22 Mai

Ach, das Kopftuch… Gegen staatliche Enthüllungsverordnungen

von Johannes Drerup (Freie Universität Amsterdam & Koblenz-Landau)


Einleitung

Die öffentlichen Schulsysteme liberaler Demokratien sind kontinuierlich Austragungsorte von Toleranzdebatten und -konflikten, in denen es stets auch um die legitime Rolle und Funktion von Religion, d.h. religiöser Praktiken, Überzeugungen und Symbole im Rahmen eines weltanschaulich neutralen Staates geht. Ausgangspunkt und Gegenstand dieser Kontroversen ist die Frage, wie in einer pluralistischen Gesellschaft mit divergierenden Wertvorstellungen umgegangen werden sollte, die in vielen Fällen zu Wertkonflikten Anlass geben können, wenn es um die Festlegung, Abstimmung und Durchsetzung von Aufgaben, Rechten und Pflichten des liberalen Staats, von Eltern und Religionsgemeinschaften und von Kindern geht. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand in den letzten Jahren immer wieder das Kopftuch, eine Kontroverse, die derzeit nicht zuletzt durch die Verbote des Kopftuchtragens für Kinder (in Kindergärten und Grundschulen) in Österreich und entsprechende politische Vorschläge in Deutschland an politischer Brisanz gewonnen hat.[1] Gegner des Tragens von Kopftüchern in Kindergärten und öffentlichen Schulen berufen sich in Teilen auf eine spezifische Auslegung des staatlichen Neutralitätsgebots und gehen z.B. davon aus, dass das Kopftuch mit der freien und selbstbewussten Entwicklung von Kindern nicht vereinbar und Ausdruck religiösen Zwangs sei. Befürworter dagegen interpretieren das Verbot als Ausdruck antireligiöser und dezidiert antimuslimischer Symbolpolitik, die auf die Einschränkung grundlegender Rechte (u.a. Religionsfreiheit) von Eltern und Kindern hinauslaufen. Im Folgenden sollen unterschiedliche Positionen in der öffentlichen Kontroverse über ein Kopftuchverbot in Kindergärten und öffentliche Schulen rekonstruiert und diskutiert werden. Eine entsprechende staatliche `Enthüllungsverordnung´, so meine Argumentation, ist mit einer angemessenen Interpretation grundlegender Prinzipien liberaler Politik und Erziehung nicht zu vereinbaren.

Der Kopftuchstreit: Zur Kritik staatlicher `Enthüllungsverordnungen´

Die Argumente von Gegnern des Tragens von Kopftüchern in Kindergärten und Grundschulen lassen sich in zwei Argumentationstypen untergliedern. Erstens werden Argumente vorgebracht, die davon ausgehen, dass das Kopftuch ein Symbol der religiösen Unterdrückung und der Indoktrination sei und deshalb mit der Achtung vor der sich entwickelnden personalen Autonomie von Kindern nicht zu vereinbaren sei (2.1). Zweitens wird davon ausgegangen, dass das Kopftuch als religiöses Symbol keinen legitimen Platz im Rahmen eines öffentlichen Schulsystems habe, da dies mit dem Prinzip staatlicher Neutralität nicht zu vereinbaren sei (2.2). Bevor diese beiden Argumentationen rekonstruiert und diskutiert werden, ist es ratsam auf den politischen Kontext der unterschiedlichen Versionen des Kopftuchstreites einzugehen. Es ist wohl zurecht bemerkt worden, dass der Streit um das Kopftuch und auch manche der ähnlich gelagerten Debatten z.B. über die Burqua oder die Beschneidung von Kindern primär als Formen der Symbolpolitik zu verstehen sind, in denen es – auch auf Grund der z.B. im Falle der Burqua eher geringen faktischen gesellschaftlichen Relevanz – weniger um Fragen der staatlichen Neutralität oder Ähnliches ging und geht, sondern eher um einen politisch orchestrierten Abwertungs- und Misstrauensdiskurs, der sich auf Ängste und Intoleranz gegenüber einer bestimmten Religion stützt (Z.B. gegenüber dem Islam[2]). Diese Interpretation gewinnt auch auf Grund des häufig eher einseitigen Fokus auf `den´ essentialistisch fixierten `Islam´ als Objekt und Auslöser von Toleranzdebatten und der damit verbundenen politischen Interessen und Strategien rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen eine gewisse Plausibilität. Anders sind zudem die teilweise heftigen Reaktionen z.B. in der Beschneidungsdebatte oder dem Streit über das Tragen des Hijabs durch Lehrerinnen kaum nachvollziehbar. Warum sollte z.B. eine Lehrerin mit Kopftuch per se eher dazu neigen, die Schüler_innen zu indoktrinieren, als eine Lehrerin ohne Kopftuch? Warum wird eine Jahrtausende alte Praxis mehr oder weniger plötzlich zum Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse über das Kindeswohl? Es gäbe sicherlich eine Reihe von weit relevanteren Themen, wenn es z.B. um das Thema des Kindeswohls geht (z.B. Fragen der Ernährung oder der Kinderarmut), die aber im Vergleich kaum in ähnlicher Weise die Gemüter bewegen. Die Einbettung von `Religions-Debatten´ in historisch gewachsene Hierarchien und Machtverhältnisse und die politische Nutzung dieser Debatten zur Konstruktion von Feindbildern und zur Schürung von religiösen Konflikten, sollte daher in einer Analyse der relevanten Argumentationen immer mitbedacht werden. Eine solche Analyse bleibt natürlich notwendig, will man den entsprechenden Argumenten etwas entgegensetzen, die, so wie die Beispiele Österreichs, Deutschlands, Frankreichs und anderer Länder zeigen, nicht bloß von akademischer Relevanz sind.

Was ist los unterm Kopftuch? Personale Autonomie, gleiche Achtung und Symbolpolitik

Die Frage, ob Kinder in öffentlichen Bildungsinstitutionen Kopftücher tragen dürfen sollten oder nicht, ist kaum zu trennen von der Frage, wie man das Kopftuch als Symbol deutet. Ist es vor allem als religiöses Symbol, als politisches Symbol und/oder als Symbol der Unterdrückung der Frau zu deuten? Geht man davon aus, dass das Kopftuch per se ein Symbol der Unterdrückung der Frau sei oder Ausdruck einer politischen, eher fundamentalistischen Version des Islams, so ließe sich argumentieren, dass es mit grundlegenden liberalen Erziehungszielen, personaler Autonomie und der gleichen Achtung der Person nicht zu vereinbaren wäre. Einer solchen essentialistischen Interpretation wird man jedoch insbesondere dann mit Skepsis begegnen, wenn man die Geschichte von Kritiken am Islam, z.B. in kolonialistischen und neokolonialistischen Kontexten berücksichtigt, in denen es nur vordergründig um die Emanzipation der Frau, eher aber um die Legitimation `westlicher´ Superioritätsansprüche ging. Es ist daher sinnvoll, sich die historische Wandelbarkeit und vielfältige Interpretierbarkeit nicht nur religiöser Symbole in politisch motivierten Debatten zu vergegenwärtigen. Heins resümiert hierzu: „Was heute auf dem europäischen Kontinent die Kopfbedeckungen muslimischer Frauen oder die plötzlich als skandalös empfundene jüdische und muslimische Praxis der Knabenbeschneidung sind, waren vor hundert Jahren in New York die von osteuropäischen Juden geschätzten Essiggurken und andere eingelegte Esswaren, von denen patriotische Sozialreformer und Gesundheitsbeamt glaubten, sie würden ihre Genießer zu `nervösen, instabilen´ Subjekten und letztlich zu `schlechten Amerikanern´ machen (zit. in Ziegelmann 2011)“[3]. Wenn also das Kopftuch als Zeichen „kollektiver Zurückgebliebenheit oder einer moralischen Bedrohung des Gemeinwesens gedeutet“[4] wurde und wird, sollte man sich mit vorschnellen Urteilen und Generalisierungen besser zurückhalten. Die `wahre´ Bedeutung eines Symbols, wie des Kopftuchs, ist nicht nur abhängig von historischen Wandlungsprozessen, sondern auch abhängig vom jeweiligen soziopolitischen Kontext und Machtkonstellationen, in denen bestimmte Deutungen propagiert werden. Das Tragen des Kopftuchs bedeutet in Saudi Arabien mit Sicherheit nicht das Gleiche wie in der Europäischen Union, so wie auch die Art und Weise, das Kopftuch zu tragen, sowie die Motive, es zu tragen oder Kindern ein Kopftuch anzuziehen, in liberalen Demokratien in unterschiedlichen Kontexten und je nach Individuum variieren. Dies ist in erster Linie natürlich eine empirische Frage: Zumindest mit Bezug auf Erwachsene in Deutschland gilt, dass „der ganz überwiegende Teil der Kopftuch tragenden Frauen eine Eigenmotivation erkennen lässt, während Erwartungen der Umwelt für lediglich etwa 12 % maßgeblich sind“[5]. Auch die konkrete Bedeutung des Kopftuchs in unterschiedlichen islamischen Religionsgemeinschaften variiert natürlich. So wird es häufig so gedeutet, dass es Kinder erst mit der Geschlechtsreife tragen sollten, nicht jedoch vorher, was wiederum zu der Deutung Anlass gegeben hat, dass es im Falle von Kindern vor der Geschlechtsreife nicht als religiöses Symbol zu interpretieren wäre (und ein Verbot daher im Unterschied etwa zu einem Verbot der Kippa nicht mit dem staatlichen Neutralitätsgebot gegenüber unterschiedlichen Religionen konfligieren würde; vgl. 2.2).

Eines der plausibelsten Argumente für ein Kopftuchverbot ist sicherlich, dass das Votum für das Kopftuchtragen von kleineren Kindern, d.h. von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter, von religiösen Gruppierungen, so die Vermutung, vorgebracht wird, die eher traditionellen, wenn nicht fundamentalistischen Interpretationen des Islams anhängen. Durch ein Verbot, so die politische und empirische Annahme, wird ein politisches Signal gesendet an Fundamentalisten und zugleich wird so idealiter das Kind von religiöser Indoktrination geschützt. Taylor und Maclure stellen hierzu fest: „Hier stellt sich jedoch offensichtlich die Frage nach dem logischen Bezug zwischen dem Verbot sichtbarer religiöser Symbole in öffentlichen Schulen und dem Schutz junger Mädchen, die unbegründetem Druck unterworfen sind. Auf welche Weise schützt das Gesetz junge Mädchen, die in ihrer Gemeinschaft zu Opfern von Belästigungen geworden sind? Inwiefern ist dieses Gesetz geeignet, unzumutbaren Forderungen nach Ausnahmeregelungen in öffentlichen Institutionen entgegenzutreten? Immerhin weiß man, daß ein Verbot die Religionsfreiheit von Schülern beschränkt, die freiwillig ein sichtbares religiöses Symbol des Islam, des Judentums oder der Sikh-Religion tragen“[6].

Zunächst kann man also in Frage stellen, ob ein Verbot wirklich den betroffenen Kindern hilft, insbesondere angesichts des Problems, dass es kontraproduktive Nebeneffekte zu haben scheint (z.B., dass die Kinder als Reaktion auf Verbote in religiösen Privatschulen angemeldet werden; im französischen Fall sind diese Effekte nur in geringem Umfang eingetreten). Im französischen Fall werden z.B. vor allem die „politischen Kosten“ des Kopftuchverbots hervorgehoben: „Die guten Beziehungen zwischen dem Innenminister Nicolas Sarcozy und den muslimischen Verbänden, deren sichtbarster Ausdruck die Gründung des Conseil francais du culte muselman (FFCM) … wurden zerstört, dessen Autorität in den muslimischen Kreisen beschädigt und der Zulauf vor allem junger Muslime zu den radikalen Gruppierungen verstärkt“.[7]

Da das spezifische Verhältnis des Kopftuchs zu bestimmten pädagogischen Praktiken bzw. zu Praktiken der religiösen Indoktrination nicht in jedem Fall offensichtlich ist, und man davon ausgehen kann, dass das Hauptproblem, wenn überhaupt, die Indoktrination und nicht das entsprechende Symbol darstellt, bleibt eher unklar, ob die im Rahmen der von politisch interessierter Seite favorisierten Mittel (Verbot des Kopftuchs) tatsächlich sinnvoll sind, um die angestrebten Ziele (z.B. personale Autonomie als Erziehungsziel) zu erreichen. Es ist schließlich weder Aufgabe des liberalen Staates, über die wahre, theologisch angemessene Bedeutung religiöser Symbole zu spekulieren, noch das liberale Ideal einer autonomen Lebensführung – im Unterschied zu personaler Autonomie als Erziehungsziel, welches mit der autonomen Wahl eines nichtautonomen Lebensform vereinbar ist – allen seinen Bürgern aufzuoktroyieren. Einwenden lässt sich hiergegen, dass, während bei älteren Kindern das Kopftuch sicherlich häufig aus mehr oder weniger freien Stücken getragen wird, gerade kleinere Kinder z.B. unter 14 Jahren sich sicherlich nicht freiwillig dafür entschieden haben und es daher auch eher unklar ist, ob es in solchen Fällen streng genommen schon um eine Einschränkung der `Gewissensfreiheit´ gehen kann, da noch keine stabile Konzeption des Guten ausgebildet wurde. Dies gilt aber natürlich auch für viele andere Entscheidungen, nicht nur solche religiöser Art.

Die zentrale pädagogisch und politische relevante Frage scheint jedoch weniger, ob Kinder religiöse Symbole tragen sollten, sondern, ob diese Symbole dazu beitragen, die Entwicklung ihrer personalen Autonomie zu untergraben. Solange Kinder in ihren Familien und Gemeinschaften nicht unterdrückt werden und sie die Fähigkeiten und Grundwerte kultivieren, die konstitutiv sind für liberale Demokratie (z.B. Toleranz), und solange für sie die potentielle Wahl anderer Lebensformen grundsätzlich offengehalten wird, spricht aus dezidiert liberal-demokratischer Perspektive wenig für ein Verbot. Man kann – mit oder ohne Kopftuch – lernen, anderen Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, gleichen Achtung als Person gegenüberzubringen, man kann – mit oder ohne Kopftuch – etwas über anderer Lebensformen und -optionen lernen und man kann – ebenfalls mit oder ohne Kopftuch – lernen, sich kritisch reflexiv mit tradierten religiösen Vorgaben auseinanderzusetzen. Diese Beispiele zeigen bereits an, dass die Frage, ob ein Kopftuch getragen wird oder nicht, zu unterscheiden ist von Fragen der Erziehung und Bildung in öffentlichen Institutionen liberaler Demokratien. Die Beantwortung dieser Frage hat schließlich keinerlei Einfluss auf die zentralen pädagogischen Fragen wie z.B. Fragen der inhaltlichen Gestaltung des an liberal-demokratischen Grundwerten auszurichtenden Curriculums. In modernen Gesellschaften ist es faktisch so gut wie unmöglich, Menschen mit anderen Wertorientierungen nicht zu begegnen, und es gibt auch deshalb kein Recht darauf abgeschirmt zu werden von anderen Konzeptionen des Guten. Religiöse Eltern müssen auch deshalb, unabhängig von ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft, akzeptieren, dass ihre Kinder mit anderen Auffassungen des Guten konfrontiert werden, dass sie z.B. lernen, dass es Menschen mit anderen politischen, religiösen etc. Orientierungen gibt und diesen mit gleicher Achtung zu begegnen ist. Sie müssen ebenfalls akzeptieren, dass z.B. christlicher oder islamischer Religionsunterricht im Kontext liberaler Demokratie nur dann akzeptabel ist, wenn die Art der Vermittlung nicht darauf angelegt ist, die Wahl andere Lebensformen prinzipiell zu versperren oder diese abzuwerten. Wenn es um die Frage des Kopftuchs und seiner Deutung geht, ist es aus pädagogischer Perspektive im Rahmen des öffentlichen Schulsystems liberaler Demokratien in jedem Fall von primärer Relevanz, ob und inwieweit das Tragen des Kopftuchs als inkompatibel mit zentralen liberal-demokratischen Erziehungs- und Bildungszielen gelten kann, wofür jedoch wenig spricht.

Während eine pädagogische Kontextualisierung der Debatte über das Kopftuch in Schulen einige der wichtigsten Vorbehalte zumindest teilweise entkräften kann, ist es sinnvoll noch einmal auf den soziopolitischen Kontext einzugehen, in dem über das Kopftuch geredet wird. Wie bereits angedeutet ist es eher fraglich, ob es Kopftuchgegnern tatsächlich um die Autonomie oder gar Emanzipation von Kindern geht oder ob es nicht doch andere politische Gründe sind, die dazu beitragen, den Fokus immer wieder aufs Neue auf dieses Beispiel zu lenken. Da empirisch unklar ist, wie viele Kinder von einem Verbot des Kopftuchtragens eigentlich betroffen sind[8], bleibt auch unklar, inwieweit es sich um eine politisch motivierte Phantomdebatte und eine einseitige Skandalisierung handelt und inwieweit es sich um ein `wirklich´ relevantes politisches und pädagogisches Problem handelt. Insbesondere angesichts des auch in wissenschaftlichen Debatten kultivierten, hochgradig einseitigen Fokus auf potentielle Konflikte zwischen einer religiösen Erziehung, damit verbundenen religiösen Symbolen und personaler Autonomie (und nicht z.B. auf Konflikte zwischen personaler Autonomie und den potentiellen Auswirkungen einer kapitalistischen Konsumkultur), zeigt die Debatte, wie groß die Gefahr ist, bei der Bestimmung der legitimen Grenzen der Toleranz im liberalen Staat von autonomieethischen Doppelstandards auszugehen, die Mitglieder traditionaler Gemeinschaften stigmatisieren und diskriminieren, indem ihnen Autonomie mit paternalistischer Motivation aberkannt wird. Die paternalistisch begründete Instrumentalisierung von Aberkennung von Autonomie kann dann dazu führen, dass bestimmte Praktiken (Piercing, Schönheitschirurgie etc.) als vollkommen normaler Bestandteil einer liberalen Kultur angesehen werden, während andere Praktiken ausgehend von Doppelstandards selektiv zum Problem gemacht (z.B. das Tragen eines Hijabs) und unter autonomieethischen Generalverdacht gestellt werden: „It seems that the only relevant difference between them and hijab wearing is that the former are familiar practices of our culture, though they may well signal the absence of autonomy, they are simply taken for granted“.[9] Unterschieden wird zwischen denen, die Kultur haben, und denen, die durch ihre Kultur geprägt werden, um so Superioritätsansprüche und Herrschaftsverhältnissen zu perpetuieren und zu festigen. Das Kopftuch als sichtbares Symbol und als Gegenstand von Sondergesetzen wird dabei zu einem Symbol der Diskriminierung und zu einem Vehikel der Identitätspolitik der Mehrheitsgesellschaft, die auf eine advokatorische, von staatlicher Seite verordnete Identitätsfestlegung hinausläuft (das Tragen des Kopftuchs=Ausdruck eines defizitären Selbst- und Sozialverhältnisses). Auf diese Art wird das Signal an Mitglieder von islamischen Religionsgemeinschaften gesendet, dass sie nicht willkommen sind, und das Kopftuch verwandelt sich ggf. aus der Perspektive der Kinder in ein Objekt der Scham. Kinder lernen so, dass die Art und Weise, wie sie und ihre Eltern ihre Religion und Individualität ausleben, per se nicht tolerabel ist, dass sie auf problematische Weise anders sind. Die Selbstbestimmung, Emanzipation oder gar Toleranz der Kinder oder die Integration von Muslimen fördert man auf diese Art der angstgetriebenen Verbotspolitik sicherlich nicht. Wenn es aus Sicht der Kopftuchgegner tatsächlich um Grundwerte liberaler Demokratie wie personale Autonomie, gleichen Achtung und Toleranz geht, dann scheint viel dafür zu sprechen, diese besser ohne Rekurs auf eine staatliche Enthüllungsverordnung durchzusetzen. Solange das Tragen des Kopftuchs nicht mit den Grundwerten einer liberalen Demokratie und einer entsprechend orientierten Erziehung und Bildung inkompatibel ist, ist es als legitimer Aspekt und Ausdruck des religiösen Pluralismus zu akzeptieren.

Staatliche Neutralität und der politische Wert des Pluralismus

Ein weiteres Argument, welches von Befürwortern von Verboten des Kopftuchtragens für Kinder an öffentlichen Schulen vorgebracht wird, geht davon aus, dass religiöser Symbole in diesem Kontext nicht mit dem staatlichen Neutralitätsgebot zu vereinbaren seien. Taylor und Maclure unterscheiden zwischen unterschiedlichen `Regimen der Laizität´, die von den Leitwerten der gleichen Achtung und der Gewissensfreiheit ausgehen, und jeweils in unterschiedlicher Weise interpretieren und bewerten, was in diesem Kontext staatliche Neutralität heißen soll. Sie unterscheiden republikanische und liberal-pluralistische Regime der Laizität. Während das letztere als „ein politischer Organisationsmodus“ verstanden werden kann, „dessen Aufgabe es ist, das optimale Gleichgewicht zwischen der Achtung der moralischen Gleichheit und der Achtung der persönlichen Gewissensfreiheit zu finden“, schreibt das republikanische Modell der Laizität „die Aufgabe zu, über die Achtung der moralischen Gleichheit hinaus die Emanzipation der Individuen und die Herausbildung einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität zu fördern, was eine Distanzierung der religiösen Zugehörigkeit und deren Verlagerung in die Privatsphäre verlange“.[10] Es sind Varianten des republikanischen Modells, die sich im Rahmen der Debatte über das Tragen von Kopftüchern in Grundschulen und Kindergärten für ein Verbot aussprechen.

Während man aus pluralistisch-liberaler Sicht dieses Gebot so deuten wird, dass es eine Pluralität von unterschiedlichen Konzeptionen des Guten und mit diesen verbundenen Symbolen, Praktiken, Festen etc. gibt, die auch im öffentlichen Raum der Schule einen Platz haben sollten, gehen Vertreter eines republikanischen Regimes der Laizität davon aus, dass diese in die private und nicht die öffentliche Sphäre gehören. Dies wurde in Frankreich auch mit dem Verweis darauf begründet, dass es sich bei dem Kopftuch sogar „um einen Ausdruck von Feindseligkeit gegenüber der Republik und ihrem Prinzip der laicité“ handle[11]. Aus dieser Perspektive müssten dann – wie im Falle der öffentlichen Schulen in Frankreich – alle religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum getilgt werden. Eine spezifische Bevorteilung einer bestimmten Religion auf Grund einer vermeintlichen Sonderstellung in der abendländischen Kultur, so wie dies im Falle des Kruzifixstreites propagiert wurde, ist aus dieser Sicht nicht mit dem Neutralitätsgebot zu vereinbaren. Das zentrale Problem eines republikanischen Regimes der Laizität besteht darin, dass es staatliche Neutralität mit einer radikalen, staatlich verordneten Säkularisierung verwechselt, welche zurecht von religiöser Warte als Ausdruck der Intoleranz gewertet werden kann. Sinnvoller ist es davon auszugehen, dass „der säkulare Staat … sich in einem Verhältnis der Äquidistanz zu allen religiösen wie weltanschaulichen Positionen (befindet), nicht in einer Oppositionshaltung zu ihnen“[12]. Dies ist aus Sicht eines liberal-pluralistischen Verständnisses von Laizität prinzipiell vereinbar mit dem Zulassen und der Inklusion von religiösen Symbolen und Praktiken in der Öffentlichkeit des Schulsystems. Dies kann als eine Form der symbolischen Legitimation der entsprechenden Orientierungen und Identitätsprofile verstanden werden[13], die darauf ausgerichtet ist, es allen Kindern zu ermöglichen, sich als Mitglieder einer liberalen und genuin pluralistischen Gesellschaft willkommen zu fühlen.

Die von Vertretern republikanischer Regime der Laizität propagierte verbotsorientierte Sichtweise auf religiöse Symbole (wie z.B. das Kopftuch) verfängt sich dagegen in einer doppelten Fetischisierung: Einmal einer Fetischisierung der regulatorischen Arrangements[14], die zur Durchsetzung der Ziele von Laizität als notwendig angesehen werden (Kopftuchverbot), und einer Fetischisierung des Gegenstands, auf den sich diese Arrangements richten (das Kopftuch). Diese doppelte Fetischisierung erweist sich jedoch als kontraproduktiv, wenn es darum geht, die zentralen Ziele von Laizität zu erreichen. Hiergegen kann z.B. eingewendet werden, dass Pluralismus und die Manifestation damit verbundener Symbole und Praktiken zentrale politische Werte darstellen: „Pluralism is an important political value insofar as social diversity enriches our lives by expanding our understanding of differing ways of life. To reap the benefits of social diversity, children must be exposed to ways of life different from their parents and – in the course of their exposure – must embrace certain values, such as mutual respect among citizens, that make social diversity both possible and desirable”[15]. Die begründete Hoffnung ist in diesem Fall, dass die Gewöhnung an Pluralität zum Abbau von Vorurteilen beiträgt und ermöglicht, auch die Sichtweisen von Menschen unterschiedlichen Glaubens im direkten Kontakt zu ändern. Auf diese Art kann das Zusammenleben und -lernen zu einer Entdramatisierung von vermeintlich großen Unterschieden beitragen, die häufig mit politischer Motivation in Antagonismen verwandelt werden[16]. Taylor und Maclure stellen entsprechend fest, dass „Kinder, die schon in frühen Jahren mit der Vielfalt in Berührung kommen, die sie auch im Leben außerhalb der Schule antreffen werden, diese Unterschiede leichter entmystifizieren können und daher weniger geneigt sein werden, sie als Bedrohung wahrzunehmen. Ein gutes Zusammenleben in einer durch Vielfalt geprägten Gesellschaft erfordert, daß man ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Identitäten als normal zu betrachten lernt“[17]. Den beiden Leitwerten der Laizität, Gewissensfreiheit und gleiche Achtung, ist auch aus diesem Grund besser gedient, indem man sie auf einer organisatorischen (z.B. Zusammensetzung der Schüler- und Lehrerschaft), curricularen (z.B. durch Formen der demokratischen Erziehung in entsprechenden Unterrichtsfächern, die über unterschiedliche Konzeptionen des Guten aufklären) und interpersonalen Ebene (respektvolle Interaktion mit und Gewöhnung an unterschiedliche Identitätsprofile) politisch absichert und pädagogisch fördert. Dies muss nicht unbedingt auf eine Wertschätzung von unterschiedlichen Konzeptionen des Guten hinauslaufen, was viele Menschen überfordern dürfte, aber mindestens auf die gleiche Achtung vor der Person, der gleiche Rechte zustehen, und eine basale Akzeptanz des Faktums und auch des Werts des Pluralismus. Das schließt selbstverständlich die Kritik unterdrückerischer Praktiken und Einstellungsmuster, die nicht mit den Grundwerten liberaler Demokratie zu vereinbaren sind, ebenso wenig aus, wie dass es unter „bestimmten Umständen“ durch die Erfordernisse einer „Erziehung zur Toleranz und zum Pluralismus“ gerechtfertigt werden kann, Elternrechte bzw. die Forderungen von Eltern nach Ausnahmeregelungen für ihre Kinder einzuschränken (etwa bei Konflikten über die Ausgestaltung der Inhalte bestimmter Unterrichtsfächer)[18].

Fazit

Die Debatte über das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Schulsystem ist immer auch eine Stellvertreterdebatte, in der Wertkonflikte liberaler Demokratien (re)konstruiert und ausgetragen werden. Damit ist das doppelte Problem verbunden, dass der Fokus auf das Kopftuch als Stellvertreter für vermeintlich `Kultur- oder Religionskonflikte´ in vielen Fällen von politisch und pädagogisch weit relevanteren Problemen ablenkt und dass die Kopftuchdebatte zugleich selbst als Instrument der Diskriminierung genutzt wird. Diese Instrumentalisierung der Debatte dürfte jedoch kaum mit Grundwerten liberaler Demokratien (um deren Verteidigung es in den jeweiligen Debatten ja eigentlich gehen sollte) zu vereinbaren sein. Diese Grundwerte, wie gleiche Achtung vor der Person und ihren Rechten und religiöse und politische Toleranz, lassen sich auch ohne Kopftuchverbote politisch durchsetzen und pädagogisch fördern. Die Fetischisierung eines Kleidungsstücks und die davon abgeleiteten staatlichen Enthüllungsverordnungen in öffentlichen Schulen werden hierbei nicht weiterhelfen. Sie schaffen im Gegenteil eher die Probleme, die sie vorgeben zu lösen.[19]


Johannes Drerup ist Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam und vertritt eine Professur für Erziehungs- und Bildungsphilosophie an der Universität Koblenz-Landau.


[1] Vgl. z.B.: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-05/integrationsbeauftragte-annette-widmann-mauz-kopftuchverbot-schulen (Zugriff am 17.05.2019).

[2] Der in diesem Kontext häufig erhobene Rassismusvorwurf ist gleichwohl mit Vorsicht zu genießen, da er häufig nicht nur eine sachliche Debatte im Wege steht, sondern in vielen Fällen auch selbst Ausdruck von illiberalen Einstellungsmustern und damit verbundener Argumentationsinkompetenz ist. Er wird häufig gerade dann erhoben, wenn das Recht auf freie Rede und freie Diskussion unterbunden werden soll, wie auch die Versuche zeigen, die Frankfurter Konferenz über das Kopftuch im Jahr 2019 zu desavouieren und zu boykottieren. Hierzu: Thiel, Thomas (2019): Wider den Opferkult. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wende-in-frankfurter-kopftuchkonferenz-raum-fuer-freie-debatte-16179391.html (Zugriff am 16.05.2019).

[3] Heins, Volker (2013): Der Skandal der Vielfalt. Frankfurt am Main: Campus, S. 11

[4] ibid. S. 11

[5] Steinberg, Rudolf (2015): Kopftuch und Burka. Baden-Baden: Nomos, S. 214.

[6] Maclure, Jocelyn/Taylor, Charles (2011): Laizität und Gewissensfreiheit. Berlin: Suhrkamp, S. 47.

[7] Steinberg, Rudolf (2015): Kopftuch und Burka. Baden-Baden: Nomos, S. 61.

[8] Gökkaya, Hasan/Sadigh, Parvin (2018): Das Kopftuch für Kinder ist kein Trend. In: Die Zeit. Online: https://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2018-04/nordrhein-westfalen-kopftuchverbot-maedchen-debatte-meinungen (Zugriff am 16.05.2019).

[9] Galeotti, Elisabetta (2015): Autonomy and cultural practices: The risk of double standards. In: European Journal of Political Theory 14, S.277-296/S. 290.

[10] Maclure, Jocelyn/Taylor, Charles (2011): Laizität und Gewissensfreiheit. Berlin: Suhrkamp, S. 47.

[11] Taylor, Charles (2012): Für eine grundlegende Neubestimmung des Säkularismus. In: Mendieta, Eduardo/ VanAntwerpen, Jonathan (Hrsg.): Religion und Öffentlichkeit. Berlin: Suhrkamp, S. 53-88/ S. 64.

[12] Dreier, Horst (2018): Staat ohne Gott. München: C.H. Beck.

[13] Galeotti, Elisabetta (2002): Toleration as Recognition. Cambridge: Cambridge University Press.

[14] Taylor, Charles (2012): Für eine grundlegende Neubestimmung des Säkularismus. In: Mendieta, Eduardo/ VanAntwerpen, Jonathan (Hrsg.): Religion und Öffentlichkeit. Berlin: Suhrkamp, S. 53-88.

[15] Gutmann, Amy (1999): Democratic Education. Princeton: Princeton University Press, S. 33.

[16] Heins, Volker (2013): Der Skandal der Vielfalt. Frankfurt am Main: Campus, S. 11.

[17] Maclure, Jocelyn/Taylor, Charles (2011): Laizität und Gewissensfreiheit. Berlin: Suhrkamp, S. 62.

[18] ibid., S. 136

[19] Die hier vorgestellten Überlegungen stützen sich auf einen Aufsatz, der 2019 erscheinen wird in: Balzer, Nicole/ Beljan, Jens/Drerup, Johannes (Hrsg.): Charles Taylor. Perspektiven der Erziehungs- und Bildungsphilosophie. Münster: mentis.

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