik an den Vorgängern hinauszuführen und theoretisch zu artikulieren. Er beginnt mit der Unterscheidung zwischen Naturdingen und Artefakten. Naturdinge zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Prinzip der Bewegung in sich selbst haben (192b13 ff.), und zwar wesentlich und nicht, weil etwas hinzukommt (symbebekos). Wenn der Arzt gesund wird, ist der Zusammenhang zwischen Arztsein und Gesundwerden kata symbebekos, weil beides auch getrennt vorkommen kann (192b23 ff.). Während seine Vorgänger oft annehmen, dass die Natur der Dinge ihr Stoff ist, betont Aristoteles als die Natur der Dinge ihre Form (eidos), weil gerade die Form in Verbindung mit dem Zweck (telos) das Werden der Dinge steuert. Künstlich hergestellte Dinge haben keinen Bewegursprung in sich, hier ist das Bewegende der Handwerker oder Künstler, der das Wesen der Sache kennt, genauer sein Plan der herzustellenden Sache, der sich als gedachtes telos in seinem Kopf befindet.

Während die höchste Philosophie, die Metaphysik, welche sich mit den notwendigen und immer seienden Dingen befasst, primär das eidos als der Veränderung enthoben thematisiert, muss die Physik als Wissenschaft von der bewegten Natur die aus Stoff und Form zusammengesetzten Dinge untersuchen. Genauer arbeitet Aristoteles vier Ursachen dieser Dinge heraus (194b23 ff., auch Metaphysik 983a26 ff.): 1. Die Stoffursache, das, woraus etwas entsteht (die Balken und Steine, aus denen ein Haus entsteht). Diese ist gerade das, was Veränderung ermöglicht, weil sie (etwas) sein oder nicht sein kann. Die Balken werden nicht von sich aus ein Haus, sie können zu einem solchen geformt werden oder nicht. 2. Die Formursache, das, was etwas wesentlich ist, was in seiner Definition enthalten ist (die so und so angeordneten Materialien sind ein Schutz). 3. Die Zweckursache, das Leitprinzip der Entstehung und zugleich der Inhalt der funktionalen Definition der Sache (ein Haus wird zum Zweck des Schutzes von Menschen und Gütern erbaut). 4. Die Bewegursache, in diesem Fall der Herstellungsprozess ausgehend von der Form des Hauses im Kopf des Baumeisters, deren Realisierung im Stoff dieser sich zum Zweck macht und kraft seiner Kenntnis der Definition der Form bzw. des Zwecks in konkrete Bewegungen umsetzt. Genau genommen ist diese Ursache, wie Aristoteles sagt, nicht einfach der Mensch, sondern der Mensch als Baumeister, und dieser baut gemäß der techne der Baukunst.

Es fällt auf, dass Aristoteles in der Physik die Veränderung und Entstehung der natürlichen Dinge erklären will, die Unterscheidung der vier Ursachen aber anhand des künstlichen Entstehens erläutert. Das liegt vermutlich daran, dass die Griechen im Kontext der techne geeignete Begriffe der Beschreibung des Entstehens entwickelt haben und es naheliegt, diese Begrifflichkeit auch im Bereich des natürlichen Werdens zu verwenden. Auf die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen. In der Natur sind Stoff und Form nicht getrennt vorhanden, sondern das stoffliche Lebewesen und seine Form entwickeln sich gleichzeitig. Die Form steuert für Aristoteles aber auch hier als Zweck die Entstehung und setzt sie zugleich als Bewegursache in Gang, nämlich so, dass ein bereits vorhandenes Lebewesen derselben Spezies die Form weitergibt. Wie Aristoteles in Einschränkung seiner Lehre von der Selbstbewegung der Naturdinge sagt, genügt dieser Bewegursprung allein nicht, damit ein voll entwickeltes neues Exemplar der Spezies entsteht: Der Mensch zeugt den Menschen und die Sonne (194b13).

Im Kontext der Lehre von den vier Ursachen setzt Aristoteles sich in Physik Buch II 5 explizit mit dem Problem auseinander, wie sich hier der Zufall (tyche) und das Von-selbst (apo tautomatou) unterbringen lassen, ob dies zwei verschiedene Phänomene sind oder eines, ob sie zusätzliche Ursachen sind oder ob vielmehr das, was aus einer bestimmten Perspektive zufällig scheint, genau besehen ebenfalls die erläuterten vier Ursachen hat. Da die Bewegungszusammenhänge, die wir in der Welt beobachten, teils immer gleich ablaufen, teils meistens, würden wir hier nicht den Zufall als Ursache nennen. Andererseits gibt es auch Geschehnisse neben diesen Regularitäten, so dass der Zufall offensichtlich existiert. Nun verstehen wir nach Aristoteles sowohl die natürlichen wie die künstlichen Veränderungen so, dass sie jeweils von einem Zweck geleitet sind, also teleologisch. Damit meint er jedoch nicht eine durchgängige Weltordnung derart, dass sich alles notwendig auf einen Zweck hin entwickelt. Gemeint ist vielmehr, dass unser Verstehen so beschaffen ist, dass wir Dinge und Ereignisse jeweils vom Ergebnis, vom Zweck her erklären, so dass die erforderlichen Stoffe und Bewegungen hypothetisch, rückblickend vom Zweck her notwendig sind. Das lässt aus der umgekehrten Perspektive offen, dass diese Bedingungen gegeben sind, aber der Zweck nicht notwendig erreicht wird, weil der Prozess durch eine andere, parallel laufende Entstehungskette gestört wird. Und es lässt ebenso offen, dass ein Zweck gewissermaßen von selbst realisiert wird, ohne dass die üblichen Bedingungen ihn hervorgebracht haben.

Genau hier nun, in einem solchen Hinzukommen (kata symbebekos), lokalisiert Aristoteles den Zufall: Etwas geschieht zufällig, wenn es nicht den Zweck der natürlichen Entstehung oder den Plan der künstlichen Herstellung erfüllt, sondern aufgrund hinzukommender Umstände geschieht. Ursache der Entstehung eines Hauses ist der Plan im Kopf des Baumeisters, aber wenn der Baumeister nebenher Flötenspieler ist, ist zufällig der Flötenspieler die Ursache. Ebenso das bekannte Beispiel (196b33 ff.): Jemand geht auf den Markt, um jemanden zu treffen, und er sieht dort seinen Schuldner, der gerade Geld kassiert hat und von dem er jetzt erfolgreich sein Guthaben zurückfordern kann. Da das Schuldeneintreiben nicht der Zweck seines Marktbesuchs war, kann man sagen, dass die Ursache der Zufall war. Und da die möglichen Motive, aus denen er zu einem anderen Zweck hätte auf den Markt gehen können, unendlich viele sind, ist der Zufall unbestimmt und auf diese Weise unerkennbar.

Manche Interpreten verwenden hier noch einen weiteren Begriff, der in das Bedeutungsfeld des Zufalls gehört, den der Kontingenz, weil Aristoteles den Zufall von notwendigen und meistens vorkommenden Zusammenhängen abgrenzt als das, was geschehen kann oder nicht. Nun ist der Begriff der Kontingenz aber primär ein logischer Begriff, ein Modaloperator, der vor ganzen Sätzen oder Sachverhalten steht. Aristoteles hat Vorstellungen zur Modallogik entwickelt, bleibt aber letztlich der Bindung des Möglichkeitsbegriffs an den verbalen Vermögensbegriff, der Dingen Fähigkeiten zuschreibt, verhaftet, wodurch eine Reihe von Konfusionen entstehen (sichtbar z. B. in der Debatte über die contingentia futura). Diese Komplikationen muss ich hier ausklammern.

Für den bisher entwickelten Gedankengang ist der Kontingenzbegriff auch nicht unbedingt erforderlich. Denn ein zufälliges Ereignis fällt danach nicht aus der Teleologie heraus, sondern bleibt im Bereich dessen, was aufgrund der Vermögen der Stoffe, Naturdinge und menschlichen Absichten möglich ist. Nur dass es im konkreten Fall nicht einer Regularität entspringt, sondern aufgrund hinzukommender Faktoren geschieht, die aber ihrerseits an Dingen festgemacht sind (das Hinzukommen, das symbebekos, qualifiziert nicht Sätze, sondern das Verhältnis des Subjektbegriffs [eidos-Begriffs] zum Prädikat).

Nun verwendet Aristoteles, wo er in Physik II 5 die Frage aufwirft, ob auch der Zufall Ursache sein kann, zwei Begriffe, „Zufall“ und „Von-selbst“. Der Begriff des Zufalls (tyche) ist der engere Begriff. Er bezieht sich auf den Bereich des menschlichen Handelns, das letztlich und wesentlich das Glück (eudaimonia) zum Ziel bzw. Zweck hat. Und im Zusammenhang mit dem Glück unterscheiden wir bei den hinzukommenden Umständen zwischen günstigen und ungünstigen Widerfahrnissen, zwischen eutychia (glücklichem Zufall) und dystychia (unglücklichem Zufall). Glück und Pech können, wie Aristoteles sagt, nur Menschen haben als Lebewesen, die Vorsätze fassen, die etwas erreichen wollen (197a36 ff).

Der Begriff des Von-selbst dagegen ist weiter, er umgreift das Geschehen durch tyche im Bereich des Handelns ebenso wie das zufällige Entstehen in der Natur. Was Aristoteles über das Von-selbst sagt, ist allerdings konfus. Die Beispiele, die er in der Physik gibt, entsprechen dem oben erläuterten Begriff des Zufalls, wo zwei in sich erklärbare Bewegungsketten zufällig zusammentreffen (z. B. das Pferd kam von selbst, und das Kommen hat es gerettet, aber es kam nicht, um gerettet zu werden, d.h. das Gerettetwerden war etwas Hinzukommendes, 197b15 ff.). In anderen Texten jedoch verwendet er das Von-selbst so, dass es ein spontanes Entstehen von Naturwesen meint. In den biologischen Schriften gibt es mehrere Stellen, wo er annimmt, dass einfache Tiere wie Muscheln oder Krebse ohne Zeugung durch ein vorhergehendes Lebewesen derselben Art spontan aus anorganischer Materie entstehen, wenn sich in schlammigem Wasser bei Wärme Fäulnisprozesse abspielen. Da Wärme mit Leben zu tun hat, könnte man vielleicht sagen, dass sie dafür verantwortlich ist, dass der Schlamm sich zu einfachsten Formen verdichtet (763a25 ff.). Mit Zufall hat das eher wenig zu tun, da es nach Aristoteles häufig zu beobachten ist, dass unter diesen Bedingungen einfache Lebewesen entstehen. Insofern können wir dieses Problem der aristotelischen Biologie einklammern.

2. Zufall in der Ethik

Der Begriff der tyche hat uns bereits auf den Bereich des menschlichen Handelns verwiesen. Zunächst ist auch der Mensch ein natürliches Lebewesen, das entsprechend aktive und passive Vermögen hat. Das techne-Können und die angewandten Wissenschaften sind Ursachen von Veränderung in der Welt. In Buch IX 2 und 5 der Metaphysik stellt Aristoteles die Eigenart dieser Vermögen heraus. Normalerweise tritt beim Zusammenkommen eines aktiven und eines passiven Vermögens eine Betätigung des aktiven Vermögens ein, die beim Träger des passiven Vermögens eine Veränderung hervorruft, welche das telos der Bewegung ist. Wenn Feuer und Holz zusammentreffen, verbrennt das Feuer das Holz und das Holz brennt ab. Die Wirkungsweise menschlicher Vermögen ist komplizierter. Ihre Aktualisierung erfordert einen zusätzlichen Faktor, ein Wollen bzw. einen Vorsatz (prohairesis). Sie sind mit Logos verbundene, also rationale Vermögen, und dadurch zweiseitig. In einer geeigneten Situation, in der zwei korrelative Vermögen vorhanden sind, verwirklicht sich nicht sofort das aktive Vermögen. Die Situation löst vielmehr im Träger des aktiven Vermögens eine praktische Überlegung aus, die darüber entscheidet, ob das Vermögen aktiviert wird, und wenn ja, auf welche Weise der Zweck am besten erreicht werden kann (1048a5 ff.).

Wenn der Arzt und eine kranke Person zusammentreffen, wird der Arzt qua Arzt versuchen sie zu heilen, aber qua ihr Feind kann er sein medizinisches Können auch anwenden, um sie zu töten. Welchen dieser beiden Vorsätze er fasst, ist nicht Sache einer Entscheidung. Aristoteles ist der Auffassung, dass wir nicht unsere Ziele überlegen, sondern nur die Schritte zu ihrer Erreichung (Nikomachische Ethik 1112b11 ff.). Ob der Arzt die kranke Person heilt oder vergiftet, hängt von seinem Charakter ab. Was die Ziele liefert, auf die hin wir unsere technischen und sonstigen Vermögen aktivieren, sind unsere Tugenden und Laster. Diese enthalten durch Sozialisation erzeugte andauernde Dispositionen, d. h. Einstellungen zu unseren Affekten und Motiven. Die grundsätzliche Zielrichtung unserer Einzelhandlungen, in denen sich unsere technischen und anderen Fähigkeiten aktualisieren, ist von diesen Dispositionen bestimmt.

Dass der Arzt den Patienten heilen und ihm nicht schaden will, ergibt sich aus seinem Charakter. Doch dieser sagt ihm nicht konkret, was er hier und jetzt tun muss, um das Gewollte zu realisieren. Da Fähigkeiten zu einer techne komplexe Handlungen beinhalten, muss er die Schritte überlegen, mithilfe derer er in diesem Fall heilen kann. Das muss er so lange tun, bis er erreicht, was man heute eine Basishandlung nennen würde, etwas, das er hier und jetzt konkret tun kann. Zum Beispiel: Gesundheit bedeutet Harmonie der Körpervorgänge. Harmonie entsteht durch Wärme. Wärme kann man bewirken durch Reibung, also beginnt der Arzt mit der Massage, die nun in umgekehrter Richtung zum Ziel führt. Das heißt, die Zielursache, die Gesundheit, muss durch Analyse der Formursache (Gesundsein) so weit durchdacht werden, bis die Bewegursache gefunden ist, die hier und jetzt die Herstellung des Ziels bewirken kann (1032b6 ff.).

Indem er in dieser Weise einzelne Akte in der Welt ausführt, ist der Mensch eine der Ursachen in der Welt, die Veränderungen bewirken. Der Mensch ist, wie Aristoteles sagt (NE1112b32), eine bestimmte Art von Ursache, die in die Welt eingreift. Er kann innerhalb der Naturkausalität Bewegungsketten in Gang setzen. Er steht dabei nicht irgendwie über diesen Ketten oder außerhalb, sondern ist eine von vielen Ursachen in der Natur, allerdings eine von besonderer Art, da ihre Auslösung durch den Faktor des überlegten Vorsatzes um einen Schritt komplizierter ist als die anderen natürlichen Ursachen. Nun fragt Aristoteles, in welchen Kontexten der Mensch Spielraum zum Überlegen und Eingreifen hat, und erklärt das für möglich im Bereich der Wahrscheinlichkeit: dort, wo Bewegungen weder streng notwendig verursacht sind (wie die Bahn der Planeten) noch beliebig aufeinander folgen (wie beim Wetter) noch zufällig sind (Finden eines Schatzes), sondern wo Dinge meistens so geschehen (hos epi to poly), aber das Vorgehen und der Ausgang im Einzelfall offen ist, wie das für die techne, z. B. die Medizin gilt (1112b3 ff).

Hier geraten wir in Probleme. Erstens hat Aristoteles offenkundig andere Intentionen als die heutige Kausaltheorie. Ihn interessiert, wie wir konkrete Zwecke in Einzelsituationen zurückführen auf etwas, das in unserer Hand liegt, das wir bewirken können. Zweitens aber treten an dieser Stelle der Theorie Konfusionen auf, die durch die Vermengung von Fähigkeits-basierten teleologisch beschriebenen Zusammenhängen und bloßen kausalen Ereignisfolgen zustande kommen. Beim Menschen als Handlungsursprung geht es um Einzelsituationen, in denen rationale menschliche Fähigkeiten und Vermögen der involvierten Gegenstände zusammenspielen. Da sich, wie wir gesehen haben, in Einzelsituationen immer parallel laufende Veränderungen mit der geplanten überlagern können, also kata symbebekos den Ablauf stören und in eine andere Richtung lenken können, ist hier angesichts der unendlichen Zahl möglicher symbebekota das Ergebnis offen. Daraus folgt aber nicht, dass die Zusammenhänge, wenn man alle Details der Einzelsituation kennen würde oder sie vollständig isolieren könnte, nicht gesetzmäßig sind. Wie Aristoteles sagt, tritt im Bereich der nicht-rationalen Vermögen beim Zusammentreffen des Trägers eines passiven Vermögens und des Trägers eines korrelativen aktiven Vermögens die Wirkung, welche immer in einer Veränderung des Trägers des passiven Vermögens besteht, notwendig ein, wenn nichts hindert (1048a5 ff.). Wo das aktive Vermögen eine menschliche Fähigkeit ist, gilt das nicht, weil die Fähigkeit zweiseitig ist, also etwas oder sein konträres Gegenteil bewirken kann. Erst wenn ihr Träger eine prohairesis gebildet hat, einen Handlungsvorsatz in die eine Richtung, kann er eine Veränderung bewirken und wird sie bewirkt. Bei den rationalen Vermögen nimmt Aristoteles nun aber mögliche Hindernisse mit in die Zuschreibung des Könnens hinein: Das „wenn nichts hindert“ brauche man hier nicht hinzuzufügen, weil das Können nur dann vorliege (1048a17ff). Aber wenn alle diese Situationsbedingungen als gegeben angenommen werden, würde man vermuten, dass die Veränderung notwendig eintritt. Und wenn sich diese Bedingungen fixieren und formulieren lassen, dann haben wir es bei den Gesetzmäßigkeiten, welche das Zusammenspielen der Bedingungen regeln, nicht mehr mit meistens geltenden Regularitäten zu tun, sondern mit solchen, die immer gelten. Denn sonst müsste Aristoteles sagen, dass bei einem solchen Zusammentreffen meistens eine Veränderung eintritt.

Dass Aristoteles im Fall des menschlichen Vermögens nicht nur plausibel den zusätzlichen Faktor der prohairesis in das Geschehen einbaut, sondern auch die möglichen Störfaktoren in die Definition des Könnens einbezieht, zeigt, dass hier eine begriffliche Unterscheidung fehlt zwischen dem Vermögen und der Gelegenheit, anders formuliert, zwischen dem Vermögen und dem Tunkönnen hier und jetzt, also dem andauernden Vermögen und dem Tunkönnen in der singulären Handlungssituation. Die besonderen Schwierigkeiten solcher singulärer Möglichkeitsaussagen sind Aristoteles bekannt und werden von ihm mit den Begriffen der modalen Möglichkeit und Notwendigkeit, welche nicht prädikativ, sondern Satzoperatoren sind, zusammengebracht. Vermutlich braucht man solche modalen Möglichkeitsaussagen, um die singulären Situationen beschreiben zu können, in die menschliches Handeln eingreifen kann. Da Aristoteles’ Begrifflichkeit trotz solcher weiterführenden Überlegungen letztlich dem Gegenstands-Vermögens-Modell verhaftet bleibt, gerät man dabei aber in komplexe Schwierigkeiten, die ich hier nicht mehr darstellen kann.

Literaturhinweise

Frede, Dorothea (1970), Aristoteles und die Seeschlacht, Hypomnemata 27, Göttingen

Kenny, Anthony (1979), Aristotle’s Theory of the Will, London

Weiss, Helene (1942), Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, Basel

Wieland, Wolfgang (²1970), Die aristotelische Physik, Göttingen

Wolf, Ursula (²2020), Vermögen und Möglichkeit, Berlin


Ursula Wolf ist Seniorprofessorin für Philosophie an der Universität Mannheim.


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