22 Sep

Anerkennung und Armut

Von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Anerkennung hat sich in den letzten Jahren als ein zentrales Konzept in der politischen Philosophie und Sozialphilosophie etabliert. Ausgehend von seiner Verwendung bei Fichte und Hegel und insbesondere durch seine Aktualisierung im Werk von Axel Honneth, aber auch bei Denkerinnen wie Nancy Fraser oder Charles Taylor, wird Anerkennung zur Analyse und Kritik sozialer Verhältnisse herangezogen. Armut kann als Missachtung und Nichtanerkennung kritisiert werden.

Kritik der Armut

Armut kann aus anerkennungstheoretischer Sicht auf vierfache Weise kritisiert werden:

Die erste Form der Kritik richtet seinen Blick auf das armutsbetroffene Individuum. Armut löst Gefühle der Scham, der Selbstenterwertung und der Entwürdigung aus. Armut wirkt als toxischer Stress in Familien und Nahebeziehungen, insbesondere kann sie auch Eltern-Kind-Beziehungen stören. Armut ist meist mit zahlreichen Erfahrungen der sozialen Geringschätzung und Stigmatisierung verbunden und viele armutsbetroffene Menschen sind aus den sozialen Feldern, in denen soziale Wertschätzung erfahren werden kann, ausgeschlossen (z.B. dem Arbeitsmarkt). Schließlich ist Armut in Wohlfahrtsstaaten ein Versagen sozialer Rechte und die Inanspruchnahme von sozialer Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat ist selbst wieder stigmatisiert und mit zahlreichen Einschränkungen und Kontrollen verbunden.

Die zweite Form der Kritik bezieht sich auf Armut als soziales Phänomen. Das Leistungsprinzip wird in modernen Gesellschaften und Staaten diskursiv hochgehalten, aber in Wirklichkeit findet es gar keinen Eingang in die sozialen Praktiken. Doch dieses Auseinanderfallen der Ideologie der Marktgesellschaft und den tatsächlichen ökonomischen Prozessen wird von den armutsbetroffenen Personen nicht wahrgenommen, sondern sie identifizieren sich großteils weiterhin mit dem Leistungsprinzip.

Die dritte Form der Kritik bezieht sich auf die armutsproduzierenden Politiken. Es wurde schon angedeutet, dass Armut kein natürliches Schicksal ist, sondern durch ökonomische Prozesse und durch das Fehlen ausreichender wohlfahrtsstaatlicher Absicherung produziert und stabilisiert wird. Das betrifft auch die intergenerationelle Weitergabe der sozioökonomischen Position, da entgegen den Versprechen der Leistungsgesellschaft die Lebenschancen also Bildung, Einkommen und insbesondere Vermögen noch immer stark vom Elternhaus abhängen. Eine kritische Theorie der Anerkennung kann auch hier wieder auf das Brüchigwerden oder gänzliche Fehlen von sozialer Wertschätzung und soziale Rechte hinweisen, die diese Politiken zu ihrem Programm gemacht haben.

Die vierte Form der Kritik bezieht sich auf die normativen Grundlagen der Anerkennungstheorie selbst. Anerkennung als soziale Wertschätzung wirkt differenzierend und diese Differenzierung, vor allem wenn sie marktlich vermittelt wird, also zu einer Differenzierung von Einkommen, Macht und sozialer Position führt, kann soziale Ungleichheiten erzeugen. Die Frage ist also, ob Armutsphänomene nicht tendenziell in jeder Gesellschaft angelegt sind, die soziale Wertschätzung zu einem Strukturprinzip erhebt und über sie soziale Positionen und Güter verteilt. Politisch wirft das die Frage auf, wie widerstrebende Anerkennungsforderungen so ausgeglichen werden können, dass sie zwar soziale Differenzierung zu lassen, aber nicht zu sozialer Abwertung und zu großer sozialer Ungleichheit und Armut führen.

Globale Armut

Armut ist ein globales Problem und die tiefste und meiste Armut findet sich außerhalb moderner Wohlfahrtsstaaten in den Ländern des globalen Süden. Wie also kann hier Anerkennung als normatives Konzept kritisch eingesetzt werden?

Die erste Herausforderung ist eine methodische. Während die immanente Kritik im Rahmen von Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsgesellschaften sich darauf beziehen kann, dass hier immanente Standards der Anerkennung durch Armut untergraben und gefährdet werden, die armutsbetroffene Bevölkerung also entgegen den Versprechen des Leistungsprinzips und ihrer sozialen Rechte in Armut leben, ist der Maßstab einer immanenten Kritik auf globaler Ebene schwieriger zu finden. Viele Gesellschaften, in denen die globalen armutsbetroffenen Menschen leben haben weder funktionierende Märkte noch wohlfahrtsstaatliche Institutionen und unterscheiden sich auch sozio-kulturell stark von den Ländern des globalen Nordens. Es ist hier also nicht so, dass immanente Standards verletzt werden würden, sondern diese Standards der Anerkennung haben sich oft noch gar nicht herausgebildet.

Die zweite Herausforderung ist eine normativ-ethische. Auf der einen ist zu fragen, ob globale Armut deshalb ungerecht ist, weil diese armutsbetroffenen Menschen zu wenig Anerkennung erfahren. Globale Armut wird hauptsächlich mit materiellen Mängeln beschrieben; zu wenig Nahrung und Kleidung, mangelnde medizinische Versorgung, verschmutztes Trinkwasser oder fehlende Sanitäranlagen. Natürlich machen auch Menschen, die in absoluter Armut leben, Erfahrungen der Geringschätzung und Missachtung, die maßgebliche Ungerechtigkeit ihrer Lebenslage besteht aber in der Gefährdung ihres Wohlergehens durch Mangel- und Unterversorgung. Das kann als das Fehlen sozialer Rechte kritisiert werden, wodurch sich eine anerkennungstheoretische Kritik menschenrechtsbasierten Ansätzen annähern würde.

Die dritte Herausforderung ist eine politische. In der Diskussion um globale Gerechtigkeit haben sich (stark vereinfacht ausgedrückt) zwei Ansätze herauskristallisiert, wobei der eine auf die humanistischen Verpflichtungen des Individuums setzt (z.B. die Pflicht zu spenden), der andere auf die Gerechtigkeitspflichten globaler Akteure und die Veränderung von Strukturen. Für die strukturelle Antwort spricht, dass hier die Institutionalisierung von Anerkennung geschehen könnte, die auch im Wohlfahrtsstaat zentral ist. Für die individualistische Antwort spricht, dass die Anerkennungstheorie ihren Ursprung in intersubjektiven Beziehungen hat, in denen sich konkrete Menschen gegenseitig anerkennen. Eine wichtige Rolle sollten aus anerkennungstheoretischer Perspektive auch die armutsbetroffenen Personen selbst einnehmen. Da tiefe Armut es schwer machen kann, solche kollektiven Organisationsformen aufzubauen und politisch wirksam zu werden, ist es eine plausible Forderung, armutsbetroffene Menschen darin zu unterstützen, Subjekte im Kampf um ihre eigene Anerkennung zu werden.


Dieser Beitrag basiert auf der Einleitung zum Buch Poverty, Inequality and the Critical Theory of Recognition, welches im Juli 2020 bei Springer erschienen ist. Dort finden sich zahlreiche Beiträge zum Verhältnis von Armut und Anerkennung.


Gottfried Schweiger arbeit am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Dort forscht er hauptsächlich im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Er hat einige Texte zur COVID-19 Pandemie für Blogs und Zeitungen verfasst. Gottfried ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie, der Buchreihe Philosophy and Poverty bei Springer, der Buchreihe Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven bei J.B. Metzler. Seit 2013 organisiert er gemeinsam mit Michael Zichy, und Martina Schmidhuber an der Universität Salzburg die Tagung für Praktische Philosophie. Mit Johannes Drerup koordiniert er das Netzwerk Philosophie der Kindheit und hat das Handbuch Philosophie der Kindheit bei J.B. Metzler herausgegeben.

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