06 Nov

Die Gabe unter Derrida

von Grit Becher (Wien)

Jacques Derrida, französischer Philosoph, Begründer und Hauptvertreter der philosophischen Denkrichtung der Dekonstruktion[1], zielt in seinem Konzept der Gabe auf die Vereinigung von sich gleichzeitig ausschließenden Formen wie das Paradox und die Ironie, auf das, was die Logik eigentlich ausschließt. Derridas Sozialphilosophie beschreibt nicht die Struktur des Tauschs oder der Reziprozität wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung, sondern die Struktur der Gabe, in der Schenkung ohne Dankbarkeit, in der radikal nicht reziproken Freigebigkeit, die immer schon dann zerstört ist, wenn auch nur Spurenelemente von Symmetrie, Gegenseitigkeit, Anerkennung oder Dankbarkeit vorhanden sind.

Jüdischer Tradition behaftet, gleich Lévinas, versucht Derrida, die Gabe unter dem Aspekt des Denkens der Gabe auf der Grundlage Lévinasscher Theorie weiterzudenken. Lévinas behauptet, dass das Bewusstsein auf etwas reagiert, was zunächst keine Zeit hat, nicht zeitlich ist und erst in der Reaktion Zeit bekommt. Das bedeutet, dass das Bewusstsein, in dem es Sprache wird die an den Anderen gerichtete ist, auf die Zeit stößt und somit zeitlich wird (Wohlmuth 2006, S. 121). In dem Moment, in dem ein Individuum einem (dem) Anderen gegenübertritt und auf ihn reagiert, tritt das Bewusstsein in die Zeit. Derrida fasst den Gedanken Lévinas auf und forscht weiter im Zusammenhang von Zeit und Gabe.

Wenn Gabe ein Übermaß sein sollte, muss es im Widerspruch zur Ökonomie stehen, um das Prinzip der Ökonomie, die Idee des Tausches, der Zirkulation, der Rückkehr auszuschließen. So formuliert Derrida (zit. nach Kimmerle 2000, S. 148): ´Wenn es Gabe gibt, darf das Gegebene der Gabe [] nicht zum Geber zurückkehren[]. Die Gabe darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden.´ Wenn Gabe nicht zirkuliert, ist Gabe nicht reziprok. Um diesem Anspruch zu genügen, muss Derridas „Denken der Gabe“ darin bestehen, dass sie lediglich als Idee existiert. So kann es dort Gabe geben, wo die Gabe als Idee gedacht, aber noch nicht gegeben ist. Das „Denken der Gabe“ ist ein „reines“ Denken der Gabe. Es liegt in der Zeit zwischen der Zeit, so würde Derrida sagen.

Gibt es eine uns allen innewohnende Struktur[2], die unser Tun und unser Denken bzw. unser Denken und unser Tun bestimmt? Können wir auf dieser Grundlage trotz Individualität wissen, was der andere von uns will, was er meint, was er uns sagen will bevor er gesprochen hat? Ist die Frage des Anderen schon beantwortet bevor sie gestellt ist?

Sie trägt eine ethische Antwort in sich.

In jedem Falle könnte man die Gabe als eine nichtmaterielle Struktur bezeichnen. Hierbei jedoch kann es sich nur um die moralische Gabe in der Wertevermittlung handeln bzw. alle daraus entwickelten Gaben auf deren Grundlage, Gabe im Sinne der universalen Bedingtheit in symbolischer Funktion. Symbolische Funktion, nicht mehr in der Art von Geschenken nach Mauss, sondern in der Art des Wortes. Moebius (2003, S. 79) schreibt, dass die Grundlage der Erfahrung des Anderen, nach Derrida, nicht dem Verhältnis zum Anderen voraus geht sondern erst die „Beziehung als Struktur und Öffnung eines Raumes“ eine Erfahrung ermöglicht. So wird der Andere nicht als ´nackte Erfahrung´ (Derrida zit. nach Moebius, ebd.) betrachtet sondern strukturell. Derrida (ebd., S. 80) beschreibt die Struktur als das Spiel der Differenzen bzw. der Signifikanten. So ist jeder Vorgang einer Beziehung ein Spiel von Differenzen und Signifikanten. Wird das Spiel aus dem Blickwinkel der Sprache betrachtet, ist die Sprache Differenz und Signifikant, in dem Sinne, dass kein Wort in Form des geschriebenen Zeichens unabhängig von einem anderen Wort stehen kann.

Dass Wort und somit die Beziehung zu einem anderen Wort erlangt Bedeutung durch die Zusammenführung und den Verweis auf das Andere. Die Bedeutung des Gesprochenen erlangt also erst dann Bedeutung, wenn sie mit etwas in Beziehung gesetzt oder verglichen wird. Derrida prägte den Begriff der „aimance“ (Prinzip der Freundschaft) (Moebius 2006, S. 363). Jedes Element oder Zeichen erhält seine Bedeutung nur, indem es auf etwas anderes als sich selbst verweist. Im gleichen Maße wie bei Lévinas die Andersheit des anderen Menschen unendlich ist und immer wieder über den festgesetzten Begriff, wie der Andere denn beschaffen sei, hinaus geht, so ist für Derrida das Spiel der Signifikanten endlos. Wenn das gesprochene oder geschriebene Wort immer auch auf andere Wörter als es selbst, so genannte Signifikate, verweist, also nicht allein für sich stehen kann, muss es demzufolge, so Derrida, einen Überschuss beinhalten (Moebius 2003, S. 84). Spricht Derrida von der Gabe im Sinne des Wortes – geben, um Beziehungen zu knüpfen, so könnte hiermit der Überschuss, welcher in anderen Betrachtungen zur Gabe erscheint, gemeint sein. Derridas´ Betrachtungen könnte man soweit führen, dass jegliches Sprechen eine Gabe für den anderen ist. Des Weiteren wäre zu untersuchen, wie gesprochen wird, wie die Gabe erscheint. Sie erscheint different. Derrida kreiert dafür ein metasprachliches Wort, zur Unterscheidung und Hervorhebung seines Gedankens, die „différance“, „Differänz“.

Derrida untersucht die Gabe unter dem Aspekt der Verausgabung, des Überschusses ohne Verlangen nach Reziprozität. Er schreibt „von einer Sprache sprechen und niemals eine Sprache sprechen“ (z.B. „nicht doch“). Damit meint er die „Unentscheidbarkeit“ der Sprache als die Unentscheidbarkeit der Gabe. So dürfte, nach Derrida, die Gabe letztlich nicht als Gabe erscheinen, weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. ´Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist.´ (Derrida zit. nach Blank 2006, S. 180), im Sinne, dass sie nicht offensichtlich in Erscheinung treten darf. Erst dann kann es die Gabe als Gabe sein, woraus sich ein Anspruch an den Anderen entwickeln kann, ein Anspruch von etwas Besonderem, der ein Versprechen darstellt.

Literaturverzeichnis

  • Blank, Stefan (2006). Verständigung und Versprechen – Sozialität bei Habermas und Derrida. Bielefeld
  • Derrida, Jacques (1999). Adieu – Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Wien
  • Kimmerle, Heinz (2000). Jacques Derrida – zur Einführung. Hamburg
  • Moebius, Stephan (2003). Die soziale Konstitution des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida. Frankfurt am Main
  • Moebius, Stephan (2006). Die Gabe – ein neues Paradigma der Soziologie? Eine kritische Betrachtung der M.A.U.S.S.-Gruppe. In: Berliner Journal für Soziologie. 4., Ausgabe. Berlin. S. 355-369
  • Wohlmuth, Josef (2006). Die theologische Bedeutung des Gabendiskurses bei Emmanual Lévinas, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion. In: Rosenberger, Michael / Reisinger, Ferdinand / Kreutzer / Ansgar (Hrsg.). Geschenkt – umsonst gegeben? Gabe und Tausch in Ethik, Gesellschaft und Religion. Frankfurt am Main. S. 91-12

[1] Der Begriff „Dekonstruktion“, von Derrida Ende der 60er Jahre eingeführt, verbindet die Wörter Konstruktion und Destruktion. Sie werden in ein gleichzeitiges und gleichwertiges Verhältnis gesetzt. Indem die Dekonstruktion die einander widersprechenden Vorgänge des Aufbauens und Abbauens vereinigt, zielt sie auf Formen wie Paradox oder Ironie, die das, was der Logik nach sich ausschließt, zusammenbringen und zwar ohne in ein Entweder/Oder bzw. ein zeitliches Nacheinander auszuweichen (www.uni-koeln.de/phil-fak/idsl/dozenten/wegmannl, 30.08.07).

[2] Ethnologe Klaus E. Müller (Schomberg – Scherff 1999, S. 252ff.) geht davon aus, dass alle Menschen aufgrund ihrer übereinstimmenden physiologisch – psychologischen Struktur vor übereinstimmende Probleme des Lebens gestellt sind und somit weitgehende, für die Grundprobleme des Lebens übereinstimmende, Lösungsformen entwickelt haben. Menschen bedürfen, um sich in der Welt zurechtzufinden und mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu interagieren, stabile Ordnungssysteme räumlicher, sozialer, zeitlicher oder kultureller Art. Diese können Tauschhandlungen, rituelle Handlungen, welche mit dem Tausch in Verbindung stehen, Feste oder Zeremonien sein.


Grit Becher ist Diplompädagogin und momentan im Studium der Philosophie an der Universität Wien. Sie ist Kunstvermittlerin und bildende Künstlerin (https://www.linkedin.com/in/gret-becher/).

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