
Der Philosoph Donald Trump. Wozu die Aufregung? Nichts Neues aus Amerika
Von Josef Lecheler (Universität Salzburg) –
Platon, nach dem britischen Philosophen Whitehead der größte aller Philosophen, gegen den alle nachfolgenden Meisterdenker nur Fußnoten sind, hielt es ausweislich seiner noch heute viel zitierten Staatsphilosophie für zwingend, dass Philosophen an die Spitze eines idealen Staates gehören1. Ist Platons Vision mit der Wahl Donald Trumps endlich erreicht?
Europäisch-kontinentale Philosophen, die mit seiner Wahl nicht gerechnet haben, zeigen sich schockiert. Trump eröffne, wie im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 21. November 2024 zu lesen ist, „den nächsten Kreis der Hölle, die satirische Umkehrung dessen, was der Westen bis heute auf seiner Werteskala hatte“. Der kommende Präsident sei ein notorischer Lügner, vorbestraft, mit Dutzenden unerledigter Gerichtsverfahren belastet; er sammle Gesinnungsgenossen in der künftigen Regierung um sich: ein Justizminister, verfolgt wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen, ein Gesundheitsminister, der Impfen für schädlich hält und Schamanen im Krankheitsfall empfiehlt, ein Verteidigungsminister, der im Kreuzritterstil gegen Muslime das Schwert ziehen will. Was immer diese künftige Prominenz vorhat, kann man das philosophisch unter einem Hut bringen?
Man kann. Sehr gut sogar. Beginnen wir mit den Lügen, oder besser mit deren Gegenteil: mit der Wahrheit. Trump geht mit der Wahrheit, wie er selbst sagt, pragmatisch „alternativ“ um – und dieser Pragmatismus ist ein honoriges Produkt der amerikanischen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert. Wahr kann nur sein, so der Philosoph William James (1842–1910), was uns Nutzen bringt. Manches sei eben richtig und manches sei falsch – was aber wahr ist, beweise sich doch im Ergebnis, im Cash Value2. Gewinner der Aktien-Hausse unmittelbar nach dem Wahlergebnis für Trump können mit dieser Wahrheitstheorie gut leben.
Bringt dieses pragmatische Verständnis von Wahrheit Vorteile, liegt die Frage nahe, ob die Werteskala überhaupt noch wichtig ist. Haben nicht schon die strengen Logiker des Wiener Kreises gezeigt, wie schnell es bei ethischen Fragen um Scheinprobleme der Philosophie handeln kann3? Immerhin war die Weiterentwicklung des logischen Positivismus in Amerika und seine Verbindung mit dem Pragmatismus so erfolgreich, dass er, wie der Philosoph Peter Bieri resümiert, in Form von „philosophischen Care-Paketen“4 in der Nachkriegszeit nach Europa zurückkam. Vielleicht aber auch, so klagt der Philosoph Alasdair MacIntyre, hat man dadurch den Verlust der Tugendethik in der amerikanischen Gesellschaft übersehen, denn davon sei nur noch ein „ziemlich verwahrlostes Trümmerfeld“ übrig geblieben5. Donald Trump hat als Philosoph die Gefahr erkannt und präsentiert sich als Retter mit einer großartigen Idee, von der zum Schluss die Rede sein soll.
Die Relativität von Wahrheit und Ethik war auch das Thema des französischen Philosophieprofessors Jean-Francois Lyotard, als er für Kanada ein Regierungsgutachten über die „Zukunft der Wissenschaft im postindustriellen Zeitalter“ erstellte. Darin kam er zu dem Schluss, dass man in der „Postmoderne“ (er führte damit diesen Begriff ein) anders denken müsse: In der bisherigen Moderne hätten alle Welterklärungen jeweils ein „absolutes Prinzip“ zugrunde gelegt wie z. B. „Gott, Subjekt, Vernunft, System, marxistische und nationalsozialistische Gesellschaftstheorie etc.“6. Was für ein Unsinn!, so Lyotard. Haben wir nicht erlebt, welche schrecklichen Folgen daraus entstanden? Müssten wir nicht stattdessen auf viele Erklärungsmodelle setzen, haben sie nicht alle irgendwie Recht? Wir sollten uns gerade auf Paradoxien und Unvereinbarkeiten einstellen, sie sind nichts anderes als „Bereicherungen des Lebens“. Lyotards Postmodernismus hat bis heute in der akademischen Welt in den USA großen Einfluss; der aus Wien stammende Philosoph Paul Feyerabend, der lange in Kalifornien lehrte, zelebrierte es geradezu: Methodenzwang, rief er seinen Studenten zu, sei von gestern, „anything goes“ das Gebot der Stunde: Irgendwas geht immer, je verrückter, umso spannender7. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty war vielleicht noch überzeugender, wenn er den alten Pragmatismus mit dem neuen Aufbruch in die Postmoderne verband. „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ war der Titel seines einflussreichsten Buches, worin er nur noch der Ironie die Kraft zuspricht, die absurde Zufälligkeit unseres Daseins zu ertragen. Warum wir dann aber immer noch solidarisch bleiben sollen, bleibt allerdings rätselhaft8. Feyerabend und Rorty kann man die Wahl Donald Trumps nicht anlasten, beide leben nicht mehr. Aber sie haben ungewollt vielleicht ihren Studenten philosophische Gründe geliefert, warum man ihn trotz allem wählen könnte.
Alles bisher Genannte mag vielleicht nur ein eher irrelevantes, auf die akademische Welt beschränktes Phänomen sein. Nicht so verhält es sich mit dem philosophischen Zeitgeist des Konstruktivismus. Nach dem Philosophen Pascal Zorn ist er neben dem Relativismus, dem Moralismus und der Identitätspolitik der vierte „apokalyptische Reiter“ der Gegenwart und in vielen Bereichen wirkmächtig9. Konstruktivismus beruft sich auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse und behauptet nichts weniger, als dass alle Realität, alle Wirklichkeit, nichts anderes als ein Konstrukt unserer geistigen Algorithmen ist. Unser Körper erscheint dadurch nachrangig und beliebig manipulierbar: Kinder können schon vor der Zeugung als Designerbabys geplant werden, das Leben nach Belieben verkürzt und verlängert werden, die geschlechtliche Orientierung ist jederzeit änderbar. In der immateriellen Welt des Konstruktivismus gedeihen in bizarrer Steigerung Transhumanisten wie der bei Google als Entwicklungsbeauftragter arbeitende Philosoph Ray Kurzweil. In Bälde könnten wir, so Kurzweil, alle 200 Jahre alt werden, auf Siliziumbasis als Cyborgs vielleicht noch viel länger10. Die Veränderung der Zeitlichkeit des Menschen spielt für die Konstruktivisten dabei die zentrale Rolle: Die Cyborgisierung lässt die Differenz zwischen Eigenzeit und Weltzeit schrumpfen. Kurzweil lässt als Google-Mitarbeiter allerdings die Hoffnung zu, dass ein Abonnement bei seinem Arbeitgeber hierbei beschleunigend wirken könnte und setzt vermutlich voraus, dass es seine Follower nicht stört, wenn Aldous Huxley bereits vor fast hundert Jahren eine zweideutige Ahnung von dieser brave new world hatte11.
Donald Trump, so könnte man zusammenfassend vermuten, ist ein gut vorbereitetes Produkt einer langen philosophischen Tradition. Als Philosoph ist er qualifiziert, da seine Wahrheitsauffassung pragmatisch ist und da er zudem die Forderungen der Postmoderne vollständig erfüllt, auf ein „absolutes Prinzip“ außerhalb seiner eigenen Person zu verzichten. Seine Vorstellungen von der Wirklichkeit sind phantasievoll kontrovers oder, wie ihm geneigte Philosophen sagen würden, „phänomenologisch reich angelegt“. Sogar ethisch denkt er groß; aus MacIntyres moralischem Trümmerfeld soll eine besondere Ruine neuen Glanz erhalten: Make America Great Again! Niemand soll bei dieser großen Kraftanstrengung an Kleinigkeiten, etwa an seine multiplen anhängigen Gerichtsverfahren, denken. Vor allem aber ist Donald Trump ein Konstruktivist. Sein Alter steht nicht zur Diskussion. Seine Eigenzeit ist mit der Weltzeit tendenziell identisch12 und sein kongenialer Partner Elon Musk geht bereits daran, das Weltall für ihn zu verplanen. Irdische Probleme lösen sich dadurch fast von selbst, so sei es ein leichtes, den russischen Krieg gegen die Ukraine in 24 Stunden zu beenden und am ersten Tag seiner Präsidentschaft 1 Million Menschen über Grenzen zu transportieren. Der philosophische Zeitgeist lässt ihn ruhig schlafen, denn er beseitigt bei ihm jeden Zweifel, dass er die Wirklichkeit nach seinem Algorithmus gestalten kann. Man kann vielleicht darüber streiten, ob der viel gelesene Misanthrop Yuval Harari Recht hat, wenn er der gesamten Menschheit einen „obsoleten Algorithmus“ unterstellt13. Einer würde das für sich nicht gelten lassen: Donald Trump. Wir sollten ihn uns als glücklichen Menschen vorstellen.
Josef Lecheler Arzt, Philosoph, Essayist (Dr. med., BA, MA) forscht derzeit an der Universität Salzburg an dem Projekt Organische Zeiten. Zur Phänomenologie der Zeit in der Medizin. Er ist Schriftleiter der Zeitschrift Prävention und Rehabilitation im Dustri-Verlag München und Autor zahlreicher Publikation zu den Themen Compliance und Krankheitsbewältigung.
Ausgewählte Publikationen: Kann Medizin logisch sein? In: Salzburger Jahrbuch für Philosophie (2024), 69, 131-149. Philosophische Essaybände: Die rosarote Bibliothek (2022), München und Das Gespenst der Kartoffel (2020), München, ISBN 9783871855382.
1 Platon: Politeia 473 Cf.
2 James, William (1909): The Meaning of Truth, a Sequel to “Pragmatism”. New York/London.
3 Carnap, Rudolf (1966). Scheinprobleme in der Philosophie, Hg Günther Patzig, Frankfurt.
4 Bieri, Peter (2007): Was bleibt von der analytischen Philosophie? Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (3), 333–343.
5 MacIntyre, Alasdair (2006): Der Verlust der Tugend. (Original 1981: After Virtue. A Study in Moral Theory), Frankfurt, 14f.
6 Lyotard, Jean-Francoise (2019): Das postmoderne Wissen. Wien, 99f.
7 Feyerabend, Paul (1983): Wider den Methodenzwang. Frankfurt, 13.
8 Vgl. Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt.
9 Zorn, Daniel-Pascal (2022): Die Krise des Absoluten. Stuttgart, 9.
10 Kurzweil, Ray (1999): Die Intelligenz der Evolution. Wenn Mensch und Computer verschmelzen. Köln, 19f.
11 Vgl. Sorgner, Stefan Lorenz (2018): Schöner neuer Mensch. Berlin. Der ehemalige Medizinethiker Sorgner beruft sich auf Huxley und knüpft nahtlos an ihn an. Aus der Dystopie wird bei ihm aber eine Eutopie.
12 Hans Blumenbergs historische Vergleiche drängen sich hier geradezu auf: Blumenberg, Hans (1987): Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt.
13 Harari, Yuval (2017): Homo Deus. München, 445.