Die Freiheit zu Sprechen und die Pflicht zu Hören
von Christoph Merdes
Die Freiheit, den Mund aufzumachen bedeutet nicht viel, wenn einem niemand zuhört. Zugleich aber bin ich doch nicht verpflichtet jedem Beliebigen zuzuhören; die Gesellschaft muss doch keinen Dienst bereitstellen, der dafür sorgt, dass jede Meldung in den sozialen Medien, jeder Ruf an einer Straßenecke von irgendjemandem gehört wird. In diesem Dilemma findet sich die Freiheit zum Sprechen, zwischen der Notwendigkeit, gehört zu werden, und der fehlenden Pflicht, zu hören.
Warum es so essentiell ist, auch gehört zu werden, erkennen wir, wenn wir sprechen als ein Handeln verstehen, das eines Gegenübers bedarf. Die Theorie der Sprachhandlungeni weist uns darauf hin, indem sie zwischen der bloßen Äußerung sprachlich verfasster Laute und einem Sprechen, das Verstehen verlangt, unterscheidet. Die Möglichkeit, ungehindert Laute hervorzubringen (oder Worte zu schreiben) ist zwar notwendig für unsere Freiheit zu reden, aber nicht hinreichend; die Gefangene in Einzelhaft und der Gestrandete auf einer einsamen Insel sind frei, sich die Seele aus dem Leib zu schreien, aber echte Redefreiheit genießen sie nicht, denn niemand hört sie, niemand versteht sie – ihre Worte könnten ebenso gut nichts bedeuten.
Um diese Verbindung von Sprechen und Hören genauer zu verstehen, ist es hilfreich, das Sprechen als eine sogenannte Befähigung zu verstehen.ii Damit ist in diesem Kontext eine substanzielle Freiheit gemeint. Substanziell soll heißen, nicht nur ein formales Recht, auf eine Weise ungehindert zu handeln, sondern die effektive Fähigkeit in einem bestimmten Bereich menschlichen Lebens zu handeln — einschließlich der erforderlichen materiellen, psychologischen und sozialen Ressourcen,. Beispiele für Befähigungen sind die praktischen Vernunft, also zum rationalen und moralischen Urteilen, oder die Teilhabe an der politischen Selbstbestimmung.
Das öffentliche Sprechen können wir auch als eine solche Befähigung auffassen. Es ist wesentlich, um ein gelungenes Leben führen zu können, da es die Voraussetzung für unser soziales Leben ist. Und es erfordert nicht nur formale Rechte, ohne Einmischung sprechen zu können, sondern auch materielle, mentale und soziale Ressourcen – verfügbare Zeit frei von Arbeit, das Selbstvertrauen, sich in Worten preis zu geben, oder ZuhörerInnen im sozialen Umfeld, die auch verstehen und antworten können.
Die Beschäftigung mit der öffentlichen Rede als Befähigung weist uns auf wenigstens drei Punkte hin, die oft unberücksichtigt bleiben:
1. Die wechselseitige Abhängigkeit mit anderen Befähigungen
2. Unterschiede in der Umsetzung von Ressourcen in tatsächliche Befähigungen
3. Die (schon erwähnte) wechselseitige Angewiesenheit von Sprechen und Hören
Betrachten wir kurz die beiden ersten Punkte, bevor wir zu unserem Ausgangsproblem zurückkehren. Unsere Befähigungen sind im Allgemeinen auf vielfältige Weise voneinander abhängig. Praktische Vernunft und politische Teilhabe sind beides gute Beispiele für solche Abhängigkeiten. Beide sind freilich voneinander abhängig, aber wir können das Dreieck vervollständigen. Meine politische Teilhabe ist gebunden an meine Fähigkeit, öffentlich zu sprechen (und dabei gehört zu werden!), denn wie sonst kann mein Anteil in den politischen Prozess Einlass finden? Umgekehrt hängt jedoch meine Redefreiheit an meiner politischen Beteiligung – durch diese kann ich sie verteidigen; aber auch meine Fähigkeit, über bestimmte Themen überhaupt zu sprechen, ist abhängig von meinem Austausch mit meinen MitbürgerInnen: Ich bin auf ihre Erfahrung angewiesen, um Bereiche des sozialen Lebens, die mir nicht direkt widerfahren, sprachlich erfassen zu können.
Die praktische Vernunft erlaubt es mir, einen Begriff des guten Lebens und moralische Urteile zu formen. Allerdings kann diese Fähigkeit nicht in einem isolierten Individuum bestehen. Ein Begriff des guten Lebens kann sich nur im Austausch mit anderen formen. Niemand von uns kann seine eigene Welt von gut und schlecht aus dem Nichts erschaffen. Der Begriff des Guten ist ein inhärent sozialer, da er nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen ein Urteil vorschreiben soll. Vielleicht sind sogar alle begriffe und die Worte, die wir dafür verwenden, inhärent sozial, aber diese These will ich hier nicht verteidigen; ich begnüge mich damit, dies über die Begriffe der praktischen Vernunft festzustellen.
Umgekehrt ist jedoch unsere Befähigung zum öffentlichen Sprechen von unserer praktischen Vernunft abhängig. Um einen Disput in Wertfragen austragen zu können, brauche ich diese Urteilskraft. Damit kann ich meine eigenen Werte und die meines Gegenübers erst verstehen und in Beziehung setzen, um Argumente über unsere widerstreitenden Urteile formulieren zu können. Ohne die praktische Vernunft sind Worte wie gut und schlecht, Recht und Unrecht nur leere Hülsen. Und noch schlimmer: Ohne sie bin ich gezwungen, in einer Blase meiner eigenen unreflektierten Wünsche und Verlangen zu leben, unfähig, die Werte der Anderen nachzuvollziehen und kritisch zu befragen. Solche wechselseitigen Abhängigkeiten bestehen noch mit vielen anderen Befähigungen, aber für unsere Zwecke hier sollen diese Überlegungen genügen.
Die Frage der Umsetzung von Ressourcen stellt sich für viele Befähigungen Dem Blinden nützt ein Auto eher wenig, um seine Reisefreiheit zu realisieren, doch für den Sehenden trägt es, die passende Infrastruktur vorausgesetzt, enorm zur Mobilität bei. Aus den verschiedensten Gründen sind mehr oder weniger – oder ganz unterschiedliche – Ressourcen für uns nötig, um bestimmte Befähigungen zu realisieren. Und nicht anders ist es mit der öffentlichen Rede.
Dies fällt besonders auf bei den Medien des Internets, denn diese sind oft formal gleich zugänglich. Keine Gruppe in Europa ist formal ausgeschlossen von Bloggen, Streamen oder Podcasten. Die meisten Leute hier haben sogar einen hinreichenden Internetzugang, aber diese relativ gleich verteilte Ressource erlaubt es doch verschiedenen Menschen in sehr verschiedenem Maße, ihre Gedanken zu verbreiten und zu verbreiten. Verfügbare Freizeit, Berühmtheit, Wortgewandtheit in den Formen des Internets – das sind nur einige der Faktoren, die die unterschiedliche Umsetzung der Ressourcen erklären. Wenn wir die Gleichheitsbestrebungen einer demokratischen Gesellschaft also nach Befähigungen, nicht nach Ressourcen, bemessen, zeigen sich uns plötzlich andere Muster der Ungleichheit. Diese Betrachtungsweise ist aber angemessen, wenn wir einen wirklich substanziellen Freiheitsbegriff als unser Ideal sehen.
Zu Beginn haben wir ein Dilemma betrachtet zwischen einem scheinbaren Recht, gehört zu werden, und der Freiheit, nicht zuhören zu müssen. Wenn wir das öffentliche Reden als Befähigung verstehen, erhalten wir zunächst eine Erklärung für das Problem: Denn für die Befähigung genügt es nicht, nicht am Reden gehindert zu werden, damit wäre es noch nicht substanziell. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass es keine allgemeine Verpflichtung geben kann, zuzuhören – damit würde wiederum die Befähigung eingeschränkt (abgesehen von anderen Befähigungen).
Wir können daraus zunächst schlussfolgern, dass es keine universelle Lösung für das Dilemma gibt. Ohne Zugang zu ZuhörerInnen bin ich meiner substanziellen Redefreiheit beraubt. Bin ich aber universell zum Zuhören gezwungen, bin ich damit genauso beschränkt – nicht zu reden von der Absurdität einer solchen Verpflichtung.
Die Befähigungsperspektive impliziert eine Forderung an die Gesellschaft, Institutionen des Zuhörens zu schaffen. Diese Aufgabe verlangt Arbeit an vielen verschiedenen Stellen, und ich will hier nur zwei Aspekte beleuchten: Tugenden des Zuhörens und Aufmerksamkeit als Ressource und Gut der Verteilungsgerechtigkeit.
Das Zuhören erfordert eine gute Mischung aus Wohlwollen und Kritik. Mit Wohlwollen ist die Bereitschaft gemeint, die Äußerungen des Gegenübers so zu interpretieren, dass sie möglichst kohärent und plausibel sind. Es verlangt insbesondere, nicht von üblen Absichten oder Inkompetenz auszugehen, wenn es eine andere Interpretation gibt – und sich eben auch anzustrengen, eine solche Interpretation zu finden. Eine kritische Haltung ist nötig, um diese wohlwollende Haltung zu ergänzen. Sie verlangt es, ein Gegenüber auf Inkonsistenzen, faktische Fehler, Vorurteile und generell Formen der Irrationalität hinzuweisen und diese auf möglichst nachvollziehbare Weise zu erklären. Wenn Wohlwollen fehlt, können SprecherInnen gar nicht erst verstanden werden; weiß ich, dass mein Gegenüber meine Äußerungen nicht kritisch aufnimmt, so werde ich als Sprecher nicht ernst genommen.
Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, da jeder und jede von uns nur eine begrenzte Menge davon bereitstellen kann. Aber Aufmerksamkeit zu erhalten ist eine notwendige Bedingung dafür, gehört zu werden (und damit natürlich auch, sprechen im substanziellen Sinn zu können). Daher müssen wir die Verteilung der Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft in Betracht ziehen, wenn wir sie gerechter machen wollen. Hier kommen auch technologische Entwicklungen ins Spiel, denn um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen, alle sozialen Medien sind Institutionen der Umverteilung der Aufmerksamkeit. Die Empfehlungsalgorithmen dieser Seiten lenken die Nutzerströme zu manchen Inhalten und weg von anderen; damit müssten sie ins Kalkül der gerechten Verteilung der Aufmerksamkeit eingehen, was sie augenscheinlich nicht tun.
Damit ist das Verteilungsproblem der Aufmerksamkeit natürlich nur angerissen. In diesem Beitrag kann es nicht vollständig ausgebreitet werden, geschweige denn behandelt. Aber für eine gleiche Freiheit zur öffentlichen Rede wird es notwendig sein, Aufmerksamkeit umzuverteilen, nicht anders als bei anderen wertvollen und knappen Gütern.
Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Artikel, der in der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie im Rahmen eines Schwerpunkts zu Redefreiheit erschienen ist.
i Vgl. hierzu J. L. Austins Zur Theorie der Sprechakte, welches sowohl den Anfangspunkt als auch weiterhin eine gute Einführung in die Theorie der Sprechhandlungen bietet.
ii Eine ausführliche Erklärung des Begriffs der Befähigung findet sich zum Beispiel in Amarya Sens Die Idee der Gerechtigkeit.